102Entlassung eines begünstigten Behinderten bei sexueller Belästigung auch ohne vorangehende Ermahnung gerechtfertigt
Entlassung eines begünstigten Behinderten bei sexueller Belästigung auch ohne vorangehende Ermahnung gerechtfertigt
Der 1966 geborene Kl war bei der Bekl ab 1987 als Arbeiter beschäftigt. Der Kl zählt seit 1997 aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung zum Kreis der begünstigten Behinderten iSd Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG). In der Abteilung des Kl sind 325 Männer und 5 Frauen dauernd beschäftigt. Neu eintretende AN müssen bei der Bekl eine Schulung (Ethikkurs) absolvieren, bei dem es auch ein Kapitel zu sexuellen Belästigungen gibt. Obwohl im Unternehmen ein lockerer Umgang herrschte, fiel der Kl damit auf, dass er sowohl gegenüber weiblichen Kolleg:innen als auch männlichen Kollegen immer wieder sexuell konnotierte oder ordinäre Äußerungen tätigte.
Im Jahr 2022 absolvierte eine 18-jährige HTL-Schülerin ein sechswöchiges Pflichtpraktikum bei der Bekl. Sie wurde in der Produktionshalle eingesetzt und war als einzige Frau der Schichtgruppe des Kl zugeteilt. Dabei kam es immer wieder zu sexuellen Belästigungen durch den Kl. Bereits bei ihrer ersten Begegnung fragte der Kl sie, ob sie einen Freund habe. Als sie das verneinte, wies er – in Anwesenheit eines anderen Kollegen – darauf hin, dass der Kollege „ja Single“ sei und „das würde doch gut passen, da könnte ja was gehen“. Einige Tage später fragte der Kl die junge Praktikantin, ob sie noch Jungfrau sei. An einem anderen Tag zog er sein T-Shirt hoch und wischte sich damit den Schweiß vom Gesicht. Daraufhin sagte er vor allen Anwesenden zur Praktikantin: „Das ist der obere Teil, wenn du auch den unteren Teil sehen willst, dann müssen wir uns privat treffen.“ Der letzte Vorfall ereignete sich schließlich am 24.7.2022, als in einer Runde allgemein über das Umkleiden nach der Arbeit gesprochen wurde. Der Kl meinte wiederum zur Praktikantin, dass es früher so gewesen sei, dass die jüngeren „Buam“ mit den älteren Frauen duschen gegangen seien. Jetzt könne man es ja „umgekehrt“ machen. Die anderen Kollegen wiesen den Kl mehrfach darauf hin, die Praktikantin in Ruhe zu lassen. Mit Schreiben vom 10.8.2022 sprach die Bekl die fristlose Entlassung des Kl aus.
Der Kl begehrte Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis über den 11.08.2022 hinaus fortbesteht.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Die Äußerungen des Kl gegenüber der Ferialpraktikantin erfüllten den Tatbestand der sexuellen Belästigung bzw der geschlechtsbezogenen Belästigung. Es sei aber nicht erforderlich gewesen, den Kl sofort ohne vorherige Ermahnung oder Verwarnung zu entlassen, um die belästigte Ferialpraktikantin vor weiteren Übergriffen zu schützen, weil es ohnehin zu keinem weiteren Zusammentreffen der beiden gekommen wäre.
Auch das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl gegen diese Entscheidung nicht Folge. Es sei davon auszugehen, dass – unter Berücksichtigung der offensichtlich akzentuierten Persönlichkeit des Kl, der als Arbeiter in einer unteren Betriebsebene tätig gewesen sei – ihm das Gewicht seiner Handlungen und Äußerungen nicht ausreichend klar gewesen sei.
Der OGH entschied, dass der Revision Folge gegeben und die Klage abzuweisen ist. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände war die Bekl zur Entlassung berechtigt.
Die Bekl stützt sich auf den Entlassungsgrund des § 82 lit g erster Tatbestand GewO 1859. Demnach kann ein Arbeiter entlassen werden, wenn er sich einer groben Ehrenbeleidigung schuldig macht. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Äußerung als erhebliche Ehrverletzung und damit als Entlassungsgrund zu qualifizieren ist, kommt es darauf an, ob die Äußerung objektiv geeignet ist, ehrverletzend zu wirken und in concreto auch diese Wirkung gehabt hat.
Im vorliegenden Fall kann den Vorinstanzen laut OGH nicht darin gefolgt werden, dass die festgestellten Vorfälle den AG nicht ohne vorangehende Ermahnung zur Entlassung berechtigt hätten.
Auch wenn es sich beim Kl um einen langjährigen Mitarbeiter handelt und es im Betrieb, in dem überwiegend Männer arbeiten, häufiger zu sexistischen Witzen und Äußerungen kommt, macht das Verhalten des Kl seine Weiterbeschäftigung unzumutbar. Der Kl tätigte seine Äußerung gegenüber einer 18-jährigen Praktikantin. Dass dies ungehörig ist, musste ihm unabhängig vom Umgangston im Betrieb bewusst sein. Zusätzlich wurde er jeweils von Kollegen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich das nicht gehöre und er die Praktikantin in Ruhe lassen solle. Dessen ungeachtet setzte der Kl sein Verhalten fort.
Weder waren die Äußerungen des Kl aufgrund der Situation oder ihres Inhalts als nicht erheblich anzusehen noch legt das sonstige Verhalten des Kl nahe, 238 dass es sich um ein einmaliges Fehlverhalten handelt. Den Vorinstanzen ist daher auch nicht darin zu folgen, dass deswegen, weil das Ende des Praktikums gewährleistet war und es zu keiner weiteren Begegnung im Betrieb kommen würde, eine Entlassung nicht gerechtfertigt war. Auch wenn eine weitere Belästigung der Praktikantin ausgeschlossen werden konnte, beschäftigt die Bekl auch andere weibliche Arbeitskräfte und Praktikantinnen, denen gegenüber sie zur Fürsorge verpflichtet ist. Im Übrigen hielt sich der Kl mit sexuell anzüglichen Bemerkungen auch nicht gegenüber männlichen Kollegen zurück.
Unabhängig davon, ob die Bekl im Vorfeld des Vorfalls geeignete Maßnahmen gesetzt hat, um ihre Mitarbeiter und damit auch den Kl in Hinblick auf das Thema sexuelle Belästigung zu sensibilisieren, durfte der Kl nicht davon ausgehen, dass so ein Verhalten gegenüber einer 18-jährigen Praktikantin tolerabel ist oder von der Bekl toleriert wird.
Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände war die Bekl zur Entlassung berechtigt.