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Rückwirkende Ist-Gehaltserhöhung für bereits ausgeschiedene AN

FRANK HUSSMANN
§§ 2 Abs 2 Z 2 und Z 3 ArbVG; Art XIX des KollV für Angestellte bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien

Die Kl war von 1.5.2021 bis 31.5.2022 bei der Bekl angestellt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangte der KollV für die Angestellten bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien („Arzt-Ang-KollV“) zur Anwendung. Der am 21.7.2022 abgeschlossene Arzt-Ang-KollV trat rückwirkend mit 1.1.2022 in Kraft und sieht in Art XIX Folgendes vor: „IST-Gehaltserhöhung: Sämtliche Gehälter sind mit 1.1.2022 um 4,3 % zu erhöhen und auf den nächsthöheren vollen € aufzurunden.“ Eine Übergangs- bzw Einführungsregelung über die Anwendung dieser Ist-Gehaltserhöhung in Bezug auf zwar am 1.1.2022 aufrechte, aber vor dem 21.7.2022 beendete Dienstverhältnisse ist im KollV nicht enthalten. Die Kl begehrte von der Bekl die aufgrund der rückwirkend mit 1.1.2022 in Kraft getretenen Ist-Gehaltserhöhung resultierenden Entgeltdifferenzen.

Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision der Bekl zu, da zu der Frage, ob eine rückwirkende Erhöhung des Ist-Gehalts durch Kollektivvertragsparteien auch für zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschiedenen AN Gültigkeit habe, keine Rsp existiere und es zudem um die Auslegung von Kollektivvertragsbestimmungen gehe.

Der OGH wies die Revision der Bekl als zulässig, aber unbegründet zurück.

In seiner Entscheidung führte der OGH zunächst aus, dass gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG durch Kollektivverträge grundsätzlich die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten der AG und der AN geregelt werden können. Die Rsp versteht § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG dabei als Generalklausel, nach der der typische, wesentliche oder regelmäßig wiederkehrende Inhalt eines Arbeitsverhältnisses einer kollektivvertraglichen Regelung unterworfen werden kann, insb auch Regelungen über Entgelt und Arbeitszeit. IdZ verwies der OGH auf die vergleichbare Rechtslage nach § 9 Abs 2 KollVG, der durch die in Worten gleichlautende Bestimmung des § 11 Abs 2 ArbVG ersetzt wurde, wonach ein rückwirkend 163 in Kraft gesetzter KollV auch jene Dienstverträge, die zwar am Tag der Kundmachung schon aufgelöst waren, aber am Tag des Wirksamkeitsbeginns noch bestanden haben, erfasst. Der OGH argumentierte dazu weitergehend mit seiner E 4 Ob 28/61 vom 2.5.1961, in der er feststellte, dass der zeitliche Geltungsbereich des KollV, nicht aber der Zeitpunkt des Abschlusses des KollV, entscheidend dafür ist, auf welche einzelnen Dienstverträge des kollektivvertragsangehörigen AG mit seinen AN sich der Inhalt des KollV bezieht. So ergibt sich laut OGH aus § 11 Abs 2 ArbVG die Regelungsbefugnis für rückwirkend wirksame Ansprüche aus zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des KollV noch aufrechten Arbeitsverhältnissen, unabhängig davon, ob diese zum Abschlusszeitpunkt noch aufrecht sind oder nicht.

Der OGH stellte weitergehend fest, dass zwar die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien bezüglich ausgeschiedener AN durch § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG begrenzt ist und die in § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG genannten Rechtsansprüche, damit die Regelungsmacht des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG gegeben ist, auf Kollektivverträgen beruhen müssen. Die ErläutRV führen dazu ergänzend aus, dass sich nach der bis vor Einführung des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG geltenden Rechtslage die kollektivvertragliche Regelung von Ruhegenüssen oder ähnlichen Ansprüchen nach Ausscheiden der AN aus dem Arbeitsverhältnis problematisch erwiesen habe und es sich Bedenken bezüglich der Regelung erworbener Rechtsansprüche von Personen, die keine AN mehr seien, ergäben. Der Entwurf folge in seiner Konzeption dem durch die Rsp bereits anerkannten Grundsatz, dass dem KollV die prinzipielle Regelungsbefugnis bezüglich der Ruhegenussansprüche oder ähnlicher Ansprüche von AN nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zukomme, diese solle aber nicht mehr per analogiam gewonnen werden müssen, sei aber formell (die frühere Regelung müsse durch KollV erfolgt sein) und materiell (auf Inhaltsnormen) beschränkt.

§ 2 Abs 2 Z 3 ArbVG sieht somit eine Regelungsbefugnis durch die Kollektivvertragsparteien für ausgeschiedene AN (nur) für jene bereits entstandenen kollektivvertraglichen Ansprüche vor, die über das Ende des Dienstverhältnisses hinaus noch (weiterhin) aufrecht bestehen, wie zB Ruhegenussansprüche oder ähnliche Ansprüche. Um solche Ansprüche ging es jedoch im vorliegenden Fall nicht, weshalb der OGH schlussfolgerte, dass § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG für den hier vorliegenden Sachverhalt nicht einschlägig ist.

Abschließend stellte der OGH fest, dass die Voraussetzungen für die von der Bekl behauptete sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen aktiven und ehemaligen AN ebenfalls nicht vorliegen. Laut dem OGH ist idZ zwar richtig, dass bei aktiven AN eine Ist-Lohnerhöhung durch eine einzelvertragliche Vereinbarung auch erst nach dem Inkrafttreten des KollV durch Einzelvertrag beseitigt werden kann, allerdings können AG und AN auch bereits bei Festsetzung eines überkollektivvertraglichen Gehalts vereinbaren, dass damit (überschaubare) Ist-Lohnerhöhungen bereits vorweggenommen sind, solange dadurch nicht das KollV-Mindestgehalt unterschritten wird. Nachdem auch der Zeitraum, für den rückwirkend eine Gehaltserhöhung zu leisten ist, so wie auch im konkreten Fall, regelmäßig überschaubar ist, werden selbst, wenn eine derartige Einzelvereinbarung nicht bereits während des aufrechten Dienstverhältnisses getroffen wurde, die Interessen des AG im Verhältnis zu den Interessen der ausgeschiedenen AN nicht ungebührlich beeinträchtigt. Wieso ein aus dem Dienstverhältnis ausgeschiedener AN für den Zeitraum, in dem ihm bei noch aufrechtem Dienstverhältnis eine Ist-Lohnerhöhung nachträglich gebühren würde, anders behandelt werden soll als ein aktiver AN, konnte die Bekl nach Ansicht des OGH nicht aufzeigen.

Nach Abwägung aller von der Revisionswerberin vorgebrachten Argumente wies der OGH die Revision als unbegründet zurück.