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Kollektivvertragsfähigkeit des Lycée Français: daher keine Anwendbarkeit eines Mindestlohntarifs

MARTINACHLESTIL

Die Kl war von 1.11.1978 bis 31.8.2017 bei der Bekl als Angestellte im Bereich der Verwaltung beschäftigt. Bei der Bekl handelt es sich um eine französische Auslandsschule, das Lycée Franςais in Wien (Lycée Français de Vienne; kurz: LFV). Diese ist eine von etwa 500 französischen Einrichtungen im Ausland, die das Schulnetz der Agentur für französische Bildung im Ausland (Agence pour l‘enseignement français à l‘étranger; kurz: AEFE) bilden. Die Bekl untersteht der direkten Verwaltung der französischen Behörden. Die Vorgaben für die Unterrichts- und Lehrpläne kommen aus dem 10Bildungsministerium in Frankreich. Die Finanzierung der Schule erfolgt etwa je zur Hälfte durch Schulgelder und die AEFE. Die Lehrer werden zum größten Teil vom französischen Staat bezahlt. Die Staatszugehörigkeit der SchülerInnen setzt sich aus 40 % österreichischen, 40 % französischen und 20 % SchülerInnen aus anderen Ländern zusammen.

Bei der Bekl gibt es drei verschiedene Kategorien von MitarbeiterInnen: „Expatmitarbeiter“, bei welchen sämtliche arbeitsrechtliche Belange von Paris aus gesteuert werden, ortsansässige MitarbeiterInnen, welche für eine Dauer von drei Jahren von der Verwaltungsbehörde zur Verfügung gestellt werden, und das sogenannte „lokale Personal“ – dazu gehört die Kl – auf das das lokale Arbeitsrecht anwendbar ist. Die Gehaltsschemata, die seit 2004 in Abstimmung mit dem BR festgelegt werden, richten sich nach der Funktion der Beschäftigten. Die Kl befindet sich seit 10 Jahren in der letzten Gehaltsstufe 11.

Die Kl begehrt von der Bekl € 39.606,96 brutto sA an Entgeltdifferenz für den Zeitraum von 1.7.2014 bis 31.8.2017. Auf ihr Arbeitsverhältnis sei der Mindestlohntarif für in privaten Bildungseinrichtungen beschäftigte AN (kurz: MLT) – mit Einstufung in die Beschäftigungsgruppe 5 – anzuwenden gewesen. Die Bekl wandte ein, dass das Arbeitsverhältnis der Kl nicht vom persönlichen und fachlichen Geltungsbereich des MLT umfasst sei, weil sie als juristische Person des öffentlichen Rechts kollektivvertragsfähig und zudem keine private Bildungseinrichtung sei.

Das Erstgericht wies die Kl ab. Das Berufungsgericht folgte hingegen der Rechtsansicht der Kl und ging von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des MLT aus. Der OGH kam wiederum zum gegenteiligen Ergebnis:

Gem § 22 Abs 3 Z 1 ArbVG darf ein Mindestlohntarif nur für Gruppen von AN festgesetzt werden, für die ein KollV nicht abgeschlossen werden kann, weil kollektivvertragsfähige Körperschaften auf AG-Seite nicht bestehen. Dementsprechend werden vom persönlichen Geltungsbereich des gegenständlichen MLT auf Seiten der AG nur jene umfasst, die weder selbst kollektivvertragsfähig noch Mitglied einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft sind (§ 1 Z 2 lit a MLT).

Juristische Personen öffentlichen Rechts, die den Vorschriften des 1. Hauptstücks des I. Teils des ArbVG unterliegen, sind für die bei ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisse grundsätzlich auch selbst kollektivvertragsfähig (§ 7 ArbVG). Der Kreis der dem I. Teil unterfallenden AG wird indirekt durch die Umschreibung des Kreises der von seinen Bestimmungen erfassten Arbeitsverhältnisse in § 1 ArbVG abgegrenzt. Daraus folgt, dass öffentlich-rechtliche Körperschaften einschließlich der Gebietskörperschaften, öffentlich-rechtliche Fonds mit Rechtspersönlichkeit und öffentlich-rechtliche Anstalten mit Rechtspersönlichkeit für die Kollektivvertragsfähigkeit gem § 7 ArbVG in Frage kommen.

Juristische Personen öffentlichen Rechts sind durch einen öffentlichen Rechtsakt (insb durch ein Gesetz) eingerichtet und (vielfach) mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie sind Träger von Rechten und Pflichten und erfüllen Aufgaben, die im öffentlichen Interesse gelegen sind.

Die Bekl ist keine natürliche Person, sondern ein Gebilde, dem aufgrund des Kulturübereinkommens zwischen der Republik Österreich und der Französischen Republik (BGBl 1947/220) iVm dem staatsvertraglichen Übereinkommen zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Französischen Republik betreffend die Verfassung des LFV (BGBl 1983/44) volle Rechtspersönlichkeit mit allen ihren rechtlichen Folgen zuerkannt wurde. Das LFV wurde daher auf besonderer gesetzlicher Grundlage durch einen Hoheitsakt errichtet und trägt als französische Auslandsschule auch zur Verwirklichung der in § 2 Schulorganisationsgesetz (SchOG) genannten – im öffentlichen Interesse gelegenen – Aufgaben (zur Schulbildung) bei.

Zur Frage, ob es sich dabei nun um eine öffentlich-rechtliche Anstalt mit Rechtspersönlichkeit handelt, die als juristische Person öffentlichen Rechts anzusehen ist, hat der Senat erwogen: Das LFV ist zwar weder eine öffentliche Schule noch eine Privatschule, entspricht aber zweifellos dem durch die Judikatur und Lehre entwickelten Anstaltsbegriff: Es ist eine aus einem persönlichen und sachlichen Apparat bestehende, auf Dauer angelegte Einrichtung, in der Schüler gemeinsam nach einem umfassenden, festen Lehrplan unterrichtet werden und im Zusammenhang mit der Vermittlung von allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten ein umfassendes erzieherisches Ziel angestrebt wird. Die Benutzung dieser Einrichtung ist auch nicht von vornherein auf einen bestimmten SchülerInnenkreis beschränkt.

Zusammengefasst ist nach dem OGH das LFV eine Ausbildungsstätte der Französischen Republik im Ausland, die im nationalen öffentlichen Interesse gelegen ist und die volle Rechtspersönlichkeit besitzt. Als selbständige Anstalt des öffentlichen Rechts ist das LFV damit eine juristische Person, die den Vorschriften des 1. Hauptstücks des I. Teils des ArbVG unterliegt und für die bei ihr bestehenden Arbeitsverhältnisse selbst kollektivvertragsfähig ist. Damit ist der MLT auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht anzuwenden.

Der Revision der Bekl war daher Folge zu geben. 11