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Verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen bei verspäteter Antragstellung auf Waisenpension

MONIKAWEISSENSTEINER

Dem vorliegenden Verfahren beim VfGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 1970 geborene Antragsteller leidet seit einer Meningitiserkrankung im Jahr 1978 ua an akustischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Er ist infolgedessen erwerbsunfähig. Am 6.9.2014 verstarb sein Vater. Im Zuge eines Schlichtungsverfahrens im Zusammenhang mit einem Kreditvertrag entstanden Zweifel an der uneingeschränkten Geschäftsfähigkeit und es wurde ein Sachwalterschaftsverfahren eingeleitet. Der bestellte Sachwalter stellte am 11.3.2016 bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Anträge auf Gewährung einer Waisenpension und einer Ausgleichszulage ab dem 7.9.2014. Die PVA gewährte beide Leistungen ab dem 11.3.2016. Mit Urteil vom 5.4.2017 wies das Landesgericht Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht die dagegen eingebrachten Klagen auf Gewährung auch für den Zeitraum vom 7.9.2014 bis 10.3.2016 ab. Der Gesetzgeber habe keine Regelung dafür getroffen, dass einem erwachsenen Antragsteller, der zufolge Geschäftsunfähigkeit zur Antragstellung erst verspätet in der Lage sei, die Waisenpension rückwirkend gewährt werden könne. Die Bestimmung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG (Antragstellung sechs Monate nach Erreichen der Volljährigkeit und rückwirkende Leistungsgewährung) könne nicht analog angewendet werden.

Gleichzeitig mit der Berufung gegen das Urteil wurde ein Parteiantrag (mit einem Haupt- und zwei Eventualanträgen) gem Art 140 Abs 1 Z 1 lit d Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) eingebracht. Im zulässigen Eventualantrag wird vorgebracht, dass der Gesetzgeber die Ausnahmen von dem grundsätzlich mit dem Eintritt des Versicherungsfalles festgesetzten Beginn des Laufes der sechsmonatigen Antragsfrist zu wenig weit gezogen habe, weil er geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen habe.

Der VfGH hält diesen Antrag auch für begründet. Der VfGH stellt § 86 Abs 3 ASVG mitsamt den dazu ergangenen Novellen dar und weist darauf hin, dass der geltende Minderjährigenschutz mit dem Sozialrechts- Änderungsgesetz (SRÄG) 1993, BGBl 1993/335, dahingehend erweitert wurde, dass – für den Fall der Säumigkeit des gesetzlichen Vertreters – die Antragsfrist von sechs Monaten für eine rückwirkende Zuerkennung der Waisenpension erst mit der Erlangung der Volljährigkeit zu laufen beginnt. Für Personen, die aus Gründen einer geistigen Erkrankung oder Behinderung nicht in der Lage sind, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, sieht das Gesetz hingegen keine Sonderregelung vor. Gründe dafür sind den Materialien nicht zu entnehmen. Der VfGH führt weiters aus, dass im Zivilrecht hingegen Minderjährige und Personen, die aus einem anderen Grund als dem ihrer Minderjährigkeit alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten selbst gehörig zu besorgen nicht vermögen, unter dem besonderen Schutz der Gesetze stehen (programmatisch § 21 ABGB, zur Gleichbehandlung in Bezug auf die Geschäftsfähigkeit § 865 ABGB). Dieser Schutz ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften zum Teil unterschiedlich gestaltet. Im Zusammenhang mit dem Lauf von Fristen sind Minderjährige und Personen „die den Gebrauch der Vernunft nicht haben“ aber insofern gleichgestellt, als gegen sie – sofern sie über keinen gesetzlichen Vertreter verfügen – eine Verjährungsfrist nicht beginnen bzw eine begonnene Verjährungsfrist nicht früher als binnen zwei Jahren ablaufen kann (§ 1494 ABGB).

Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes ist auch mit Blick auf die Regelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG ein auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung nicht Postulations- oder Geschäftsfähiger einer minderjährigen Person gleichzuhalten, soweit in dieser Bestimmung für die rückwirkende Gewährung von Waisenpensionen eine sechsmonatige Antragsfrist vorgesehen ist. Denn eine auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- und prozessunfähige Person befindet sich mit einem Minderjährigen in einer rechtlich vergleichbaren Lage. Hinzu kommt, dass gerade bei Waisenpensionen in besonderem Maße mit Anspruchsberechtigten aus dem Personenkreis geistig oder psychisch behinderter Personen gerechnet werden muss, da die Gewährung einer Waisenpension an Erwachsene voraussetzt, dass die betreffende Person seit der Vollendung des 18. Lebensjahres bzw seit dem Ablauf einer sich daran anschließenden Schul- oder Berufsausbildung spätestens seit dem 27. Lebensjahr „infolge Krankheit oder Gebrechens“ erwerbsunfähig ist (§ 252 Abs 2 Z 3 iVm § 260 ASVG). Es ist daher nicht untypisch, wenn die Ursache einer derartigen, schon im jugendlichen Alter eintretenden, die Erwerbsunfähigkeit begründenden Erkrankung in einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung liegt.

Im Hinblick darauf vermag der VfGH keinen sachlichen Grund dafür zu erkennen, wenn der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für mündige Minderjährige vorsieht, hingegen keinen vergleichbaren Schutz für den genannten Personenkreis, obgleich diese Personen auf diese Pensionsleistungen als Einkommensersatzleistung für den verlorenen Elternunterhalt typischerweise besonders angewiesen sind.108

Der VfGH hebt daher in § 86 Abs 3 Z 1 ASVG die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt der Volljährigkeit gestellt wird“ sowie den zweiten bis sechsten Satz dieser Bestimmung als verfassungswidrig auf. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30.6.2018 in Kraft.

ANMERKUNG DER BEARBEITERIN:
Ohne Tätigwerden des Gesetzgebers bedeutet diese Aufhebung im Ergebnis, dass ab diesem Zeitpunkt alle Hinterbliebenenpensionen unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag anfallen.