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Verletzung der Informations- und Anhörungsrechte bewirkt Nichtigkeit der Entscheidung eines Organs der EU

WALTERGAGAWCZUK
§ Art 27 Grundrechtecharta (Recht auf Unterrichtung und Anhörung); RL 2002/14 (Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der AN)
EuGH 13.12.2016, T-713/14, IPSO/EZB, ECLI:EU:T: 2016:727
SACHVERHALT UND KLAGE

Kl ist eine Gewerkschaft, die die Interessen der Personen vertritt, die bei den europäischen und internationalen Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind oder für diese arbeiten. Bekl ist die Europäische Zentralbank (EZB).

Im Juli 2008 haben die Kl und die EZB eine Rahmenvereinbarung über die Unterrichtung, frühzeitige Intervention und Anhörung in Bezug auf Maßnahmen getroffen, die Auswirkungen auf die Lage oder die Interessen der Beschäftigten der EZB beinhalten. In weiterer Folge wurde im Jänner 2014 zwischen den Streitteilen in teilweiser Erweiterung des bestehenden Rahmenabkommens vereinbart, eine Arbeitsgruppe zur Situation der Leih-AN einzurichten. In den nächsten Monaten fanden auch entsprechende Zusammenkünfte statt. Bevor diese Arbeitsgruppe einen Bericht erstatten konnte, hat das Direktorium der EZB im Mai 2014 den Beschluss gefasst, Leiharbeitskräfte in den Bereichen Verwaltungs- und Sekretariatsaufgaben zeitlich derart zu begrenzen, dass eine „Aushilfskraft“ maximal zwei Jahre zum Einsatz kommen soll. Von dieser Entscheidung wurden die Vertreter der Kl im Rahmen einer Sitzung der o.a. Arbeitsgruppe Anfang Juni 2014 in Kenntnis gesetzt.

Die Klage richtet sich gegen die Entscheidung der EZB. Es wird geltend gemacht, dass die Informations- und Konsultationsrechte des Rahmenabkommens verletzt wurden. Die EZB wandte ua ein, dass es sich bei der strittigen Maßnahme nur um eine interne Richtlinie handelt, diese somit keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugt und die Entscheidung in Hinblick auf die Änderung der deutschen Rechtslage getroffen wurde.*

ENTSCHEIDUNG

Der Gerichtshof der Europäischen Union entschied iSd Kl und stellte fest, dass die EZB durch die gegenständliche Handlung die Rechte der Kl auf Information und Anhörung nicht respektiert hat. Dies unter Missachtung von Art 27 der Grundrechtecharta,* wie sie in der RL 2002/14* präzisiert, in der Rahmenvereinbarung vom Juli 2008 umgesetzt und in der Arbeitsgruppe zur Situation der Leih-AN erweitert wurde. Die Entscheidung des Direktoriums der EZB vom Mai 2014, den Einsatz von Leiharbeitskräften auf zwei Jahre zu begrenzen, wird für nichtig erklärt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„84 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 27 der Charta der Grundrechte das Recht auf Anhörung und Unterrichtung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen verankert. Nach der Rechtsprechung können diese Bestimmungen in den Beziehungen zwischen den Unionsorganen und ihrem Personal anwendbar sein. [...]

85 Nach dem Wortlaut von Art. 27 der Charta der Grundrechte selbst ist jedoch die Ausübung der in ihm verankerten Rechte auf die Fälle und die Voraussetzungen beschränkt, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind. […]

86 Daraus folgt, dass Art. 27 der Charta der Grundrechte, der keine unmittelbar anwendbare Rechtsnorm vorsieht, nicht schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht auf Anhörung und Unterrichtung verleiht, das als solches geltend gemacht werden kann. […]

89 Daher ist zu klären, ob sich die Klägerin im vorliegenden Fall auf die von ihr aus Art. 27 der Charta der Grundrechte, wie er durch die Richtlinie 2002/14 konkretisiert wird, abgeleiteten Rechte berufen könnte. […]

92 Vorab ist zu prüfen, ob die Richtlinie 2002/14 die Rechte auf Anhörung und Unterrichtung zugunsten der Leiharbeitnehmer und ihrer Vertreter vorsieht, wie die Klägerin meint. […]

97 Erstens besteht nämlich nach ständiger Rechtsprechung das wesentliche Merkmal eines ‚Ar-356beitsverhältnisses‘ darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung, insbesondere was ihre Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit angeht, Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Diese Einstufung ist bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen unionsrechtlich allgemein anerkannt, unabhängig davon, ob der Betroffene einen Arbeitsvertrag geschlossen hat oder nicht. […]

98 Im vorliegenden Fall erfüllt das Verhältnis zwischen der EZB und den Leiharbeitnehmern alle diese Voraussetzungen, da die Leiharbeitnehmer ihrer Berufstätigkeit für die EZB und nach deren Weisungen nachgehen, der sie regelmäßig von einem Leiharbeitsunternehmen überlassen werden, das ihnen dafür als Gegenleistung eine Vergütung zahlt. […]

101 Zweitens sieht der Begriff ‚Arbeitgeber‘ nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2002/14, wie die Klägerin geltend macht, nicht vor, dass nur durch einen direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag geregelte Arbeitsverhältnisse in seinen Anwendungsbereich fallen, anders als u. a. die Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999, L 175, S. 43), die daher nicht für Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen gilt, die einem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. […]

103 Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Richtlinie 2002/14 entgegen dem Vorbringen der EZB anwendbar ist, was die Verpflichtungen eines entleihenden Unternehmens betreffend die Unterrichtung und Anhörung der Vertreter der Leiharbeitnehmer angeht. […]

145 Um jedoch die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung nach Art. 27 der Charta der Grundrechte, wie es durch die Richtlinie 2002/14 genauer bestimmt wird und durch die Rahmenvereinbarung, die durch die Schaffung der Arbeitsgruppe auf die Fragen der Leiharbeitnehmer ausgedehnt wurde, umgesetzt wird, sicherzustellen, hätte die EZB der Klägerin vor dem Erlass des angefochtenen Rechtsakts Zugang zu jeder diesen betreffenden maßgeblichen Information gewähren müssen, um ihr zu erlauben, eine angemessene Antwort auf die Änderung der Politik des Organs gegenüber den Leiharbeitnehmern, die dieser Rechtsakt enthält, vorzubereiten und eine etwaige Abstimmung zu diesem Thema zu organisieren, oder zumindest der Klägerin die Gelegenheit geben müssen, ihre Meinung im Rahmen des Berichts der Arbeitsgruppe darzulegen und so am Erlass der Entscheidung mitzuwirken, die Folgen für die Personen haben konnte, deren Interessen sie vertritt.

146 Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass, wie die Klägerin darlegt und sich aus dem Ziel der Rahmenvereinbarung nach ihrem Punkt 2 Buchst. b ergibt […], das Recht auf Anhörung und Unterrichtung der klagenden Gewerkschaftsorganisation nicht auf eine Einigung der Sozialpartner über ein Thema, für das diese Verfahrensgarantien gelten, gerichtet ist, sondern nur darauf, der Gewerkschaftsorganisation eine Gelegenheit zu bieten, eine Entscheidung zu beeinflussen. Nach der Rechtsprechung handelt es sich um eine der schwächsten Formen der Mitwirkung an einer Entscheidung, da sie keinesfalls die Verpflichtung der Verwaltung einschließt, der abgegebenen Stellungnahme Folge zu leisten, sondern den Betroffenen durch Einschaltung eines Vertreters ihrer Interessen die Möglichkeit bieten soll, sich vor Erlass oder Änderung sie betreffender Maßnahmen mit allgemeiner Geltung Gehör zu verschaffen […], und zwar insbesondere, indem sie während des gesamten Prozesses des Erlasses solcher Rechtsakte Zugang zu jeder relevanten Information haben, da der Zweck darin besteht, einer Gewerkschaftsorganisation wie der Klägerin eine möglichst weitgehende und effektive Beteiligung am Anhörungsprozess zu erlauben. […]

147 Daher muss die Verwaltung, um nicht die Anhörungspflicht ihrer praktischen Wirksamkeit gänzlich zu berauben, dieser Pflicht in allen Fällen nachkommen, in denen die Anhörung der Arbeitnehmervertreter den Inhalt der zu treffenden Maßnahme beeinflussen könnte. […]“

ANMERKUNG

Ausgangspunkt der Entscheidung ist das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Art 27 der EU-Grundrechtecharta (EGC). Dieses Grundrecht verleiht für sich allein dem Einzelnen noch kein subjektives Recht. Die RL 2002/14 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens über die Unterrichtung und Anhörung konkretisiert jedoch Art 27 GRC und die Rahmenvereinbarung zwischen den Parteien des Verfahrens vom Juli 2008 stellt – so die Folgerungen des Gerichtshofs – eine Umsetzung der RL 2002/14 dar. Mit der Rahmenvereinbarung ist die EZB eine Verpflichtung eingegangen und ist daher an diese gebunden.*

Bemerkenswert ist die relativ ausführliche Entscheidung unter mehreren Gesichtspunkten. Zum einem wird klargestellt, dass eine Entscheidung eines Organs der EU Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV sein kann, wenn es sich nicht darauf beschränkt, eine unverbindliche Leitlinie vorzugeben, sondern Vorschriften mit allgemeiner Geltung erlassen werden. Die gegenständliche Entscheidung des Direktoriums wurde als eine derartige Vorschrift357mit allgemeiner Geltung beurteilt.* Zum anderen ordnet der Gerichtshof die Annullierung bzw Nichtigkeit der Entscheidung über die zeitliche Begrenzung des Einsatzes von Leiharbeitskräften an, da diese unter Verstoß der Informations- und Anhörungsrechte getroffen wurde.

Weiters stellte der EuGH fest, dass den Informationsrechten entsprochen wird, wenn die Betroffenen mittels eines Vertreters ihrer Interessen vor dem Erlass eines Rechtsakts Zugang zu jeder diesen betreffenden maßgeblichen Information haben, um ihr zu erlauben, eine angemessene Antwort auf eine Änderung dieses Rechtsaktes vorzubereiten und eine etwaige Abstimmung zu diesem Thema zu organisieren, oder zumindest die Gelegenheit haben müssen, ihre Meinung entsprechend darzulegen und so am Erlass der Entscheidung mitzuwirken. Es muss die Möglichkeit bestehen, sich vor Erlass oder Änderung einer Maßnahme Gehör zu verschaffen, indem während des gesamten Prozesses des Erlasses solcher Rechtsakte Zugang zu jeder relevanten Information gegeben ist, da der Zweck darin besteht, eine möglichst weitgehende und effektive Beteiligung am Anhörungsprozess zu erlauben. Bei den Anhörungsrechten geht es um den Zugang zu allen entsprechenden Möglichkeiten angehört zu werden, bevor die betreffende Handlung erlassen oder verändert wird. Ziel ist es, dass der Vertreter an dem Konsultationsprozess so vollständig und effektiv wie möglich teilnehmen kann.

Da sich diese Interpretationen von Informations- und Anhörungsrechten auf die RL 2002/14 stützen, haben sie auch für die entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschriften dieser Richtlinie Bedeutung. In Österreich wären dies insb die Informations- und Anhörungsrechte gem den §§ 108 Abs 1 und 2a und 109 ArbVG. Mittelbar hat die Entscheidung auch für die einschlägigen Bestimmungen der Europäischen Betriebsverfassung Relevanz.*

Ob die vom Gerichtshof hier gezogene Konsequenz, nämlich eine Nichtigerklärung der Entscheidung, auf andere Fälle übertragbar ist, ist mit Unsicherheit behaftet. Der Gerichtshof ist nämlich bei Streitigkeiten gegen Organe der Union nach Art 263 AEUV bei einer Stattgebung der Klage auf die Möglichkeit der Nichtigerklärung der gegenständlichen Rechtshandlung beschränkt. Allfällige andere Folgen bzw Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Informations- und Anhörungsrechte müssten aber gemäß der RL 2002/14 jedenfalls „wirksam, angemessen und abschreckend“ sein.* Ob die einschlägigen österreichischen Vorschriften* diese Voraussetzungen erfüllen, ist zweifelhaft.* Die drohende Nichtigkeit einer Unternehmensentscheidung wäre vor diesem Hintergrund eine Rechtsfolge, die die Wirksamkeit der Informations- und Anhörungsrechte wesentlich erhöhen würde.