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Sukzessive Kompetenz des Sozialgerichts: Leistungsanspruch unabhängig von Verletzung der Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren zu prüfen

JOHANNA RACHBAUER

1. Die Bestimmung des § 366 ASVG ist systematisch in den Siebenten Teil des ASVG eingeordnet, der sich an die Versicherungsträger und nicht an die Sozialgerichte richtet. Im sozialgerichtlichen Verfahren kommt demgemäß nicht § 366 ASVG, sondern § 359 ZPO zur Anwendung.

2. Die Ansicht, das sozialgerichtliche Verfahren habe sich auf die Frage zu beschränken, ob im Verwaltungsverfahren § 366 Abs 2 ASVG richtig angewandt wurde, wenn schon der Bescheid darauf abgestellt habe, liefe auf eine gegen den Grundsatz der sukzessiven Kompetenz verstoßende Bindung der Gerichte an (uU berechtigt gem § 366 Abs 2 ASVG gewonnene) Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens hinaus. Ob sich der Bescheid zu Recht auf § 366 Abs 2 ASVG stützen kann, ist für die vom Sozialgericht vorzunehmende materielle Prüfung des geltend gemachten Anspruchs somit nicht relevant.

Sachverhalt

Der Kl beantragte zum Stichtag 1.3.2022 Invaliditätspension. Er hat unstrittig Berufsschutz als Metalltechniker. Aufgrund bestehender Leiden hat er ein stark eingeschränktes Leistungskalkül, weshalb eine berufsschutzerhaltende Verweisbarkeit innerhalb seines Berufsfeldes nicht möglich ist. Dieses Krankheitsbild besteht bereits seit mehreren Jahren und lag zumindest auch im Zeitpunkt der von der Bekl angesetzten Untersuchungstermine (im April, Juli und August 2022) vor. Durch medizinische und therapeutische Maßnahmen ist von einer Besserung des Gesundheitszustands auszugehen, nicht jedoch in den nächsten sechs bis neun Monaten. Die Bekl lud den Kl zur Ermittlung seines aktuellen Gesundheitszustands dreimal zu einer Untersuchung. Der Kl sagte den ersten Termin mit der Begründung ab, nicht 187 transportfähig zu sein. Von den folgenden zwei Terminen blieb der Kl, trotz Bewilligung eines Transports mit Begleitung und Androhung von Säumnisfolgen, unentschuldigt fern. Mit Bescheid vom 23.9.2022 wies die Bekl den Antrag auf Gewährung der Invaliditätspension unter Hinweis auf §§ 254 und 366 ASVG ab. Der Kl begehrte in seiner Klage die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß am 1.3.2022 in eventu medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und Rehabilitationsgeld.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht wies das Hauptbegehren ab, gab jedoch dem Eventualbegehren auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sowie Rehabilitationsgeld ab 1.2.2023 (der der Untersuchung im gerichtlichen Verfahren folgende Monatserste) statt. Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Der Kl erhob dagegen außerordentliche Revision und begehrte, dem Eventualbegehren zur Gänze stattzugeben. Der OGH entschied, dass die außerordentliche Revision zulässig und berechtigt ist.

Originalzitate aus der entscheidung

„[18] 2. Im System der sukzessiven Kompetenz muss der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein (vgl RS0124349; 10 ObS 141/22s Rz 15 ua). Der Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens ist demnach zwar durch den Antrag, den Bescheid und das Klagebegehren dreifach eingegrenzt (RS0105139 [T1]; 10 ObS 194/21h Rz 14 ua). Innerhalb dieses Rahmens hat das Gericht den geltend gemachten Anspruch auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz aber selbständig und unabhängig zu beurteilen und nicht bloß den vom Versicherten bekämpften Bescheid auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen (RS0085839; RS0106394).

[19] 3. […] Wenn [die Vorinstanzen] sich für den Zeitraum zwischen dem Stichtag […] und dem der Untersuchung im gerichtlichen Verfahren folgenden Monatsersten […] auf die Prüfung beschränken, ob die Beklagte § 366 Abs 2 ASVG gesetzmäßig angewandt habe, ist ihnen nicht zu folgen.

[20] 4. Die Bestimmung des § 366 ASVG ist systematisch in den Siebenten Teil des ASVG („Verfahren“) eingeordnet, der sich an die Versicherungsträger und nicht an die Sozialgerichte richtet. Im sozialgerichtlichen Verfahren kommt demgemäß nicht § 366 ASVG, sondern § 359 ZPO zur Anwendung. Anderes ergibt sich auch aus der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 10 ObS 21/21t nicht. Im Gegenteil wurde auch dort betont, dass es sich bei § 366 ASVG um eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen handelt (Rz 20). § 366 ASVG war dort nur deshalb relevant, weil daraus die Anwendbarkeit des § 99 Abs 2 ASVG abgeleitet wurde (Rz 25).

[21] 4.1. Die Vorinstanzen gehen zwar zutreffend davon aus, dass § 366 (Abs 1) ASVG eine Nebenpflicht des Anspruchswerbers oder -berechtigten im Sinn einer Duldungspflicht festlegt, deren Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen werden, deren Verletzung aber Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann (10 ObS 21/21t Rz 22; RS0085511). Diese Auswirkungen sind jedoch im jeweiligen Kontext unterschiedlich:

[22] Während § 99 Abs 2 ASVG an die Verletzung der Pflicht nach § 366 Abs 1 ASVG eine materielle Sanktion in Form der temporären Beseitigung die Leistungspflicht des Versicherungsträgers knüpft (vgl RS0083960), berechtigt ihn § 366 Abs 2 ASVG nur, sich mit dem ohne die strittige Untersuchung festgestellten Sachverhalt zu begnügen, um sich in formaler Hinsicht nicht dem Vorwurf unzureichender Ermittlungen auszusetzen (vgl 10 ObS 25/23h Rz 46). […]

[23] 4.2. Gegenstand des Verfahrens nach § 99 Abs 2 ASVG ist somit, ob eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorliegt, weil eine Entziehung nur (und erst) unter dieser Voraussetzung in Betracht kommt. Demgemäß ist die Frage, ob der Versicherte die Mitwirkung berechtigt verweigert bzw der Versicherungsträger sein Ermessen pflichtgemäß iSd § 366 ASVG ausgeübt hat, im sozialgerichtlichen Verfahren zwangsläufig als Vorfrage zu prüfen. […] Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist dagegen, ob Invalidität besteht, was nicht davon abhängt, ob im Verwaltungsverfahren § 366 Abs 2 ASVG richtig angewandt wurde oder nicht. Die […] Ansicht, das sozialgerichtliche Verfahren habe sich auf diese Frage zu beschränken, wenn schon der Bescheid darauf abgestellt habe, liefe auf eine gegen den Grundsatz der sukzessiven Kompetenz verstoßende Bindung der Gerichte an (uU berechtigt gemäß § 366 Abs 2 ASVG gewonnene) Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens hinaus (vgl RS0106394 [T10]; RS0085839 [T3]). Ob sich der Bescheid zu Recht auf § 366 Abs 2 ASVG stützen kann, ist für die vom Sozialgericht vorzunehmende materielle Prüfung des geltend gemachten Anspruchs somit nicht relevant. […]

[24] 5. Im Anlassfall bedeutet das, dass der hier noch strittige Anspruch des Klägers besteht, ohne dass es auf die Frage der etwaigen Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren ankäme. […]“

Erläuterung

In der vorliegenden E erläutert der OGH die Bedeutung des § 366 Abs 2 ASVG für das sozialgerichtliche Verfahren sowie die sukzessive Kompetenz der Sozialgerichte. In der Praxis herrscht zuweilen Unklarheit darüber, was (iSd Verfahrensgegenstandes) vom Sozialgericht geprüft werden muss, wenn im vorangegangenen Verwaltungsverfahren vom Versicherungsträger eine Verletzung der Mitwirkungspflicht gem § 366 Abs 2 ASVG festgestellt wurde. So auch im vorliegenden Fall, in dem sowohl das Erst-, als auch das Berufungsgericht der Ansicht waren, dass das Rehabilitationsgeld dem Kl erst ab dem Monatsersten 188 nach der im Gerichtsverfahren durchgeführten Untersuchung zustehe, weil er bis dahin seine Mitwirkungspflicht verletzt habe.

Der OGH führt die Unterschiede folgender zwei Konstellationen an: zum einen zur Entziehung einer Leistung gem § 99 Abs 2 ASVG aufgrund einer Verletzung der Mitwirkungspflicht (vgl hierzu OGH 22.6.2021, 10 ObS 21/21t); zum anderen zur Ablehnung des Antrages auf Invaliditätspension mangels Vorliegens von Invalidität, was vom Versicherungsträger aufgrund § 366 Abs 2 ASVG ohne Untersuchung festgestellt wurde.

Anders als im hier vorliegenden Sachverhalt ist im Fall der Entziehung nach § 99 Abs 2 ASVG die Verletzung der Mitwirkungspflicht der Grund und die Voraussetzung für die Entziehung. Folglich ist die Mitwirkungspflicht auch Gegenstand des Verfahrens, denn nur wenn ihre Verletzung vom Gericht festgestellt wird, ist die Entziehung rechtmäßig. Im hier vorliegenden Fall berechtigt hingegen die Mitwirkungspflichtverletzung den Versicherungsträger lediglich dazu, das Verwaltungsverfahren ohne Untersuchung abzuschließen und seiner Entscheidung den bis dahin festgestellten Sachverhalt zu Grunde zu legen. § 366 Abs 2 ASVG dient hier also nur zur Lösung eines Beweisproblems des Versicherungsträgers, der sich ansonsten unzureichende Ermittlungen vorwerfen lassen müsste. Bei einer solchen Betrachtung des § 366 Abs 2 ASVG wird auch sein Wesen klar: Es handelt sich um eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen und ist somit bloß an Versicherungsträger gerichtet.

Die Sozialgerichte werden von § 366 Abs 2 ASVG nicht adressiert. Sie haben mit § 359 Abs 2 ZPO eine eigene verfahrensrechtliche Norm für den Umgang mit mangelnder Mitwirkung einer Partei bei Sachverständigen. Das Sozialgericht hat im Rahmen seiner sukzessiven Kompetenz die Aufgabe, den geltend gemachten Anspruch selbständig zu beurteilen, nicht bloß den Bescheid zu überprüfen. Es ist daher gleichgültig, ob der Bescheid insofern richtig zustande kam, als aufgrund der vorliegenden Tatsachen keine Invalidität festgestellt werden konnte und die Bekl durch die Mitwirkungspflichtverletzung berechtigt war, diese Feststellungen ohne Untersuchung ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen. Es ist nämlich nicht das Vorgehen der Bekl, das das Gericht zu prüfen hat, sondern der Anspruch des Kl auf Invaliditätspension oder Rehabilitationsgeld. Müsste sich das Gericht darauf beschränken, zu prüfen, ob § 366 Abs 2 ASVG richtig angewandt wurde, würde dies auf eine Bindung des Gerichts an die Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens hinauslaufen, was mit der sukzessiven Kompetenz nicht vereinbar wäre.

Abgesehen vom Fall der Entziehung wegen Mitwirkungspflichtverletzung muss daher das Sozialgericht den Leistungsanspruch unabhängig von einer etwaigen Verletzung der Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren prüfen.