119Pflegekarenzgeld bei Wohnsitz der pflegebedürftigen Person im EU-Ausland
Pflegekarenzgeld bei Wohnsitz der pflegebedürftigen Person im EU-Ausland
1. Das Pflegekarenzgeld ist eine „Leistungen bei Krankheit“ iSd Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 und eine „Geldleistung“ iS dieser Verordnung.
2. Eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld davon abhängig gemacht wird, dass die pflegebedürftige Person nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats Pflegegeld einer bestimmten Pflegestufe bezieht, ist eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft, die nur zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.
3. Es widerspricht nicht Art 4 VO 883/2004, die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld bzw Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Familienhospizkarenz an unterschiedliche Voraussetzungen zu knüpfen und es nicht zu erlauben, einen Antrag auf Pflegekarenz in einen Antrag auf Familienhospizkarenz umzudeuten.
Der Beschwerdeführer, ein italienischer Staatsbürger, der seit 2013 in Österreich wohnt und arbeitet, hat gem § 14c Abs 1 AVRAG vom 1.5.2022 bis zum 13.6.2022 eine Pflegekarenz vereinbart, um seinen Vater zu pflegen, der in Italien wohnhaft war. Am 10.5.2022 beantragte der Beschwerdeführer für den Zeitraum vom 10.5.2022 bis zum 13.6.2022 die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld. Der Vater bezog Pflegegeld nach italienischem Recht. Mit Bescheid vom 7.6.2022 wies das Sozialministeriumservice den Antrag mit der Begründung ab, dass der Vater kein Pflegegeld nach österreichischem Recht bezogen habe, wogegen der Beschwerdeführer Beschwerde beim BVwG erhob.
Das BVwG setzte das Verfahren aus und legte mehrere Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
„Zu den Fragen 1 bis 4
27 Mit den Fragen 1 bis 4 […] möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er ein Pflegekarenzgeld an einen Arbeitnehmer umfasst, der gegen Entfall des Arbeitsentgelts zur Betreuung oder Pflege eines nahen Angehörigen, der in einem anderen Mitgliedstaat Pflegegeld bezieht, karenziert wird […] [und] ob eine solche Leistung unter den Begriff der „Geldleistung“ im Sinne dieser Verordnung fällt. […]
33 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Leistung […] als Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden, wenn sie erstens den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Art 3 Abs 1 VO 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht. Diese beiden Voraussetzungen sind kumulativ […]. […]
35 Im vorliegenden Fall ist diese erste Voraussetzung offensichtlich erfüllt […].
36 Hinsichtlich der zweiten oben in Rn 33 genannten Voraussetzung spricht Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 ausdrücklich von „Leistungen bei Krankheit“ […].
37 In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof entschieden, dass durch die Pflegebedürftigkeit der Person entstandene Kosten, die die Behandlung der Person und/oder die Verbesserung ihres Alltags betreffen, wie insbesondere Kosten, die ihr Hilfe durch Dritte sichern, „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne des genannten Art 3 Abs 1 lit a gleichzustellen sind, sofern solche Kosten darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der pflegebedürftigen Personen zu verbessern […]. […]
39 […] [D]as im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld [zielt], auch wenn es der pflegenden Person gewährt und ausbezahlt wird, um den Gehaltsverlust auszugleichen […], offensichtlich ebenfalls und hauptsächlich darauf ab, der pflegenden Person die Erbringung der Pflege zu ermöglichen, die aufgrund des Gesundheitszustands der pflegebedürftigen Person erforderlich ist, so dass es letztlich vor allem dieser Person zugutekommt.
40 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld unter den Begriff „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 fällt.
41 Hinsichtlich der weiteren Frage […] ist klarzustellen, dass […] das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld, das zum eigentlichen Pflegegeld akzessorisch ist, ebenfalls als „Geldleistung“ iSd VO 883/2004 zu qualifizieren [ist]. […]
Zu Frage 5
[…]
49 […] [M]it Frage 5 [möchte das vorlegende Gericht] im Wesentlichen wissen […], ob Art 45 Abs 2 AEUV, Art 4 VO 883/2004 und Art 7 Abs 2 VO 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, mit der die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld davon abhängig gemacht wird, dass die pflegebedürftige Person nach dem Recht dieses Mitgliedstaats Pflegegeld einer bestimmten Stufe bezieht.
50 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art 4 VO 883/2004 entsprechend Art 45 AEUV die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen soll, dass er alle Dis260kriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben. Zum anderen stellt Art 7 Abs 2 VO 492/2011 klar, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer […]. […]
56 Im vorliegenden Fall setzt die Zuerkennung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflegekarenzgeldes […] voraus, dass die pflegebedürftige Person nach österreichischem Recht Pflegegeld ab der Stufe 3 bezieht. Das Pflegekarenzgeld wird also nur zuerkannt, wenn die österreichischen Behörden für die Auszahlung des Pflegegeldes an die pflegebedürftige Person zuständig sind. Folglich ist die direkte Verbindung mit dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts der pflegebedürftigen Personen als erwiesen anzusehen.
57 Daraus folgt, dass die Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes zum nach Maßgabe des anwendbaren österreichischen Rechts gewährten Pflegegeld geeignet ist, Wanderarbeitnehmer wie den Kläger des Ausgangsverfahrens […] stärker zu beeinträchtigen als österreichische Staatsbürger, deren Familie, insbesondere deren Eltern, in der Regel ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben.
58 Dieser akzessorische Charakter des Pflegekarenzgeldes führt somit zu einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die nur zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist. […]
62 Soweit […] die Pflegestufe Aufschluss über den Pflegeaufwand geben kann, den die pflegebedürftige Person benötigt, was gegebenenfalls mit sich bringt, dass die pflegende Person nicht in der Lage ist, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, erscheint das Ziel, die Zuerkennung von durch die öffentliche Hand finanzierten Leistungen auf Fälle ab der Pflegestufe 3 zu begrenzen, legitim.
63 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Voraussetzung für den Bezug von Pflegegeld ab der Stufe 3 auch dann als erfüllt gilt, wenn das Pflegegeld nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats bezogen wird. […]
64 Gleichwohl ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, […] zu beurteilen, ob im Hinblick auf die […] nach Unionsrecht zulässigen Rechtfertigungsgründe, insbesondere in Bezug auf eine mögliche erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit […], der akzessorische Charakter des in Rede stehenden Pflegekarenzgeldes im Verhältnis zum nach österreichischem Recht gewährten Pflegegeld ab der Stufe 3 gerechtfertigt sein kann. [...]
Zu den Fragen 6 und 7
66 Mit den Fragen 6 und 7 […] möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art 4 VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Rechtsprechung entgegensteht, die zum einen die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld bzw. von Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Familienhospizkarenz an unterschiedliche Voraussetzungen knüpft und es zum anderen nicht erlaubt, einen Antrag auf Pflegekarenz in einen Antrag auf Familienhospizkarenz umzudeuten.
67 Hierzu ergibt sich aus Art 48 AEUV, […] dass jeder Mitgliedstaat dafür zuständig bleibt, im Einklang mit dem Unionsrecht in seinen Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden […]. […]
72 Die verschiedene Ausgestaltung der Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld bzw. von Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Familienhospizkarenz hat also keine diskriminierenden Auswirkungen auf Personen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben.“
Im vorliegenden Urteil äußert sich der EuGH erstmals zum Anspruch auf Pflegekarenzgeld in Sachverhaltskonstellationen, in denen ein:e in Österreich beschäftigte:r Unionsbürger:in das Dienstverhältnis karenziert, um sich der Pflege eines:r im EU/EWR-Ausland lebenden nahen Angehörigen zu widmen. Im konkreten Fall pflegte ein italienischer Staatsbürger, der schon seit vielen Jahren in Österreich wohnte und beschäftigt war, seinen in Italien lebenden Vater. Er karenzierte dazu sein Dienstverhältnis und beantragte Pflegekarenzgeld. Der Vater bezog Pflegegeld nach italienischem Recht und bedurfte einer 24-Stunden-Pflege.
Kurz vor der Vorlage hatte der VwGH bereits zur Familienhospizkarenz entschieden, dass sich für einen Ausschluss des Pflegekarenzgeldes, mit der Begründung die Person, für deren Sterbebegleitung die Leistung beantragt wird, verfüge über keinen österreichischen Krankenversicherungsschutz, weder im nationalen Recht noch im Unionsrecht eine Grundlage findet (VwGH 20.12.2022, Ra 2021/08/0061). Im Unterschied zur Familienhospizkarenz ist es jedoch bei der Pflegekarenz Voraussetzung, dass dem zu pflegenden Angehörigen Pflegegeld ab der Stufe 3 (bzw ab der Stufe 1 bei demenziell erkrankten oder minderjährigen nahen Angehörigen) nach § 5 BPGG gebührt (§ 14c Abs 1 AVRAG). Diese Voraussetzung kann eine pflegebedürftige Person, die im EU-Ausland lebt, meist nicht erfüllen, da sie schon mangels österreichischer Zuständigkeit (Art 11, 23 ff VO 883/2004) keinen Anspruch auf österreichisches Pflegegeld hat. Aus diesem Grund wies das Sozialministeriumservice den Antrag auf Pflegekarenzgeld im vorliegenden Verfahren ab.
Das BVwG stellte dem EuGH Fragen, zum einen zur Qualifikation des Pflegekarenzgeldes im Regime der VO 883/2004 (Fragen 1-4) und zum anderen zum Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die Voraussetzungen des Bezugs eines österreichischen Pflegegeldes ab der Stufe 3 (Fragen 5-7).261
Zum ersten Fragenkomplex stellt der EuGH fest, dass das Pflegekarenzgeld der pflegenden Person gewährt und ausbezahlt wird. Dennoch kommt es letztlich vor allem der pflegebedürftigen Person zugute, da es der pflegenden Person die Erbringung der erforderlichen Pflege ermöglicht. Aus diesem Grund qualifiziert der EuGH das Pflegekarenzgeld in Anlehnung an ältere Entscheidungen (EuGH 5.3.1998, C-160/96, Molenaar; EuGH 25.7.2018, C-679/16, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person]) als Leistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 und zudem als Geldleistung iSd VO 883/2004.
Auf dieser Grundlage kam der EuGH dann zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzung des Bezugs eines österreichischen Pflegegeldes ab der Stufe 3 eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft darstellt. Sowohl Art 4 VO 883/2004 als auch Art 7 Abs 2 VO 492/2011 kommen im vorliegenden Fall zur Anwendung und sind grundsätzlich in gleicher Weise sowie im Einklang mit dem primärrechtlich verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung in Art 45 AEUV auszulegen. Österreichisches Pflegegeld steht nur dann zu, wenn eine österreichische Zuständigkeit für Pflegeleistungen, dh Leistungen bei Krankheit, besteht (vgl § 3a Abs 1 BPGG). Die Zuständigkeit wird sich bei pflegebedürftigen Personen, die in aller Regel nicht erwerbstätig sind, meist nach dem Wohnort, dh Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (Art 1 lit j VO 883/2004), bestimmen, weshalb der EuGH eine direkte Verbindung zwischen dem Anspruch auf österreichisches Pflegegeld und dem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich als erwiesen ansieht. Der EuGH schlussfolgert, dass somit Wander-AN stärker von dieser Voraussetzung beeinträchtigt sind als österreichische Staatsbürger:innen, deren Familie in der Regel ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben. Die somit vorliegende mittelbare Diskriminierung ist nur dann zulässig, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist, dh wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Der EuGH überlässt die Prüfung eines legitimen Ziels und der Verhältnismäßigkeit dem nationalen Gericht, verweist jedoch auf seine Entscheidung zur Indexierung der Familienbeihilfe, in der er die Rechtfertigung durch das Ziel der Ausgewogenheit des Sozialsystems verneint hat (EuGH 16.6.2022, C-328/20, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen]). Ohne Rechtfertigung ist die diskriminierende Regelung unionsrechtswidrig und hat unangewendet zu bleiben.
Unabhängig davon stellt der EuGH fest, dass aufgrund der Sachverhaltsgleichstellung in Art 5 VO 883/2004 der Bezug von Pflegegeld ab der Stufe 3 auch dann als erfüllt gilt, wenn das Pflegegeld nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats bezogen wird. Es ist somit – selbst wenn die mittelbare Diskriminierung gerechtfertigt sein sollte – in Zukunft zu prüfen, ob der pflegebedürftige Angehörige in seinem Wohnstaat eine Leistung bezieht, die dem österreichischen Pflegegeld der Stufe 3 entspricht. Dieses ist dann dem österreichischen Pflegegeld gleichzuhalten und gilt die entsprechende Voraussetzung in § 14c Abs 1 AVRAG demnach als erfüllt.