Goller150 Jahre sozialistische Arbeiterbewegung in Tirol und Vorarlberg. Die Gründungsperiode 1875-1901
innsbruck university press, Innsbruck 2024, 376 Seiten, broschiert, € 34,90
Goller150 Jahre sozialistische Arbeiterbewegung in Tirol und Vorarlberg. Die Gründungsperiode 1875-1901
Das zu besprechende Buch aus der Feder des Innsbrucker Universitätsarchivleiters Peter Goller ist eine gründliche und umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Frühgeschichte der sozialistischen Bewegung im Westen Österreichs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Mit seinen beinahe 400 Seiten bietet das Werk eine tiefgehende Analyse der Entstehung, Entwicklung und Herausforderungen der Arbeiterbewegung und schließt eine bedeutende Lücke in der Regionalgeschichte des Sozialismus von 1875 bis 1901.
Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile, die sich systematisch mit den geschichtlichen Entwicklungen und politischen Kämpfen der frühen sozialistischen Bewegung in Tirol und Vorarlberg befassen. Teil 1, der den Großteil der Untersuchung ausmacht, beleuchtet die Zeit zwischen 1868 und 1901, wobei der Autor den Fokus auf den politischen, sozialen und ökonomischen Kontext der damaligen Zeit legt. Goller untersucht hierbei insb die ideologische Abgrenzung der Tiroler Arbeiterbewegung vom liberalen Bürgertum, das diese zunächst unterstützte. 216 Ein zentraler Aspekt des ersten Teils ist der Prozess der sozialistischen Organisation in Innsbruck, beginnend mit dem „Allgemeinen Arbeiterverein“ von 1875, sowie die Gründung der Landespartei im Jahr 1890 in Telfs.
Die Ausführungen zu den Agitationsformen und den Versuchen der Behörden, die Bewegung zu unterdrücken, sind detailliert und zeigen, wie das deutsche „Sozialistengesetz“ und lokale Maßnahmen gegen die Arbeiterbewegung griffen. Besonders bemerkenswert sind die Abschnitte über Eduard Protiva und die Spaltungstendenzen innerhalb der Bewegung, die zwischen moderaten und radikalen Fraktionen auftraten. Gollers Analyse der repressiven Maßnahmen und der sozialdemokratischen Antwort darauf offenbart, wie sich die Bewegung unter Druck dennoch weiterentwickelte und sich den zunehmenden politischen und ökonomischen Herausforderungen anpasste.
Teil 2 des Buches, in dem wichtige Primärdokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung wiedergegeben werden, stellt eine wertvolle Ergänzung dar. Dokumente, wie der Bericht der Tiroler Statthalterei zur Lage der „Socialistischen Bewegung“ von 1884 oder die Berichte zu den sozialdemokratischen Landeskonferenzen zwischen 1891 und 1901, bieten dem Leser nicht nur Einblick in die politischen Kämpfe der Zeit, sondern auch in die Art und Weise, wie die Bewegung sich selbst sah und organisierte.
Teil 3 enthält eine detaillierte Übersicht über die Beiträge der Tiroler Delegierten zu sozialdemokratischen Parteitagen zwischen 1888 und 1901. Diese Darstellung erlaubt es, die spezifischen Positionen der Tiroler Sozialisten im nationalen und internationalen Zusammenhang zu verstehen und zeigt zugleich die Interaktion zwischen regionalen und überregionalen sozialistischen Strömungen.
Im abschließenden vierten Teil gibt Goller einen Ausblick auf die Entwicklungen der Arbeiterbewegung in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, was dem Leser eine Kontinuität der Ereignisse vermittelt und die Bedeutung der beschriebenen Gründungsjahre für die spätere Entwicklung betont.
Goller zeichnet sich durch eine gründliche archivalische Recherche aus, welche die Basis für seine fundierten Analysen bildet. Er setzt nicht nur auf lokalhistorische Quellen, sondern zieht auch überregionale Entwicklungen und internationale Zusammenhänge heran, um die lokale Arbeiterbewegung in einem breiteren Kontext zu verorten. Diese methodische Breite erlaubt es ihm, die Wechselwirkungen zwischen Tirol, Vorarlberg und anderen sozialistischen Zentren zu beleuchten. Die unterschiedlichen Quellen, die Goller systematisch aufarbeitet und erklärt, tragen erheblich zur Authentizität und Detailtiefe des Werkes bei.
Zu unterstreichen ist darüber hinaus die ausgewogene Darstellung der internen Konflikte innerhalb der sozialistischen Bewegung, die Goller kritisch und ohne voreilige Wertungen beschreibt. Die Spannung zwischen moderaten Kräften und radikalen Flügeln wird als ein essentielles Momentum der frühen Geschichte der Bewegung herausgearbeitet, das keinesfalls nur für die Zeit um die Jahrhundertwende von Wichtigkeit war, sondern auch die spätere Entwicklungshistorie maßgeblich prägte.
Das Buch ist nicht nur eine bemerkenswerte Regionalgeschichte, sondern trägt auch zur allgemeinen Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts in Österreich bei. Die Untersuchung der Arbeiterbewegung in Tirol und Vorarlberg veranschaulicht, wie stark lokale Besonderheiten die Form und die Dynamik der sozialistischen Bewegungen beeinflussten und wie diese trotz schwieriger Rahmenbedingungen in der Lage waren, langfristige Erfolge zu erzielen.
Die Arbeit von Goller ist ein aufschlussreicher und bedeutungsvoller Beitrag zur Erforschung der österreichischen Arbeiterbewegung und füllt eine bislang bestehende Forschungslücke zur frühen Phase der Sozialdemokratie in Westösterreich. Besonders für Historiker, die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegungen, der Sozialdemokratie oder der politischen Entwicklung in Tirol und Vorarlberg befassen, bietet dieses Buch eine unerlässliche Quelle. Auch für politisch interessierte Laien, die einen tieferen Einblick in die Entstehung der Arbeiterbewegung gewinnen wollen, ist das Werk eine mehr als lohnende Lektüre.
Mit seiner umfangreichen Darstellung und der akribisch genauen Aufarbeitung der Quellen kommt das zu rezensierende Werk einem unverzichtbares Werk für die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung gleich. Goller gelingt es, ein kompliziertes Thema anschaulich und gut strukturiert darzustellen und dabei sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden als auch eine spannende geschichtliche Erzählung zu bieten.