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Auferlegung der Rückersatzpflicht durch Sozialgerichte – Korrektur eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers

ElisabethBischofreiter

Dem Kl wurde für sein am 21.4.2020 geborenes Kind pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto ausgezahlt.

Mit Bescheid vom 9.11.2021 sprach die Bekl aus, aufgrund des nicht rechtzeitigen Nachweises der vorgeschriebenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen reduziere sich der Anspruch um € 1.300,-. Dagegen richtet sich die Klage, in der der Kl vorbringt, sämtliche Nachweise gem § 7 Abs 2 KBGG erbracht zu haben. Die Bekl beantragte die Klagsabweisung sowie den Ausspruch der Verpflichtung des Kl, das ihm anlässlich der Geburt des Kindes gewährte Kinderbetreuungsgeld in Höhe von insgesamt € 1.300,- zurückzuzahlen.

Das Erstgericht wies den Antrag den Kl zur Rückzahlung des Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von € 1.300,- zu verpflichten, mit Beschluss zurück und wies im Übrigen die Klage auf Feststellung, dass sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht um € 1.300,- reduziere, ab. Der Rückforderungsanspruch der Bekl bestehe materiell zu Recht. Ungeachtet dessen bestehe infolge der Teilaufhebung einer Wortfolge in § 89 Abs 4 Satz 1 ASGG durch den VfGH keine prozessrechtliche Grundlage dafür, den Kl zu einer Leistung an die Bekl zu verpflichten. § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61BGBl I 2022/61 sehe zwar wieder eine Rückzahlungsverpflichtung vor, komme aber gem § 98 Abs 31 ASGG nicht zur Anwendung, weil die Klage vor dem 30.4.2022 eingebracht worden sei. Das Rekursgericht bestätigte diese Rechtsansicht, ließ jedoch den Revisionsrekurs zu, weil keine höchstgerichtliche Rsp zur Auferlegung einer Rückersatzpflicht durch das Gericht in Fällen der Unanwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF vor Inkrafttreten der Teilaufhebung von § 89 Abs 4 erster Satz ASGG durch das Erkenntnis des VfGH vom 11.12.2020, G 264/2019, und Unanwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61BGBl I 2022/61 vorliege. 381

Der OGH erachtete den Revisionsrekurs als zulässig und berechtigt.

Der VfGH hob mit seinem Erk G 264/2019 über einen Normenkontrollantrag einen Teil der Wortfolge von § 89 Abs 4 ASGG auf und trug damit den geltend gemachten Bedenken betreffend die fehlende Kognitionsbefugnis der Sozialgerichte im Hinblick auf die Möglichkeit der gänzlichen oder teilweisen Nachsicht von der Rückersatzpflicht in Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG Rechnung. Während nämlich dem Sozialversicherungsträger bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände sowohl die Befugnis zur Gewährung von Raten als auch die Befugnis, auf die Rückforderung ganz oder zum Teil zu verzichten, eingeräumt ist, war den Sozialgerichten nach § 89 Abs 4 ASGG nur die Möglichkeit der Ratengewährung eingeräumt. Der Gesetzgeber reagierte auf die Aufhebung mit einer Änderung des § 89 Abs 4 ASGG im Zuge der Zivilverfahrens-Novelle 2022 (ZVN 2022, BGBl I 2022/61BGBl I 2022/61). Seither können auch die Sozialgerichte die Rückersatzpflicht zum Teil oder zur Gänze entfallen lassen.

Durch die Aufhebung entfiel die zuvor in § 89 Abs 4 ASGG festgeschriebene Verpflichtung des Gerichts, in Rückforderungsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG im Fall des (materiellen) Bestehens des Anspruchs des Versicherungsträgers auf Rückersatz einer Leistung dem Gegner den Ersatz aufzuerlegen, also einen Leistungsbefehl zugunsten des Sozialversicherungsträgers zu schaffen. Im gegenständlichen Fall war dem Wortlaut nach weder die vor dem Erkenntnis des VfGH geltende Fassung des § 89 Abs 4 ASGG noch die Neufassung des § 89 Abs 4 ASGG anzuwenden. Es stellte sich daher die Frage, ob das Gericht dem Kl überhaupt eine Rückersatzpflicht auferlegen kann. Gem Art 140 Abs 7 Satz 2 B-VG ist das Gesetz auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls (ein solcher lag gegenständlich nicht vor) weiterhin anzuwenden, sofern der VfGH nicht anderes ausspricht. Da die Klage gegen den Bescheid zwar vor dem Inkrafttreten der vom VfGH ausgesprochenen Aufhebung eingebracht wurde, die Abweisung der Klage allerdings erst nach der Aufhebung erfolgte (= verwirklichter Tatbestand), war § 89 Abs 4 ASGG aF gegenständlich nicht anwendbar. Nach der Übergangsbestimmung des § 98 Abs 31 ASGG trat die Neufassung von § 89 Abs 4 ASGG am 1.5.2022 in Kraft und ist (nur) auf Verfahren anzuwenden, in denen die Klage nach dem 30.4.2022 eingebracht wird. Gegenständlich wurde die Klage bereits vor diesem Zeitpunkt, nämlich am 6.12.2021, eingebracht, weshalb auch § 89 Abs 4 ASGG idF ZVN 2022 dem Wortlaut nach nicht anwendbar ist.

Der OGH führte aus, dass aus den ErläutRV der Wille des Gesetzgebers ersichtlich sei, das zeitliche Übergangsrecht so zu gestalten, dass ohne zeitliche Lücke die Sozialgerichte verpflichtet sein sollten, den entsprechenden Rückersatz aufzuerlegen. Es sei nicht nachvollziehbar, was den Gesetzgeber bewogen hat, die Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 vom Zeitpunkt der Klageeinbringung abhängig zu machen. Denn dadurch seien zeitliche „Lücken“, in denen eine Rechtsgrundlage für die Befugnis des Gerichts, den Rückersatz aufzuerlegen, fehlt, vorprogrammiert. Vor diesem Hintergrund gelangt der OGH zu dem Schluss, dass die Übergangsvorschrift des § 98 Abs 31 ASGG entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen ist, dass für die Anwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 nicht auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung abgestellt wird. Die Sozialgerichte haben daher § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auch in Verfahren, in denen die Klage vor dem 1.5.2022 eingebracht wurde und das Urteil nach diesem Zeitpunkt ergeht, anzuwenden. Ob darin eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlautes oder eine analoge Anwendung des § 89 Abs 4 idF der ZVN 2022 auf Fälle, die nach dem Wortlaut der Übergangsbestimmung von ihr noch nicht erfasst sind, kann laut OGH dahinstehen.