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Anrechenbarkeit vergleichbarer Leistungen für das Kinderbetreuungsgeld: Slowakei, Tschechien und Österreich

KrisztinaJuhasz

Die Beurteilung, ob Familienleistungen vergleichbar sind oder nicht, ist das Ergebnis einer Auslegung vor allem der ausländischen gesetzlichen Bestimmungen über die betreffende Leistung und damit eine rein rechtliche Beurteilung. Als solche kann sie ebenso wie die darauf aufbauende Beurteilung der vor- oder nachrangigen Leistungszuständigkeit nach Art 68 VO (EG) 883/2004 kein Gegenstand eines prozessualen Anerkenntnisses sein.

Auch der Ehegatte eines AN, der in einem Mitgliedstaat arbeitet, aber mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, kann sich auf Art 67 VO (EG) 883/2004 berufen. Die Fiktion des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 führt dabei dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen – bei Vorliegen der nationalen Anspruchsvoraussetzungen – auch einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist.

SACHVERHALT

Die Kl lebt mit ihrem Ehegatten und der am 22.6.2017 geborenen gemeinsamen Tochter in der Slowakischen Republik (in der Folge: Slowakei). Die Kl war in der Tschechischen Republik (in der Folge: Tschechien) unselbständig beschäftigt. Das Dienstverhältnis ist seit September 2014 karenziert. Der Kindesvater war bis 30.6.2018 in der Slowakei erwerbstätig. Seit 1.7.2018 ist er in Österreich unselbständig beschäftigt und bezog eine Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe.

Aufgrund ihres Antrags bezog die Kl im Zeitraum von November 2017 bis Juni 2018 Kinderbetreuungsgeld in der Slowakei von insgesamt € 1.714,60. Sie bezog zudem bis 30.6.2018 in Tschechien Elterngeld im Maximalbetrag von umgerechnet € 8.602,-.

Mit Bescheid wies die bekl Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Kl auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 851 Tage vom 1.7.2018 – somit bis 20.10.2019 – ab.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit ihrer Klage begehrte die Kl das Kinderbetreuungsgeld und brachte vor, dass das tschechische Elterngeld mangels zeitlicher Kongruenz nicht auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei. Die Bekl wandte ein, die Kl habe mit dem tschechischen Elterngeld bereits eine kinderbetreuungsgeldähnliche Leistung in Höhe von € 8.602,- bezogen. Da dieser Betrag den möglichen Leistungsanspruch in Österreich übersteige, führe das zur vorrangigen Zuständigkeit Tschechiens und zum Ruhen des Kinderbetreuungsgeldanspruchs.

Das Erstgericht sprach das Kinderbetreuungsgeld für die Zeit von 1.7.2018 bis 20.10.2019 (477 Tage) in Höhe von € 14,53 täglich (insgesamt € 6.930,81) zu. Das Berufungsgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass die Kl keine stichhaltigen Gründe angeführt habe, weshalb das tschechische Elterngeld keine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung sein solle. Somit habe sie diesen Umstand schlüssig zugestanden. Darauf aufbauend sei zumindest diese Leistung gem § 6 Abs 3 KBGG auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil in der Rsp noch nicht eindeutig geklärt sei, ob bei der Berechnung der Ausgleichszahlung nach § 6 Abs 3 KBGG bzw des Unterschiedsbetrags iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 von dem nach § 3 Abs 1 KBGG maximal möglichen oder dem konkret zustehenden Kinderbetreuungsgeld auszugehen sei.

Die Revision der Kl war zulässig und auch berechtigt. Die Urteile der Vorinstanzen wurden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1. Im Revisionsverfahren ist nicht strittig, dass für die Klägerin der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet ist. […] die Anwendung der Verordnung [ist] schon aufgrund der Eigenschaft der Klägerin als Familienangehörige ihres in Österreich beschäftigten Gatten zu bejahen […] (Art 1 lit i iVm Art 2 VO [EG] 883/2004).

1.2. Ebenso wenig wenden sich die Parteien gegen die Beurteilung der Vorinstanzen, dass das Kinder264betreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 sowie der DVO (EG) 987/2009 ist […] und § 2 Abs 1 Z 4 KBGG im Anwendungsbereich der Verordnung durch deren Koordinierungsregeln überlagert wird […].

1.3. Die Klägerin bezweifelt auch nicht, dass die Antikumulierungsbestimmungen der VO (EG) 883/2004 nur bei einem Zusammentreffen von vergleichbaren (gleichartigen) Leistungen aus zwei Staaten anzuwenden sind […]. Entsprechend diesen unionsrechtlichen Vorgaben ruht auch nach § 6 Abs 3 KBGG der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nur, wenn ein Anspruch auf vergleichbare ausländische Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistung […]. In diesem Sinn vergleichbar sind Leistungen dann, wenn sie sich in Funktion und Struktur (Zweck, Berechnungsgrundlage, Voraussetzungen für ihre Gewährung) im Wesentlichen entsprechen […].

2. In der Revision wendet sich die Klägerin vielmehr gegen die vom Berufungsgericht angenommene Vergleichbarkeit des (tschechischen) Elterngeldes mit dem Kinderbetreuungsgeld, die sie weder zugestanden habe noch vorliege.

Damit ist sie im Recht.

2.1. Gegenstand eines prozessualen Geständnisses iSd §§ 266, 267 ZPO können nur Tatsachenbehauptungen, nicht aber Rechtsausführungen […] sein […]. Außerstreitstellungen, die nicht Tatsachen, sondern nur die rechtliche Qualifikation eines Sachverhalts betreffen, sind daher unwirksam […].

2.2. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil die Beurteilung, ob Familienleistungen vergleichbar sind oder nicht, Ergebnis einer Auslegung vor allem der ausländischen gesetzlichen Bestimmungen über die betreffende Leistung und damit eine rein rechtliche Beurteilung ist […]. Als solche kann sie ebenso wie die darauf aufbauende Beurteilung der vor- oder nachrangigen Leistungszuständigkeit nach Art 68 VO (EG) 883/2004 […] kein Gegenstand eines prozessualen Anerkenntnisses sein.

2.3. Wenn sich das Berufungsgericht dazu auf die Entscheidung 10 ObS 117/22m beruft, wurde dort die Vergleichbarkeit des tschechischen Elterngeldes zwar als unstrittig angesehen (Rz 15). Anders als hier beruhte das aber nicht auf einem von den Tatsacheninstanzen angenommenen Zugeständnis iSd §§ 266, 267 ZPO, sondern darauf, dass dort die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, wonach die Leistungen vergleichbar seien, im Berufungsverfahren nicht bekämpft wurde (vgl 10 ObS 117/22m Rz 16). Die Prüfung dieser selbständigen Rechtsfrage war dem Obersten Gerichtshof daher entzogen […].

3. Dieser Fall liegt hier aber nicht vor. Mangels Ermittlung der tschechischen Rechtslage lässt sich […] nicht beurteilen, ob das tschechische Elterngeld eine mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung ist. Aus demselben Grund lässt sich derzeit auch nicht klären, ob das allenfalls (auch) auf das von der Klägerin bezogene slowakische Kinderbetreuungsgeld (offensichtlich gemeint: „príspevok na starostlivosť o dieťa“) zutrifft. […]

4. Im fortgesetzten Verfahren wird daher mit den Parteien zu erörtern und anschließend durch Ermittlung des ausländischen Rechts zu klären sein, ob das tschechische Elterngeld („rodičovský příspěvek“) und das slowakische Kinderbetreuungsgeld („príspevok na starostlivosť o dieťa“) mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbar sind. Mit der Frage, wie eine etwaige Ausgleichszahlung (der Unterschiedsbetrag) nach § 6 Abs 3 KBGG bzw Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 zu berechnen ist, werden sich die Vorinstanzen hingegen erst zu befassen haben, wenn feststeht, dass im dargestellten Sinn vergleichbare Familienleistungen zusammentreffen.

5. Schon jetzt ist klarzustellen:

[…]

5.2. Die Klägerin bekämpft die Ansicht des Berufungsgerichts, Österreich sei im Fall der Gleichartigkeit des tschechischen Elterngeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld […] nachrangig leistungszuständig – womit eine Anrechnung nach § 6 Abs 3 KBGG offen stünde (RS0125752; vgl 10 ObS 101/22h Rz 39 aE) – nicht. Sie geht in der Revision auch selbst davon aus, dass Tschechien der primär leistungszuständige Mitgliedstaat ist. […] das ist dem weiteren Verfahren somit zugrunde zu legen.

5.3. In Bezug auf das slowakische Kinderbetreuungsgeld könnte die Slowakei aufgrund der Beschäftigung des Gatten der Klägerin und des Wohnsitzes der Familie in der Slowakei nach Art 68 Abs 1 lit b sublit i erste Variante VO (EG) 883/2004 nur bis zum 30.6.2018 vorrangig leistungszuständig gewesen sein. Ab 1.7.2018 scheidet die von der Klägerin in erster Instanz angenommene vorrangige Zuständigkeit der Slowakei dagegen aus, weil diese seither nur noch Wohnsitzmitgliedstaat ist.

5.4. Die Ansicht der Beklagten, im gegenteiligen Fall, wenn also keine vergleichbaren Leistungen vorlägen, spiele die Familienbetrachtungsweise keine Rolle, weshalb die Klägerin aus der Erwerbstätigkeit ihres Gatten in Österreich keine Ansprüche ableiten könne, trifft nicht zu:

Unter dieser Prämisse wäre der Anspruch der Klägerin zwar ausschließlich aufgrund der Regelungen über die Exportpflicht zu prüfen (10 ObS 12/23x Rz 16; 10 ObS 133/22i Rz 11 ua). Die Beklagte übersieht aber, dass sich Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 nicht nur auf Art 68 sondern auch auf Art 67 VO (EG) 883/2004 bezieht. Dazu entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass sich auch der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der in einem Mitgliedstaat arbeitet, aber mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, auf Art 67 VO (EG) 883/2004 berufen kann (EuGHC-32/18, Moser [Rn 37 f]; zur VO (EWG) 1408/71:C-333/00Maaheimo, [Rn 32 f]; C-245/94 und C-312/94Hoever, und Zachow [Rn 37 f]). Die Fiktion des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 führt dabei dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen – bei Vorliegen der nationalen Anspruchsvoraussetzungen – auch einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung 265 dieser Leistungen zuständig ist (EuGHC-32/18, Moser [Rn 44]; EuGHC-378/14, Trapkowski[Rn 41]). Auch wenn Österreich nicht ihr Wohnsitzmitgliedstaat ist, kann die Klägerin daher einen aus der Beschäftigung ihres Gatten in Österreich abgeleiteten Anspruch auf Familienleistungen nach österreichischem Recht geltend machen (vgl 10 ObS 12/23x Rz 25; 10 ObS 173/19t [ErwGr 2.4.]).

ERLÄUTERUNG

Das Kinderbetreuungsgeld ist eine Familienleistung iSd Art 1 lit z der VO (EG) 883/2004. Da Art 67 der VO (EG) 883/2004 einen Anspruch auf Export der Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen vorsieht, können bei Zusammentreffen von vergleichbaren Leistungen bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt Anspruchskonflikte bestehen. Bei Zusammentreffen von gleichartigen Familienleistungen sieht daher Art 68 VO (EG) 883/2004 Prioritätsregeln vor. Sobald die vor- bzw nachrangigen Zuständigkeiten für die Leistungserbringung bestimmt sind, ist § 6 Abs 3 KBGG als sogenannte Antikumulierungsregel zu beachten. Diese besagt, dass, wenn der vorrangig zuständige Mitgliedstaat die Familienleistung zu erbringen hat, die Leistungen des nachrangigen Mitgliedstaates bis zur Höhe des vorrangig zuständigen Staates auszusetzen sind (vgl Sonntag in Sonntag/Schober/Konnezny [Hrsg], KBGG § 6 Rz 4).

Nach stRsp liegt eine Gleichartigkeit oder Vergleichbarkeit der Leistungen immer dann vor, wenn diese einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907). Eine völlige Gleichartigkeit wird aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der Sozialen Sicherheit nicht gefordert.

Die Klärung der Frage der Gleichartigkeit – und somit einer möglichen Anrechenbarkeit von in einem anderen EU-Mitgliedstaat bezogenen Leistungen – ist daher für eine abschließende Beurteilung im gegebenen Fall von Relevanz, insb da § 6 Abs 3 KBGG bzw Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 auch dann zur Anwendung gelangen, wenn gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar nicht oder nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden (OGH 16.5.2023, 10 ObS 117/22m).

In der Revision bekämpfte daher die Kl die vom Berufungsgericht angenommene Vergleichbarkeit des tschechischen Elterngeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld. Gegenstand des Verfahrens war somit die Frage, ob das von der Kl bezogene tschechische Elterngeld („rodičovský příspěvek“) in Österreich zum Ruhen des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld führt.

Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Kl die Vergleichbarkeit der Leistungen schlüssig zugestanden hätte, und führte aus, dass darauf aufbauend diese Leistung gem § 6 Abs 3 KBGG auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei, sowie – weil das tschechische Elterngeld den hypothetischen Kinderbetreuungsgeldanspruch übersteige – Österreich keinen Unterschiedsbetrag mehr leisten müsse. Allerdings wurde bei dieser Beurteilung übersehen, dass die Frage, ob konkrete Familienleistungen nach Funktion und Struktur miteinander vergleichbar sind, eine Rechtsfrage darstellt und von den Gerichten zu beantworten ist. Diese rein rechtliche Beurteilung ist das Ergebnis einer Auslegung der ausländischen gesetzlichen Bestimmungen über die betreffende Leistung und kann kein Gegenstand eines prozessualen Geständnisses iSd §§ 266, 267 ZPO sein.

Mangels Ermittlung des ausländischen Rechts ließ sich daher vom OGH nicht beantworten, ob und hinsichtlich welcher der bezogenen Familienleistungen (hier: slowakisches Kinderbetreuungsgeld „príspevok na starostlivosť o dieťa“ und das tschechische Elterngeld „rodičovský příspěvek“) eine Anwendung der Antikumulierungsregel des § 6 Abs 3 KBGG überhaupt in Betracht kommt. Dieser Umstand stellt einen Verfahrensmangel besonderer Art dar, der zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führte (OGH 28.9.2023, 10 ObS 50/23k; RS0116580; RS0040045).