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Anrechnung einer polnischen Familienleistung auf das Kinderbetreuungsgeld bei nachträglicher Anwendbarkeit der Koordinierungsverordnung

KrisztinaJuhasz
Art 68 VO (EG) 883/2004;
DVO (EG) 987/2009

Gem § 6 Abs 3 KBGG ruht der Anspruch auf Leistungen nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG), sofern ein Anspruch auf ausländische (auch nicht vergleichbare und auch nicht zeitlich kongruente) Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistungen.

Ist Österreich nach der VO (EG) 883/2004 vorrangig leistungszuständig, wäre § 6 Abs 3 KBGG mit Art 68 Abs 2 VO 883/2004 nicht vereinbar. Auch im Fall der bloß nachrangigen Zuständigkeit Österreichs widerspricht diese Regelung, soweit sie auch die Anrechenbarkeit nicht vergleichbarer Leistungen normiert, der genannten Antikumulierungsregel. In den genannten Fällen hat § 6 Abs 3 KBGG folglich wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts von den Gerichten unangewendet zu bleiben.

SACHVERHALT

Die Kl und ihre am 22.8.2019 geborene Tochter sind ukrainische Staatsbürgerinnen. Sie haben in Österreich den Mittelpunkt der Lebensinteressen und leben in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse, an der sie hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Von August 2019 bis Juni 2022 erhielt die Kl für ihre Tochter die österreichische Familienbeihilfe als Ausgleichszahlung. Die Kl verfügte über einen Aufenthaltstitel als Studierende. Vor Ablauf der Gültigkeitsdauer brachte sie einen Verlängerungsantrag ein; die Entscheidung darüber wurde am 25.11.2021 rechtskräftig. Nunmehr verfügt die Kl über einen Aufenthaltstitel als Vertriebene. Der Ehemann der Kl und Vater des Kindes ist ebenfalls ukrainischer Staatsbürger. Er lebte von März 2018 bis Jänner 2020 als Student in Wien und ging in diesem Zeitraum keiner Beschäftigung nach. Am 9.1.2020 zog er nach Polen, um dort einer unselbständigen Beschäftigung nachzugehen; mittlerweile lebt er wieder in Wien.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte am 19.2.2020 anlässlich der Geburt der Tochter pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage ab der Geburt, somit für den Zeitraum 22.8.2019 bis 20.8.2020. Die bekl Österreichische Gesundheitskasse entschied darüber bis zum 5.5.2023 nicht.

In der am 5.5.2023 eingebrachten Säumnisklage begehrt die Kl die Zuerkennung. Die Bekl hielt dem Klagebegehren entgegen, dass der Vater seit 9.1.2020 in Polen eine Erwerbstätigkeit ausübe und daher ab 1.2.2020 Polen als Tätigkeitsstaat vorrangig und Österreich (bloß) nachrangig für Familienleistungen zuständig sei. Es seien daher gem § 6 Abs 3 KBGG die mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbaren polnischen Familienleistungen, nämlich Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) und Erziehungszulage („dodatek z tytułu opieki nad dzieckiem w okresie korzystania z urlopu wychowawczego“) anzurechnen. 399

Das Erstgericht bejahte die Säumnis und erkannte die Bekl schuldig, der Kl das Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von insgesamt € 13.085,25 (€ 35,85 x 365 Tage) zu zahlen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl teilweise Folge, indem es den Tagsatz des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes auf die gesetzliche Höhe für den anwendbaren Zeitraum – auf € 33,88 täglich (2019, 2020) – reduzierte. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Bekl mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen iS eines Zuspruchs von Kinderbetreuungsgeld von 22.8.2019 bis 31.1.2020 und von Kinderbetreuungsgeld in Form einer Ausgleichszahlung von 1.2. bis 20.8.2020 von € 29,34 täglich; hilfsweise wurde ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die außerordentliche Revision war zulässig und iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt. Die Rechtssache wurde zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.2. Die Revision zielt erkennbar auf die Anrechnung einer (bestimmten) polnischen Familienleistung ab, nämlich des Elterngelds („świadczenie rodzicielskie“). […]

1.3. Die Beklagte stellt […] nicht in Abrede, dass die Anspruchsvoraussetzungen für das pauschale Kinderbetreuungsgeld nach § 2 Abs 1 KBGG bei der Klägerin erfüllt sind und sich daraus grundsätzlich ein Anspruch in der vom Berufungsgericht errechneten Höhe von insgesamt 12.366,20 € ergibt, sodass dies der Entscheidung ohne Weiteres zugrunde zu legen ist.

Nach den Revisionsausführungen und dem Revisionsantrag begehrt die Beklagte allerdings (nur) die Anrechnung eines Betrags von 1.657,67 € und bekämpft den weiteren Zuspruch an die Klägerin durch das Berufungsgericht von insgesamt 10.708,53 € (entsprechend einem Betrag von gerundet 29,34 € täglich) somit nicht. Der Zuspruch von pauschalem Kinderbetreuungsgeld an die Klägerin in Höhe von 10.708,53 € ist damit mangels Bekämpfung durch die Beklagte rechtskräftig. […].

2. Die Berücksichtigung ausländischer Familienleistungen regelt § 6 Abs 3 KBGG. Danach ruht der Anspruch auf Leistungen nach dem KBGG, sofern Anspruch auf ausländische Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistungen (§ 6 Abs 3 Satz 1 KBGG). […].

2.1. Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG ist eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel (RS0125752) und erfasst (seit 1. März 2017 [§ 50 Abs 15 KBGG idF BGBl I 2016/53]) sämtliche (und nicht nur gleichartige oder vergleichbare) ausländische Familienleistungen (sofern sie nicht bereits eine andere österreichische Familienleistung zum Ruhen brachten und auf diese angerechnet wurden; § 6 Abs 3 Satz 3 KBGG). Da der Anspruch auf diese Leistungen genügt, treten das Ruhen und die Anrechnung auch dann ein, wenn die ausländischen Leistungen (noch) nicht beantragt wurden (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 9).

2.2. Aufgrund der in § 6 Abs 3 KBGG angeordneten Gesamtbetrachtungsweise ist dabei der Gesamtbetrag der ausländischen Leistung anzurechnen und es kommt nicht darauf an, ob oder inwiefern sich die Bezugszeiträume überschneiden (vgl 10 ObS 123/23w Rz 23).

2.3. Für den Fall des Zusammentreffens gleichartiger Familienleistungen legt – in ihrem Anwendungsbereich – auch die VO (EG) 883/2004 Prioritätsregeln in Form einer Kaskade fest: Die Rangfolge bestimmt sich nach dem Grund, aus dem die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen (10 ObS 117/22m Rz 18 mwN). Darauf aufbauend enthält Art 68 Abs 2 der Koordinierungsverordnung Antikumulierungsvorschriften für den Fall, dass (gleichartige) Ansprüche zusammentreffen: Der nach Abs 1 prioritär zuständige Mitgliedstaat hat die Leistung zu erbringen, wohingegen jene des nachrangig zuständigen Staats bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen ist. Ist die Leistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, hat er – wenn sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt – ergänzend die Differenz (den Unterschiedsbetrag) zu leisten. Damit wird der Familie im Ergebnis die der Höhe nach günstigste Leistung garantiert (Günstigkeitsprinzip; 10 ObS 117/22m Rz 18; 10 ObS 42/19b ErwGr 3.; Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 7; Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 2 Rz 63; Burger-Ehrnhofer, KBGG und FamZeitbG3 § 2 KBGG Rz 55).

2.4. Ist Österreich nach der VO (EG) 883/2004 vorrangig leistungszuständig, wäre § 6 Abs 3 KBGG mit Art 68 Abs 2 VO 883/2004 nicht vereinbar, ruhen doch nach der genannten Bestimmung nur die Familienleistungen des nachrangig zuständigen Staates (RS0125752 zur insofern vergleichbaren Vorgängerverordnung). Auch im Fall der bloß nachrangigen Zuständigkeit Österreichs widerspricht diese Regelung, soweit sie auch die Anrechenbarkeit nicht vergleichbarer Leistungen normiert, der genannten Antikumulierungsregel (10 ObS 110/19b ErwGr 2.3.; Sonntag, Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f). In den genannten Fällen hat § 6 Abs 3 KBGG folglich wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts von den Gerichten unangewendet zu bleiben.

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs schließt es Art 68 Abs 2 Koordinierungsverordnung aber nicht aus, auch dann einen Unterschiedsbetrag auf Basis der jeweiligen Gesamtbeträge zu ermitteln, wenn gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar 400 nicht oder sich nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden (RS0125752 [T7]).

3. Die Frage, ob bzw inwieweit (der Anspruch auf) eine ausländische Leistung nach § 6 Abs 3 KBGG zu berücksichtigen ist, richtet sich daher auch danach, ob die VO (EG) 883/2004 zur Anwendung gelangt bzw ob Österreich vorrangig oder nachrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig ist.

3.1. Der (im vorliegenden Fall allein strittige) persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist in ihrem Art 2 festgelegt. Danach gilt sie für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nicht als Flüchtling im Sinn des Art 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen ist, wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

3.1.1. Aufgrund der Einschränkung auf solche Personen, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, erfordert die Anwendung der VO (EG) 883/2004 das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (10 ObS 144/23h Rz 11; 10 ObS 61/19x ErwGr 3.1. mwN).

3.1.2. […] die Koordinierungsverordnung, […] (und die Durchführungsverordnung [EG] 987/2009) [gelten] allerdings auch für Drittstaatsangehörige und ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen aufgrund der VO (EU) 1231/2010, sofern sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft (Art 1 VO [EU] 1231/2010). Bei Erfüllung dieser zwei zusätzlichen Voraussetzungen können sich daher auch Angehörige eines Drittstaats auf die Koordinierungsverordnung und ihre Durchführungsverordnung berufen (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 16).

Der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Unionsrechts geforderte Unionsbezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen (Spiegel in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17). Dieser Bezug muss nicht in der Person des Leistungsberechtigten vorliegen; für Ansprüche aus abgeleiteter Sicherung genügt es, wenn er in der Person eines Familienangehörigen erfüllt ist (Spiegel in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17). Ein ausreichender Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat wird etwa bejaht, wenn ein Drittstaatsangehöriger in einem Mitgliedstaat arbeitet und dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat leben (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 16).

3.2. Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten:

3.2.1. Im Zeitpunkt des beantragten Bezugsbeginns (Geburt der Tochter) bis zum 9. Jänner 2020 waren beide Elternteile in Österreich wohnhaft und es lag auch sonst kein Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat vor. Mangels Erstreckung der Wirkung durch die VO (EU) 1231/2010 kann die VO (EG) 883/2004 für diesen Zeitraum daher nicht zur Anwendung gelangen, sodass das Unionsrecht einer Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG auf den in diesem Zeitraum bestehenden Anspruch nicht entgegen steht. Der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in diesem Zeitraum unterliegt daher einer Anrechnung durch sämtliche (auch nicht vergleichbare und auch nicht zeitlich kongruente) ausländische Familienleistungen, sofern darauf ein Anspruch besteht.

Für den Fall, dass sich – wie hier – die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen ändert, sieht die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 vor, dass der Träger, der die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gezahlt hat, nach denen die Leistung zu Beginn des Monats gewährt wurden, unabhängig von den in den Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten für die Gewährung von Familienleistungen vorgesehenen Zahlungsfristen die Zahlungen bis zum Ende des laufenden Monats fortsetzt (Art 59 Abs 1 Durchführungsverordnung [EG] 987/2009). Das bedeutet, dass ein zu Beginn des Monats Jänner 2020 (nur) nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu beurteilender Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld bis zum Ende dieses Kalendermonats fortzuzahlen wäre und eine Zuständigkeitsänderung erst ab 1. Februar 2020 Berücksichtigung fände.

3.2.2. Ab dem 9. Jänner 2020 war der Ehemann der Klägerin und Vater jedoch unselbständig in Polen beschäftigt, wodurch jedenfalls ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinn der VO (EG) 883/2004 hergestellt wurde. Da der rechtmäßige Aufenthalt der Beteiligten in einem Mitgliedstaat nicht strittig ist und aufgrund der Beschäftigung eines Familienangehörigen in Polen eine Verbindung zu mehr als nur einem einzigen Mitgliedstaat (Österreich und Polen) hergestellt wurde, ist ab diesem Zeitpunkt die VO (EG) 883/2004 im Weg der VO (EU) 1231/2010 anzuwenden. […]

4. Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

4.1. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass ein Anspruch auf das polnische Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) daran scheitere, dass die Klägerin nicht als Einwohnerin Polens anzusehen sei. Die weitere Beurteilung, dass die VO (EG) 883/2004 hier nicht anwendbar und die Frage, ob das Abstellen auf den Wohnort ihrem Art 7 widerspreche, somit nicht entscheidungsrelevant sei, trifft allerdings nur für Zeiträume vor dem 9. Jänner 2020 zu.

Ab dem 9. Jänner 2020 gelangt demgegenüber die VO (EG) 883/2004 im Wege der VO (EU) 1231/2010 zur Anwendung. Nach Art 7 VO (EG) 883/2004 dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte 401 oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. […]

4.2. Entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts könnte ein allfälliger Anspruch der Klägerin auf polnisches Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) somit ab dem 1. Februar 2020 (Art 59 Durchführungsverordnung [EG] 987/2009) nicht am Wohnort der Klägerin in Österreich scheitern, sodass ein Anspruch der Klägerin zu bejahen sein könnte, der auf den Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld anzurechnen wäre. […].

4.3. […]

Da es um die Frage der Anrechnung einer polnischen Leistung geht, ist somit relevant, ob sie einen solchen Anspruch aus der Beschäftigung ihres Ehemannes in Polen ableiten könnte, der sodann auf den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld der Klägerin anzurechnen sein könnte.

5.1. Mangels Ermittlung der diesbezüglichen polnischen Rechtsvorschriften lässt sich aber nicht beurteilen, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf das polnische Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) überhaupt besteht und, bejahendenfalls, ob es sich um eine mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung handelt. […]

5.2. Das stellt einen Verfahrensmangel besonderer Art dar, der zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen zur amtswegigen Ermittlung des ausländischen Rechts führt (10 ObS 123/23w Rz 24; 10 ObS 50/23k Rz 24). Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren das für das Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) maßgebliche polnische Recht (die relevanten polnischen Bestimmungen einschließlich der Anwendungspraxis im Ursprungsland) zu ermitteln haben. Ausgehend davon ist zu prüfen, ob der Klägerin ein Anspruch auf Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 bzw 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 zustand. Sollte der Anspruch auf Elterngeld nach polnischem Recht von einem Wohnsitz in Polen abhängig gemacht werden, stünde dies einem derartigen Anspruch im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 (mangels Anwendbarkeit des Unionsrechts in diesem Zeitraum) entgegen, sodass in diesem Umfang auch eine Anrechnung auf das Kinderbetreuungsgeld ausscheiden würde (und zwar unabhängig vom Anspruchszeitraum). Sollte im Zeitraum ab 1. Februar 2020 (bis zum Ende der Anwendbarkeit der VO [EG] 883/2004, das mangels diesbezüglicher Feststellungen noch nicht feststeht) ein Anspruch auf Elterngeld nach polnischem Recht ausschließlich daran scheitern, dass der Wohnsitz der Klägerin außerhalb Polens lag, wäre ein Anspruch auf Elterngeld wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in diesem Zeitraum zu bejahen, sodass er auf das im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 gebührende Kinderbetreuungsgeld unabhängig von einer Vergleichbarkeit der Leistungen und auf das im Zeitraum 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 gebührende Kinderbetreuungsgeld nur nach Maßgabe einer – gegebenenfalls zu prüfenden – Gleichartigkeit der Leistung anzurechnen sein könnte.“

ERLÄUTERUNG

Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Frage der Anrechenbarkeit des polnischen Elterngeldes auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld, wenn der Sachverhalt zunächst nur österreichischem Recht, zu einem späteren Zeitpunkt aber auch den Regeln der Koordinierungsverordnung unterliegt. Das nationale Recht (§ 6 Abs 3 KBGG) sieht nämlich eine Anrechnungsregel vor, die unabhängig davon gilt, ob es sich um vergleichbare Leistungen handelt und ob diese für denselben Bezugszeitraum gebühren. Die VO 883/2004 lässt hingegen nur die Anrechnung vergleichbarer Leistungen zu.

Bezugszeitraum 22.8.2019 bis 9.1.2020

Der OGH geht für diesen Zeitraum von einem rein innenstaatlichen Sachverhalt, ohne Auslandsbezug, aus. Drittstaatsangehörige und ihre Familienangehörige sind vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 – aufgrund der VO (EU) 1231/2010 – erst dann erfasst, sofern sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Da im vorliegenden Fall im Zeitpunkt des beantragten Bezugsbeginns bis zum 9.1.2020 beide Elternteile in Österreich wohnhaft waren und auch sonst kein Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat vorlag, verneinte der OGH die Anwendung der VO (EG) 883/2004 für diesen Zeitraum.

Aufgrund von Nicht-Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 steht somit das Unionsrecht den Vorgaben des § 6 Abs 3 KBGG nicht entgegen. Demnach unterliegt der Anspruch der Kl auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld einer Anrechnung durch „sämtliche“, auch nicht vergleichbare ausländische Familienleistungen, sofern darauf ein Anspruch besteht. § 6 Abs 3 KBGG stellt eine international ausgestaltete Antikumulierungsregel dar und bezieht sich daher sinngemäß auf Ansprüche aus dem Ausland.

Bezugszeitraum ab 9.1.2020

Aufgrund der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters in Polen kam es erstmalig mit 9.1.2020 zu einem Sachverhalt mit Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat, der die Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 und ihrer DVO (EG) 987/2009 begründete. Zwar lässt auch die VO 883/2004 eine Anrechnung ausländischer Familienleistungen zu. Das gilt jedoch nur für „vergleichbare“ Leistungen. § 6 Abs 3 KBGG enthält hingegen keine solche Einschränkung auf „vergleichbare“ ausländische Familienleistungen. Ist daher der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet, hat § 6 Abs 3 KBGG als dem Unionsrecht (Art 10 VO [EG] 883/2004) widersprechend von den Gerichten unangewendet zu bleiben 402 (vgl OGH 4.6.2024, 10 ObS 17/24h). Die Frage, um die es nun ging, war allerdings, ob das auch dann gilt, wenn der Sachverhalt zunächst nur § 6 Abs 3 KBGG und erst später der VO 883/2004 unterliegt.

Nach den Ausführungen des OGH sollen „rückwirkend“ für Zeiträume, in denen Kinderbetreuungsgeld bezogen wurde und die nicht dem Anwendungsbereich der VO 883/2004 unterlagen, sämtliche ausländische Familienleistungen angerechnet werden können, auch wenn der Anspruch auf die ausländische Leistung zu einem späteren Zeitpunkt und wegen der Anwendbarkeit der VO 883/2004 entstanden ist. Als Begründung wird angeführt, dass die Anrechnung gem § 6 Abs 3 KBGG nicht auf vergleichbare Leistungen und bestimmte Bezugszeiträume beschränkt ist. Hierbei wird allerdings nicht erklärt, wie eine solche Anrechnung zu erfolgen hat, ohne eine Systemwidrigkeit zu begründen, indem beispielsweise familienbeihilfeähnliche und somit nicht vergleichbare Familienleistungen gleichzeitig auf die Familienbeihilfe und auf das Kinderbetreuungsgeld angerechnet werden. Genau das will nämlich die VO 883/2004 eigentlich verhindern.

Der OGH bestätigt in der E, dass der Zuspruch des Kinderbetreuungsgeldes iHv € 10.708,53 bereits rechtskräftig wurde. Mangels Ermittlung der polnischen Rechtsvorschriften ließ sich aber nicht beurteilen, ob ein Anspruch der Kl auf das polnische Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) überhaupt bestand und iHv € 1.657,67 zur Anrechnung gelangt. Die Frage, ob es sich beim polnischen Elterngeld um eine mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung handelt, ist zusätzlich zu beantworten. Die Rechtssache wurde daher zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.