HSI SchriftenreiheGewerkschaftsrechte heute. Sammelband zur Tagung des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsund Sozialrecht am 23./24. Juni 2022

Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2024, 177 Seiten, kartoniert, € 24,–

RENÉ SCHINDLER (WIEN)

Ein Buch über Gewerkschaftsrechte, in diesen Tagen! In diesen Tagen, in denen zwar ein Durchbruch des scharfen Neoliberalismus in seiner autoritärrechtsradikalen Variante zumindest in Deutschland und Österreich knapp verhindert werden konnte, aber eine existentielle Bedrohung der Demokratie weiter besteht. Eine Atempause ist entstanden, die trotz deprimierender Wahlergebnisse auch ein Fünkchen Hoffnung lässt und zur Sicherung der Fähigkeit zum Widerstand genützt werden sollte: Der zweifellos beste Zeitpunkt, sich mit dem Thema zu befassen!

Das Hugo Sinzheimer Institut – von dessen Website der Tagungsband übrigens kostenlos heruntergeladen werden kann – hat sich aus Anlass seines 25-jährigen Bestehens mit der Lage der Gewerkschaftsrechte in Deutschland auseinandergesetzt. Das Buch behandelt daher deutsches Recht, hat aber auch für Österreich hohe Bedeutung: Denn das Institut tat das, in gewohnter und bewährter Weise dem Anliegen seines Namensgebers und dem eigenen Auftrag folgend, durch eine kluge Kombination und Konfrontation von Theorie und Praxis des Themas. Unter beiden Aspekten bestehen viele Gemeinsamkeiten in Deutschland und Österreich.

An dieser Stelle ist leider ein kritischer Einwand zu machen: Während die Veranstaltung selbst, die bereits im Juni 2022 stattgefunden hat, dem dargestellten Zugang vollinhaltlich Rechnung getragen haben dürfte, lässt sich das vom Tagungsband bedauerlicherweise nicht in gleichem Maße sagen. Einem informativen „Tagungsbericht“ von Frau Dr.in Sutterer-Kipping verdanken wir die Kenntnis von mehreren, spannenden arbeitsrechtlichen Vorträgen, die – aus welchen Gründen immer – den Weg in den Tagungsband nicht gefunden haben. Das ist, ausweislich ihrer kurzen Wiedergabe durch Dr.in Sutterer, wirklich jammerschade! Däubler‘s Ausführungen zur Geschichte des Arbeitskampfes hätten gewiss ebenso wie Krause´s Überlegungen zu Zugangsrechten der Gewerkschaften zum Betrieb den Tagungsband noch einmal erheblich aufgewertet. Auch das Referat von Kocher, vor allem zur angeblichen Friedenspflicht, wäre für Österreich sehr interessant gewesen! Durch das Fehlen mehrerer Beiträge ist auch eine gewisse Zufälligkeit der behandelten Themen entstanden: Gewerkschaftsrechte werden nicht umfassend oder unter einem bestimmten Aspekt erörtert.

Lesenswert ist der Band gewiss dennoch! Dem bereits erwähnten, auch für sich äußerst lesenswerten Tagungsbericht folgen Überlegungen des Vorsitzenden der IG-Metall, Jörg Hofmann, zu Mitbestimmung und Gewerkschaftsrechten in Zeiten der Transformation; danach ein leider sehr allgemein gehaltener Bericht des Generaldirektors der GD Beschäftigung, Soziales und soziale Inklusion der EU, Joost Korte, zu deren Plänen betreffend „Gewerkschaftsrechte in der Union“.

Am interessantesten für österreichische Leser:innen sind wohl die Untersuchungen zum Arbeitskampfrecht. Dabei darf nicht übersehen werden, dass in Deutschland eine lange Tradition besteht, durch offen richterliche Rechtssetzung das Arbeitskampfrecht zu „gestalten“. Kittner spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „nahezu uferlosen Selbstermächtigung des BAG zur Streikzensur“ (Tagungsband, 110). Das ist eine Vorgangsweise, die die österreichischen Höchstgerichte iSd für eine Demokratie elementaren Grundsatzes der Gewaltenteilung zu Recht stets abgelehnt haben. Es ist auch äußerst zweifelhaft, ob diese Vorgangsweise den Anforderungen entspricht, die der EGMR sehr zu Recht an die Transparenz und Klarheit (Vorhersehbarkeit) jeglicher 347 Regelungen stellt, die das Streikrecht einschränken (insb EGMR 2.10.2014, 48408/12, Tymoshenko).

Waltermann, Universität Bonn, eröffnet das Thema mit Überlegungen zur Tarifautonomie in der Pflegebranche. Es ist beunruhigend zu erfahren, wie zersplittert die Strukturen der Krankenpflege- und der Betreuungs- Einrichtungen auch in Deutschland sind. Zudem sind Tarifverträge selbst in diesem Bereich keineswegs flächendeckend vorhanden oder selbstverständlich: Zur Durchsetzung eines solchen Vertrages für 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen war ein Streik von elf Wochen Dauer nötig! Wohl nicht zuletzt deshalb hat Deutschland den Weg beschritten, ab September 2022 verwaltungsrechtlich nur noch solche Einrichtungen zuzulassen, für deren Pflegepersonal ein Tarifvertrag bzw eine „kirchenarbeitsrechtliche Regelung“ (zumindest faktisch) gilt.

Rödl, Universität Berlin, referiert zur „Bedeutung und Rechtfertigung der so genannten Kampfmittelfreiheit“. Mit überzeugenden Argumenten legt er dar, dass eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Streiks grundrechtlich nicht zulässig und (auch) in der deutschen Rechtsordnung nicht verankert ist. Es hat vielmehr beim Schikaneverbot als einziger Begrenzung zu bleiben (zuletzt für Österreich ebenso: Kessler, Streiks bei Kollektivvertragsverhandlungen, DRdA-infas 2025, 79 mwH).

Sehr zu Recht wendet er sich auch gegen die häufig vertretene These von der „Symmetrie der Kampfmittelfreiheit“ zwischen AG und AN. Er weist darauf hin, dass schon das strukturelle Verhältnis der Verbände zueinander nicht symmetrisch ist: Gewerkschaften müssen regelmäßig Anliegen durchsetzen, um auch nur eine Verschlechterung der Lage ihrer Mitglieder zu vermeiden: zB zumindest einen Inflations- bzw Produktivitätsausgleich bei den Löhnen. Auch jede sonstige Veränderung der Produktionsbedingungen (etwa deren Digitalisierung) würde ohne Eingriff der Gewerkschaften wegen des Machtungleichgewichts auf der individuellen Ebene ungebremst wirksam. AG und deren Verbände hingegen brauchen idR von den Gewerkschaften nichts: Ihre aus dem Eigentumsrecht abgeleitete Macht reicht vollkommen aus.

Leider setzt Rödl in seinen Ausführungen wiederholt auf zivilrechtliche Parallelen zum Arbeitskampfrecht, insb aus dem Vorvertragsrecht, die mE wenig überzeugend sind und der von ihm betonten Funktion des Streikrechts nicht entsprechen. Sie lenken zudem den Blick einseitig auf Lohnkonflikte, die typischer, aber keineswegs einziger Gegenstand von Arbeitskämpfen sind.

Das zeigt schon Klocke (Universität Mainz): Auch dessen Beitrag „Streik zur Standortsicherung“ ordne ich dem Thema Arbeitskampf zu. Im Tagungsband ist er bei Fragen der „Tarifpolitik der Zukunft“ zu finden. Klocke wendet sich gegen die Auffassung, Streikziel dürfe nur sein, was durch KollV (Tarifvertrag) geregelt werden kann. Das bereits grundsätzlich kritisierte deutsche Richterrecht vertritt diese, mE mit der Rsp zur EMRK unvereinbare Auffassung. Er untersucht die Frage im Kern an der Vereinbarkeit mit den Regelungen der (R)ESC, was auf Besonderheiten der deutschen Rechtsentwicklung zurückzuführen ist. Das Ergebnis ist aber mE dasselbe, wenn man Art 11 EMRK zu Grunde legt.

Kittner, Universität Kassel/IG Metall, befasst sich mit „Geschichte und Perspektiven der mittelbaren Arbeitskampffolgen“. Praktisch geht es dabei um Lohnansprüche von AN, die mittelbar infolge eines Streiks nicht arbeiten können, also um Arbeitskräfte eines anderen Betriebes, dem streikbedingt Vorprodukte oder Energie udgl fehlen. Das schon erwähnte deutsche Richterrecht hat dazu die These entwickelt, infolge der „Interessenverbindung“ hätten mittelbar an der Arbeit verhinderte AN derselben Branche wegen des Gebots der Kampfparität keinen Lohnanspruch (Tagungsband, 114). Eine erstaunliche Zwangskollektivierung über Unternehmens- und Landesgrenzen hinweg und ohne dass die Betroffenen die Ursache ihres Entgeltverlusts irgendwie beeinflussen könnten! Sonst ist die deutsche Rechtsordnung eigentlich individuellen Eigentums- und Freiheitsrechten strikt verbunden. Kittner beschreibt in höchst lehrreicher, aber auch unterhaltsamer Weise, wie ein Wechselspiel aus Gesetzesänderungen sowie (verfassungs-)gerichtlichen Entscheidungen einerseits und daran jeweils angepassten Arbeitskampfstrategien beider (!) Seiten andererseits, die Kampfbereitschaft immer mehr eskalieren hat lassen. Dass ein Höchstgericht (das dt BVerfG in seiner E 4.7.1975, 1 BvF 2/86) sich veranlasst sieht, zu erörtern, was rechtens wäre, würde ein Unternehmerverband AN gerade solcher Betriebe aussperren, die Vorprodukte erzeugen und deren Stillstand daher bei ihrer Kundschaft zu den größten (!) Produktions-, und damit nach deutscher Rsp auch Lohnausfällen führt – das ist in Österreich schlicht undenkbar! Es ist auch in Deutschland praktisch nicht so weit gekommen, aber der Vorfall zeigt eines deutlich: Wer sich von Gesetzen oder Gerichtsentscheidungen zum Arbeitskampfrecht Vorteile verspricht, denkt kurzsichtig. In den harten Auseinandersetzungen während der österreichischen Metall-Herbstlohnrunde 2023 haben mehrere Unternehmen den Rechtsweg beschritten. Soweit ich es überblicke: ohne jeden Erfolg. Sehr zurecht, denn die österreichische Streikpraxis kommt seit Jahrzehnten ohne gesetzliche oder richterliche Anleitung aus. Und das dient mittelfristig erkennbar beiden Seiten am besten!

Mit „Gewerkschaftsrechten im Betrieb“ befasst sich Verena zu Dohna (IG Metall), die im Kern über praktische Erfahrungen berichtet, die jenen in Österreich sehr ähneln. Wie auch hierorts wird der Zugang zu (noch) nicht organisierten Betrieben regelmäßig mit allen Mitteln erschwert und zT verhindert. In ihren Ausführungen zu digitalen Zugangsrechten der Gewerkschaften weist auch sie, wie Krause im nicht abgedruckten Referat, auf Abwägungsfragen des Datenschutzrechtes betreffend die Herausgabe betrieblicher, uU auch dem Betrieb bekannter privater E-Mail-Adressen der AN hin (vgl zum Anspruch eines BR auf diese Daten OGH 17.1.2025, 6 ObA 2/23x = ARD 6942/6/2025). Ebenso auf die Möglichkeit der Einrichtung eines digitalen „schwarzen Bretts“ auf Intranet-Seiten von Unternehmen, das Gewerkschaften offenstehen müsse. Oder wenigstens auf das Recht, einen Link zur Website der zuständigen Gewerkschaft dort zu platzieren, wie es § 9 des dt BPersVG für den öffentlichen Dienst vorsieht.

Sick, Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Böckler Stiftung, informiert in seinem Beitrag zur Unternehmensmitbestimmung in Deutschland 348 und der EU im Wesentlichen über aktuelle Fragen und Gesetzesvorhaben betreffend die Folgen, die Umwandlungen von Unternehmensformen für die Mitbestimmung haben, aber auch über Neuerungen in der Rsp zu diesem Thema.

Der Band schließt mit spannenden Praxisberichten von zwei Tarifexperten:

Schaumburg (IG-Metall) informiert über das Modell der „Zukunftstarifverträge“. Dabei geht es im Kern um Verfahrensregeln, wie im Falle strategischer Probleme eines Unternehmens gemeinsame Lösungen arbeitet werden, ehe existenzbedrohende Liquiditätskrisen auftreten. Konsensual orientierte Unternehmen werden derlei Verhandlungsanleitungen allerdings kaum benötigen. Für alle anderen gilt mE, wie die jüngsten Konflikte im Volkswagen-Konzern gezeigt haben: Engagierte Kampfmaßnahmen sind idR der wirksamere Weg gegen Kündigungen und Betriebsstilllegungen als rechtliche Instrumente.

Adjan (NGG) widmet sich den, ja auch in Österreich bestens bekannten Missständen in der Fleischwirtschaft. Deutschland hat mit einem Arbeitsschutzkontrollgesetz in dieser Branche ab 2021 Werkverträge ebenso verboten wie den Einsatz von Leiharbeit im Bereich Schlachtung und Zerlegung. Im Bereich der Verarbeitung dürfen maximal 8 % des Arbeitszeitvolumens eines Jahres durch Leiharbeit abgedeckt werden, aber nur, wenn ein Tarifvertrag dies zulässt. Adjan zieht eine durchaus positive Bilanz dieser Maßnahmen, die nach seiner Kenntnis auch praktisch funktionieren. Dabei dürfte ein seinerzeitiger deutlicher Arbeitskräftemangel, ausgerechnet (auch) im Niedriglohnbereich, hilfreich gewesen sein. Er berichtet auch von faktisch durch das Gesetz ausgelösten, weiteren Verbesserungen, wie der Einstellung von Mitarbeiter:innen mit einschlägigen, „migrantischen“ Sprachkenntnissen in Personalabteilungen oder der Renovierung von Werkswohnungen. Adjan befasst sich ferner mit den positiven Auswirkungen, auch auf Tarifverträge im Niedriglohnbereich, die bereits im Vorfeld der Anhebung des in Deutschland gesetzlich geregelten Mindestlohnes um knapp 15 % mit Oktober 2022 eingetreten sind.

Insgesamt bietet das Buch vor allem spannende und zT überraschende Informationen zur Entwicklung der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Rechte in Deutschland. Auch für an einschlägigen rechtstheoretischen Fragen Interessierte sind fundierte Beiträge enthalten.