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Konkrete Feststellungen zum Zeitaufwand bei der Verabreichung der Insulinspritzen und Medikamenteneinnahme zur Beurteilung des Pflegebedarfs notwendig

ANDREATUMBERGER

Der Kl bezog seit dem 1.7.2012 Pflegegeld der Stufe 4. Mit Bescheid vom 19.4.2016 setzte die Bekl das Pflegegeld ab 1.6.2016 auf Stufe 1 herab. Mit seiner Klage begehrt der Kl die Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes.

Das Erstgericht sprach dem Kl Pflegegeld der Stufe 2 zu. Im Umfang dieses Zuspruchs erwuchs seine Entscheidung unangefochten in Rechtskraft. Das Mehrbegehren, die Bekl sei schuldig, dem Kl ein höheres Pflegegeld als jenes der Stufe 2 ab 1.6.2016 zu gewähren, wies das Erstgericht hingegen ab. Es stellte lediglich einen Pflegebedarf von 112 Stunden fest, worin auch fünf Stunden für das Verabreichen von Insulin und drei Stunden für die Medikamenteneinnahme enthalten sind.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge.

Für die im Zusammenhang mit der Verabreichung einer Insulinspritze vorzunehmenden Handreichungen kam das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, es sei ein Zeitwert von fünf Minuten – für eine Insulinspritze ohne Blutzuckermessung von drei Minuten – angemessen. Die heute übliche Verabreichung mit Pens, die die Insulinpatronen beinhalten, wobei mittels Knopfdrucks die erforderliche Dosis eingestellt, abgelesen und auch korrigiert werden könne, gestalte sich gegenüber der früher üblichen Insulinspritze wesentlich weniger zeitaufwändig, sodass nicht mehr von dem in der OGH-E 10 ObS 128/94, SSV-NF 8/58, genannten Zeitwert von zehn Minuten pro Insulinspritze ausgegangen werden könne. Im Zusammenhang mit der Verabreichung von Medikamenten sei der zeitliche Aufwand der Betreuung festgestellt worden.

Dagegen erhob der Kl Revision, die auch vom OGH als berechtigt zugelassen wurde.

Der Revisionswerber strebt die Berücksichtigung eines weiteren Pflegebedarfs an, weil seines Erachtens Motivationsgespräche erforderlich seien, er als Rollstuhlfahrer mindestens in die Stufe 3 einzustufen sei und für die Medikamenteneinnahme und die Verabreichung von Insulin ein deutlich höherer Zeitwert als der Richtwert zu berücksichtigen sei.

Laut OGH kommt diesen Ausführungen nur zum Teil Berechtigung zu. So sei das Motivationsgespräch als eine übergreifende Betreuungsmaßnahme zu verstehen und bei der Ermittlung des Pflegebedarfs lediglich einmal für alle in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten notwendigen Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Nach den Feststellungen besteht beim Kl Hilfsbedarf ausschließlich aufgrund der oben wiedergegebenen körperlichen Leiden. Weder steht eine geistige oder psychische Behinderung des Kl fest, noch, dass mit ihm Motivationsgespräche geführt werden müssten. Der Aufwand für die Motivationsgespräche wurde daher nach Ansicht zu Recht nicht berücksichtigt.

Auch das Argument des Kl, er sei Rollstuhlfahrer und habe deshalb Anspruch auf Pflegestufe 3, hielt der OGH für nicht begründet. Denn wie im erstgerichtlichen Verfahren festgestellt wurde, ist der Kl zur eigenständigen Lebensführung nicht auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen. Er ist demnach also gerade kein Rollstuhlfahrer iSd § 4a Abs 1 BPGG.

Zum Pflegebedarf im Zusammenhang mit der Verabreichung von Insulin, der Blutzuckermessung und der Einnahme der Medikamente meint der OGH, dass die Feststellungen im erstgerichtlichen Verfahren nicht ausreichen, weil die in § 1 Abs 3 BPGG genannten Richtwerte als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen und in Fällen, in denen ein spezifischer Betreuungsaufwand anfällt, der sich vom üblichen unterscheidet, auch unter- oder überschritten werden können.

Abweichungen von diesen Zeitwerten sind aber nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet. Ein wesentliches und somit auch erhebliches Abweichen des zeitlichen Betreuungsbedarfs vom Richtwert liegt nur dann vor, wenn der tatsächliche Pflegebedarf um annähernd die Hälfte vom Pauschalwert abweicht; eine solche Abweichung bedarf einer besonderen Begründung. Dabei ist auf den im konkreten Fall notwendigen Aufwand abzustellen; erst wenn dieser Aufwand feststeht, kann beurteilt werden, ob ein Abweichen vom Richtwert gerechtfertigt ist oder nicht.

Somit fehlen aber nach Ansicht des OGH ausreichende Feststellungen dazu, welcher zeitliche Aufwand im Zusammenhang mit der Verabreichung der drei Insulinspritzen samt Blutzuckermessung täglich tatsächlich notwendig ist.40

Der Revision war daher Folge zu geben, das Verfahren zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuweisen, damit dieses ausreichende Feststellungen zum tatsächlichen Betreuungsaufwand bei der Einnahme der Medikamente und der Verabreichung der drei Insulinspritzen trifft.