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Antrag des OGH an den VfGH, § 2 Abs 6 erster Satz KBGG idF BGBl I 2009/116 als verfassungswidrig aufzuheben

MARTINATHOMASBERGER

Der OGH zweifelt aus folgenden Gründen an der sachlichen Rechtfertigung des § 2 Abs 6 KBGG, der seit 2010 die gemeinsame hauptwohnsitzliche Meldung des Elternteils, der das Kinderbetreuungsgeld bezieht, mit dem Kind, für das es bezogen wird, an derselben Adresse als kumulierte Anspruchsvoraussetzung normiert: Die Bestimmung gewährleiste nicht in allen Fällen die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für das Kinderbetreuungsgeld und hat mitunter sehr schwere nachteilige Rechtsfolgen für den beziehenden Elternteil, obwohl er tatsächlich mit dem Kind gemeinsamen Haushalt lebt.

SACHVERHALT

Die Kl und ihr Ehemann verlegten den gemeinsamen Haushalt an eine neue Adresse, wo sie mit den beiden gemeinsamen Kindern lebten, und meldeten dort den gemeinsamen Hauptwohnsitz. Die Kl bezog für ihr jüngeres Kind die Familienbeihilfe und das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld auch nach dem Umzug und der Verlegung ihres Hauptwohnsitzes. Aufgrund familiärer Probleme vergaß die Kl aber, auch ihr jüngstes Kind an die neue Hauptwohnsitzadresse umzumelden und holte dies auf Anregung des Krankenversicherungsträgers erst zum Ende des Bezugszeitraums nach.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die zuständige Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA) wies mit Bescheid den Anspruch auf das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum ab der Verlegung des Hauptwohnsitzes durch die Kl ab und forderte mit einem zweiten Bescheid das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld in Höhe von € 10.296,- ab dem Zeitpunkt der Verlegung des Hauptwohnsitzes zurück. Die Kl bekämpfte beide Bescheide mit gesondert eingebrachten Klagen.

Das Erstgericht sprach mit Urteil aus, dass keine Verpflichtung zum Rückersatz des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und sprach in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils aus, dass das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für den strittigen Zeitraum widerrufen wird und dass die Kl schuldig sei, das Kinderbetreuungsgeld im genannten Ausmaß zurückzuzahlen. Da im strittigen Zeitraum keine gemeinsame hauptwohnsitzliche Meldung der Kl mit ihrem Kind vorgelegen habe, sei die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 6 KBGG nicht erfüllt gewesen und es sei daher die bereits ausgezahlte Leistung zurückzufordern.

Die Kl erhob außerordentliche Revision an den OGH, die dieser als zulässig beurteilte, weil er unter dem Aspekt des aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Sachlichkeitsgebots Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs 6 erster Satz KBGG in der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung BGBl I 2009/116 hat.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. Eine Voraussetzung des Anspruchs eines Elternteils auf Kinderbetreuungsgeld ist, dass der Elternteil mit diesem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt (§ 2 Abs 1 Z 2 KBGG idF BGBl I 2005/100). Diese Anspruchsvoraussetzung muss auch für den Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens erfüllt sein. […]

2.1. Der durch BGBl I 2009 eingefügte § 2 Abs 6 KBGG lautet:

(6) Ein gemeinsamer Haushalt im Sinne dieses Gesetzes liegt nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind auch an derselben Adresse hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Der gemeinsame Haushalt gilt bei mehr als dreimonatiger229 tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer der Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes jedenfalls als aufgelöst.

§ 2 Abs 6 KBGG ist auch auf das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens anzuwenden (§ 24d Abs 1 KBGG). […]

3.1. Während eine idente Hauptwohnsitzmeldung vom Elternteil, der die Leistung beantragt und bezieht, und Kind vor der KBGG-Novelle BGBl I 2009/116 lediglich ein Indiz für das Vorliegen eines gemeinsamen Haushalts bildete, muss das der geltenden Rechtslage kumulativ zum gemeinsamen Haushalt eine ‚hauptwohnsitzliche Meldung‘ am Ort des gemeinsamen Haushalts vorliegen, damit die Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts von Elternteil und Kind erfüllt ist.

3.2.1. Nach § 31 Abs 1 erster Fall KBGG besteht die Verpflichtung zum Ersatz der empfangenen Leistung auch dann, wenn rückwirkend eine Tatsache festgestellt wurde, bei deren Vorliegen kein Anspruch besteht. […] Dieser Rückforderungstatbestand normiert nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine objektive Rückzahlungsverpflichtung […] (10 ObS 106/13f, SSV-NF 27/63; 10 ObS 91/11x, SSV-NF 25/102; 10 ObS 54/10d).

3.2.2. Dementsprechend ordnet § 30 Abs 2 KBGG an, dass die Zuerkennung zu widerrufen ist […], wenn sich die Zuerkennung […] nachträglich als gesetzlich nicht begründet herausstellt (10 ObS 91/11, SSV-NF 25/104).

3.2.3. Der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 erster Fall KBGG bezieht sich […] auch auf (Umstände), die erst nach der Gewährung des Anspruchs entstehen und den Sozialversicherungsträger zu einem Widerruf oder einer rückwirkenden Berichtigung berechtigen (10 ObS 157/14g).

4. Nach der geltenden Rechtslage ist die Klägerin verpflichtet, das von ihr während des Zeitraums, in dem sie mit ihrem Sohn zwar tatsächlich im gemeinsamen Haushalt lebte, aber an dessen Adresse nur sie, nicht jedoch das Kind hauptwohnsitzlich gemeldet waren, bezogene Kinderbetreuungsgeld zurückzuzahlen, weil sie in diesem Zeitraum die Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1 Z 2 und Abs 6 KBGG nicht erfüllte. Ob sie die Ummeldung ihres Sohnes schuldhaft unterlassen hat, ist für den (verschuldensunabhängigen) Rückforderungstatbestand nicht erheblich.

5.1. Anlass, an der Sachlichkeit des § 2 Abs 6 KBGG erster Satz zu zweifeln, besteht aus folgenden Gründen: […]

5.5. Die Normierung der übereinstimmenden Hauptwohnsitzmeldungen in § 2 Abs 6 KBGG wirkt in Verbindung mit § 31 Abs 1 erster Fall KBGG im Ergebnis als Sanktion für die Verletzung von Meldevorschriften selbst dann, wenn die Verletzung nicht schuldhaft erfolgte. Der einzelne beziehende Elternteil, der weiter mit dem Kind zusammenlebt, aber eine Hauptwohnsitzmeldung nur für sich oder nur für das Kind vornimmt, ist zur Rückzahlung von Kinderbetreuungsgeld […] verpflichtet, obwohl er mit dem Kind zusammenlebt und ihm die Regelung eine ‚unnötige Belastung‘ ersparen soll. Lebt der beziehende Elternteil nicht mehr mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt, stimmen ihre Hauptwohnsitzmeldungen aber noch überein, so genügt für die Feststellung des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzung nicht die einfache Abfrage im zentralen Melderegister. […] In der Konstellation der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts bei gleichzeitigen übereinstimmenden Hauptwohnsitzmeldungen […] wird es wohl in weit weniger Fällen zu einer Rückforderung der zu Unrecht bezogenen Leistung kommen.

5.6. […] Die vorstehenden Erwägungen lassen die nur partiell vereinfachend wirkende, die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung nach § 2 Abs 1 Z 2 KBGG nicht in allen Fällen gewährleistende und mitunter sehr schwere nachteilige Rechtsfolgen für den beziehenden Elternteil, obwohl er tatsächlich mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, in Kauf nehmende Bestimmung des § 2 Abs 6 erster Satz KBGG nicht als sachlich gerechtfertigt erscheinen. Es erscheint nämlich insb nicht einsichtig, warum in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem objektiv begründete Zweifel an der Richtigkeit der Hauptwohnsitzmeldung einer Person bestehen, im Rahmen des Vorbringens dazu nicht Ermittlungen staatfinden dürfen, um die Frage, ob der beziehende Elternteil mit dem Kind nach ihren tatsächlichen Lebensverhältnissen in einem gemeinsamen Haushalt lebt, objektiv klären zu können. […] Für die Beurteilung der Frage, ob ein gemeinsamer Haushalt besteht, (ist) das Bestehen einer Wirtschafts- und Wohngemeinschaft aufgrund der tatsächlichen Lebensverhältnisse zu prüfen. Eine idente Hauptwohnsitzmeldung […] ist zwar ein Indiz, aber kein Beweis für die Haushaltszugehörigkeit des Kindes. Schließlich ist, wie bereits ausgeführt, auch kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem – anderen Zielen dienenden – Kinderbetreuungsgeldbezug und der Effektuierung von Meldevorschriften erkennbar. […]“

ERLÄUTERUNG

Wie PraktikerInnen wissen, stellt die Bestimmung in § 2 Abs 6 erster Satz KBGG nicht nur keine Verwaltungsvereinfachung dar, sondern bewirkt im Gegenteil oft eine erhebliche Erschwernis für die Eltern. Sachverhalte wie der vorliegende zeigen das sehr deutlich.

Das KBGG enthält in § 31 Abs 2 einen Rückforderungstatbestand, der der Verwaltung einen230 sehr weiten Spielraum einräumt. BezieherInnen des Kinderbetreuungsgeldes haben dagegen weitreichende Melde- und Mitwirkungsverpflichtungen (vgl §§ 29 und 32 KBGG), deren Verletzung auch ohne ihr Verschulden den Rückforderungstatbestand auslöst. Für die behördliche Rückforderung reicht es aus, dass nachträglich eine Tatsache festgestellt wird, die den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes unzulässig gemacht hat. Der Gesetzgeber hat den Behörden außerdem in § 31 Abs 7 KBGG eine im Vergleich zu anderen Gesetzen extrem lange Frist für ihr Tätigwerden gegeben (Bescheidausstellung innerhalb von sieben Jahren ab Ablauf des Kalenderjahres, in dem der unrechtmäßige Bezug vorlag, Vollziehung des Bescheids innerhalb von drei weiteren Jahren, erst dann tritt der Verfall des Rückforderungsanspruchs ein). Hier liegt eine sehr weitreichende Waffenungleichheit zwischen den Behörden und den BezieherInnen des Kinderbetreuungsgeldes vor. Vor diesem Hintergrund wird klarer, wie der OGH zu seiner Auffassung gelangt ist, dass die Anspruchsvoraussetzung der gemeinsamen Hauptwohnsitzmeldung, die der Gesetzgeber 2009 ins KBGG eingefügt hat, zu unsachlichen und die LeistungsbezieherInnen übermäßig belastenden Ergebnissen führt. Darüber hinaus ist die Regelung auch nicht geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen – die gemeinsame Hauptwohnsitzmeldung stellt nicht mehr als ein Indiz für das tatsächliche Bestehen eines gemeinsamen Haushalts der Eltern mit dem Kind dar. Die objektive Klärung dieser Frage setzt in manchen Fällen Erhebungen der zuständigen Träger voraus, die nicht durch eine generalisierte Annahme ersetzt werden kann.