Saisonbranche und Beweislast

ANDREA BLASZCZYK (WIEN)

Mit Inkrafttreten der Novellierung des § 1159 ABGB wurden die Kündigungsfristen der Arbeiter an jene der Angestellten angeglichen. Gleichzeitig wurden die einschlägigen Bestimmungen bezüglich der Kündigung des Arbeitsverhältnisses in der Gewerbeordnung gestrichen. Lediglich für Branchen, in denen Saisonbetriebe überwiegen, können Kollektivverträge Abweichendes regeln. Über die Frage, wann und in welchen Branchen nun die Kollektivvertragspartner die Regelungskompetenz hinsichtlich Normierung typischerweise kürzerer Kündigungsfristen und abweichender Termine haben, gab es divergierende Rechtsmeinungen.

Spätestens seit den abweislichen Entscheidungen des OGH über die beiden gegenläufigen Feststellungsanträge gem § 54 Abs 2 ASGG zu § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB zu OGH vom 24.3.2022, 9 ObA 116/21f, und OGH vom 27.4.2022, 9 ObA 137/21v, harrt die Frage nach der Beweislast bei auf § 1159 ABGB gestützten Klagen des AN auf beendigungsabhängige Ansprüche, etwa bei zeitwidriger AG-Kündigung, der Beantwortung.1 Zu dem de lege lata2 zentralen Problem der Beweislast existieren einige literarische Stellungnahmen.3 Nun hat auch der OGH gesprochen.4

  1. Ausgangslage

  2. Materiellrechtliche Grundlagen

    1. § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB

    2. Normenkonkurrenz Gesetz – Kollektivvertrag

    3. Kollektivvertragliche Regelungsbefugnis versus privatautonome Gestaltungsmacht

  3. Beweislast: Auslegungsregeln

    1. Grundnormen und Gegennormen

    2. Einordnung der Normencharakteristik von § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB

    3. Folge der Einordnung für die Beweislast

  4. Kritik

    1. Trennung Ermächtigungsnorm und kollektivvertragliche Norm?

      191

    2. Prüfung der kollektivvertraglichen Norm auf Rechtsunwirksamkeit?

    3. Nichtsaisonbranche als rechtsfolgebegründende Tatsache?

    4. Wirkung der Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages auf seine Regelungsbefugnis?

  5. Zusammenfassung

1
Ausgangslage

Der OGH referiert die im Schrifttum vertretenen gegenläufigen Meinungen und schließt sich sodann mit einer – angesichts der weitreichenden Problematik – erstaunlich kurz gefassten Begründung der Auffassung an, die die Beweislast für das Überwiegen von Saisonbetrieben iSd § 53 Abs 6 ArbVG in einer Branche dem AN zuweist.1 Dabei erachtet der OGH insb die Rechtsausführungen von Dehn2 als überzeugend.

Dehn widmet sich der Frage der Beweislast in ihrem sonst umfassenden Beitrag3 nur mit recht knappen Überlegungen: Aus der gerichtlichen Nichtigkeitskontrolle nach § 879 ABGB im einzelnen Verfahren folge, dass das Risiko des Prozessverlustes für den Fall der Unmöglichkeit der Feststellung („Es kann nicht festgestellt werden, dass Saisonbetriebe innerhalb der Branche nicht überwiegen“) von der Partei zu tragen sei, die die kollektivvertragliche Regelung nicht angewendet wissen wolle. Beweisthema soll also nicht das Vorliegen einer Saisonbranche, sondern deren Nichtvorliegen sein. Eine kollektivvertragliche Regelung werde im Verhältnis zu höherrangigem Recht nicht im Hinblick auf ihre Rechtswirksamkeit, sondern auf ihre allfällige Rechtsunwirksamkeit geprüft. Es bedürfe daher der Feststellung von Tatsachen nicht im Interesse der Partei, die sich auf die Wirksamkeit der kollektivvertraglichen Regelung berufe, sondern im Gegenteil der Feststellung von Tatsachen für die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Frist im Interesse der sich auf die gesetzliche Frist stützenden Gegenpartei.

Der OGH führt – auf der Rechtsmeinung Dehns aufbauend – ergänzend aus, es stelle sich hier nicht die Frage, ob ein konkreter Sachverhalt die Voraussetzungen einer bestimmen Norm erfülle, sondern ob eine bestimmte Norm überhaupt rechtswirksam sei. Spreche eine Partei einer kollektivvertraglichen Norm die Rechtswirksamkeit ab, dann habe sie die Tatsachen zu behaupten und zu beweisen, aus denen sich – hier durch Überschreitung der gesetzlichen Ermächtigung – ihre Unwirksamkeit ableiten lasse.

2
Materiellrechtliche Grundlagen
2.1

Jede kollektivvertragliche Regelung, die Normwirkung entfalten soll, setzt eine ausdrückliche gesetzliche Deckung voraus.4 Einem Agieren der Kollektivvertragsparteien außerhalb der in § 2 Abs 2 Z 2-7 ArbVG taxativ aufgezählten Ermächtigungstatbestände bleibt eine Normwirkung versagt. ISd § 2 Abs 2 Z 7 ArbVG können Ermächtigungstatbestände auch in anderen Gesetzen als dem ArbVG enthalten sein. Die hier relevante Ermächtigungsnorm des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB deckt von Satz 1 und 2 leg cit zu Ungunsten des AN abweichende Regelungen nur für Branchen, in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen (idF: Saisonbranchen). Nur in den so definierten Saisonbranchen sind die in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB normierten Kündigungsmodalitäten kollektivvertragsdispositiv.

2.2
Normenkonkurrenz Gesetz – Kollektivvertrag

Das Verhältnis zwischen gesetzlichen und kollektivvertraglichen Inhaltsnormen, deren Rechtsfolgen miteinander nicht vereinbar sind, bestimmt sich nach den besonderen arbeitsrechtlichen Regelungen für die Normenkonkurrenz.5 Diese stellen bei einseitig zwingenden gesetzlichen Normen auf das Günstigkeitsprinzip ab.6 Danach verfällt eine gegenüber der einseitig zwingenden gesetzlichen Regelung ungünstigere kollektivvertragliche Norm der Rechtsunwirksamkeit bzw der Unanwendbarkeit.7 Das Gesetz geht ihr vor. Hingegen gilt für das Verhältnis zwischen (kollektivvertrags-)dispositivem Gesetzesrecht und (Kollektiv-)Vertrag das Umgekehrte. Der (Kollektiv-)Vertrag geht ihm vor.8 Dieser Vorrang kommt dem KollV allerdings nur zu, soweit seine Regelung normative Kraft entfaltet, sich also auf eine gesetzliche Ermächtigung stützen kann.9 Andernfalls bleibt sie unanwendbar und verdrängt weder die gesetzliche Bestimmung noch wirkt sie auf die dem KollV unterliegenden Arbeitsverträge ein.

2.3
Kollektivvertragliche Regelungsbefugnis versus privatautonome Gestaltungsmacht

Wie beschrieben hängt die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien immer von einer konkreten gesetzlichen Erlaubnis (Ermächtigungsnorm) ab. Die Regelungsmacht des KollV gründet nicht in der allgemeinen Vertragsfreiheit. Sie ist aus der Privatautonomie auch nicht erklärbar.10 Damit unterscheidet sich die kollektivvertragliche Rechtssetzungsbefugnis 192 grundlegend von der Gestaltungsmacht im Rahmen der Privatautonomie. Diese ist – kurz gesagt – immer gegeben, es sei denn, das Gesetz schließt sie aus. Dies bedeutet für die Gültigkeit von Verträgen Folgendes: Verträgen kommt immer dann Rechtswirksamkeit zu, wenn das Gesetz ihnen diese nicht aus besonderen Gründen verwehrt, etwa weil der Vertrag gegen ein gesetzliches Verbot verstößt oder er inhaltlich sittenwidrig ist oder die Geschäftsfähigkeit fehlt oder AGB versteckte nachteilige Klauseln enthalten (usw).

Danach lautet die Grundregel für die privatautonome Gestaltung, dass Verträge gültig sind (pacta sunt servanda). Die die besonderen Gründe für eine Ungültigkeit von Verträgen erfassenden Normen formulieren Ausnahmen von dieser Grundregel. Die privatautonome Gestaltungsmacht ist daher gegeben, wenn sie nicht durch besondere (einschränkende) Normen ausgeschlossen wird.11 Im Gegensatz dazu stellt die Regelungsbefugnis des KollV an sich eine Ausnahme dar.12 Die nichtstaatliche Rechtssetzungsbefugnis ist – wie Jabornegg sagt – etwas „durchaus Ungewöhnliches“. Der „Normalzustand“ ist nämlich das Fehlen einer solchen Normsetzungskompetenz.13

Die Qualifizierung kollektivvertraglicher Normsetzungsbefugnis als Ausnahme mag auf den ersten Blick überraschen, aber nicht, weil es sich dabei um eine neue Erkenntnis handeln würde, sondern schlicht deshalb, weil der Ausnahmecharakter nicht ins Auge fällt. Das liegt daran, dass die Generalklausel des § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG die allermeisten kollektivvertraglichen Regelungen abdeckt, Kollektivvertragsdispositivität sonst einseitig zwingender gesetzlicher Normen nur vereinzelt angeordnet ist und diese dann noch seltener – wie aber in § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB – an besondere tatbestandliche Voraussetzungen geknüpft wird.14

3
Beweislast: Auslegungsregeln
3.1
Grundnormen und Gegennormen

Grundsätzlich hat jede Partei die Voraussetzungen der ihr günstigen Norm zu beweisen. Danach trägt der Anspruchswerber die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen und der Anspruchsgegner die Beweislast für die anspruchshindernden, anspruchshemmenden oder anspruchsvernichtenden Tatsachen.15 Das Gesetz kann die Beweislast ausdrücklich regeln. Fehlt – wie meist – eine ausdrückliche Regelung der Beweislast, muss sie durch Auslegung der Sachnormen ermittelt werden.16 Dabei kommt es neben dem formalen Aufbau der materiellen Rechtsnorm vor allem auf deren Zweck an, weil hinter jeder Anordnung einer Beweislastverteilung eine Wertentscheidung steht.17 Die Ermittlung der Beweislast ist dann verhältnismäßig einfach, wenn es um die Abgrenzung rechtsfolgebegründender von rechtsfolgevernichtenden Tatsachen geht.18 Nicht einfach ist dagegen die Unterscheidung zwischen rechtsfolgebegründenden und rechtsfolgehindernden Tatsachen. Der Unterschied zwischen rechtsfolgevernichtenden und rechtsfolgehindernden Tatsachen liegt darin, dass rechtsfolgevernichtende Tatsachen ein bereits entstandenes Recht zu einem späteren Zeitpunkt untergehen lassen, während rechtsfolgehindernde Tatsachen dem Entstehen eines Rechts von vornherein entgegenwirken.

Ob ein Tatbestandsmerkmal (zB Saisonbranche) rechtsfolgehindernd oder sein begriffliches Gegenteil (zB Nichtsaisonbranche) rechtsfolgebegründend wirkt, kann anerkanntermaßen nur durch eine in wertender Betrachtung erfolgende Zerlegung der Norm(en) in Regeltatbestand und Ausnahme herausgefunden werden.19 Die Einordnung als rechtsfolgebegründend löst die Beweislast der Partei aus, die die fragliche Rechtsfolge anstrebt. Die Einstufung als rechtsfolgehindernd führt zur Beweislast der Partei, die diese Rechtsfolge bestreitet. Ausgangspunkt dafür ist das Vorhandensein von Grundnormen und Gegennormen.20 Eine Gegennorm ist eine Rechtsnorm, die anordnet, dass eine aufgrund einer anderen Norm (= Grundnorm) gegebene Rechtsfolge nicht eintreten soll.21 Liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung einer Gegennorm nicht vor, greift ihre Rechtsfolge nicht ein und es bleibt bei der in der Grundnorm vorgesehenen Rechtsfolge.22 Grundnormen haben daher rechtsfolgebegründenden, Gegennormen rechtsfolgehindernden Charakter.23 Von der Tatsachenseite her betrachtet ist danach entscheidend, ob eine Tatsache dem Tatbestand einer Grundnorm oder jenem einer Gegennorm entspricht. Die Beweislastgrundregel lautet, dass das non liquet einer Tatsache deren Nichtvorliegen gleichzuhalten und daher die daran anknüpfende Rechtsfolge zu verneinen ist.24 Bezogen auf Tatbestandsmerkmale einer Grundnorm führt das non liquet zur Verneinung der in ihr vorgesehenen Rechtsfolge. Für Tatbestandsmerkmale einer Gegennorm bedeutet das non liquet, dass die Rechtsfolge der Grundnorm zu bejahen ist, weil jene der Gegennorm, nämlich die Aufhebung der Rechtsfolge der Grundnorm, verneint wird.25

Neben Grund- und Gegennormen existiert noch ein dritter Normentyp, der vorsehen kann, dass unter bestimmten Umständen die Abwendung der Rechtsfolge der Grundnorm durch die Gegennorm 193 nicht eintreten soll, wodurch eine Gegenausnahme statuiert wird. Im Fall eines non liquet zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Gegenausnahme bleibt es bei der Abwendung der Rechtsfolge der Grundnorm. Es wird also die Rechtsfolge der Gegennorm schlagend.26

3.2
Einordnung der Normencharakteristik von § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB

Die Bestimmung des § 1164 Abs 1 ABGB immunisiert ua die in § 1159 ABGB enthaltenen Regelungen gegen Veränderungen zu Lasten des AN durch Arbeitsvertrag oder Normen kollektiver Rechtsgestaltung. Der § 1164 Abs 1 ABGB beschreibt den „Normalfall“ für die Wirkung arbeitsrechtlicher Normen, nämlich den einseitig zwingenden Charakter, und unterstellt auch § 1159 ABGB diesem Regelfall.

Bei § 1164 Abs 1 ABGB handelt es sich also um eine Grundnorm, deren Rechtsfolge das Entstehen einseitig zwingender Wirkung der darin aufgezählten Normen ist. Von dieser Rechtsfolge nimmt § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB Saisonbranchen aus. § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB stellt daher eine Gegennorm zu § 1164 Abs 1 ABGB dar. Die in § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB angeordnete Rechtsfolge – die Aufhebung der einseitig zwingenden Wirkung gegenüber dem KollV – tritt nur ein, wenn ihre tatbestandliche Voraussetzung (Saisonbranche) feststeht. Bleiben die dafür relevanten Tatsachen unklar (non liquet), kann die Rechtsfolge der Gegennorm nicht eintreten und es bleibt bei der Rechtsfolge der Grundnorm. Die Rechtsfolge der Grundnorm des § 1164 Abs 1 ABGB lautet, dass ua die in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB geregelten Kündigungsmodalitäten nicht zu Lasten des AN veränderbar sind.

3.3
Folge der Einordnung für die Beweislast

Die für die Bejahung einer Saisonbranche relevanten Tatsachen erfüllen den Tatbestand einer Gegennorm und sind dementsprechend rechtsfolgehindernder Natur. Das non liquet rechtsfolgehindernder Tatsachen wirkt sich iSd Beweislastgrundregel immer zu Lasten der Partei aus, die durch die positive Feststellung dieser Tatsachen die Rechtsfolge der für sie günstigen Norm auslösen hätte können, nämlich die Aufhebung der aus den rechtsfolgebegründenden Tatsachen entspringenden Rechtsfolge.

Macht der AN beendigungsabhängige Ansprüche nach den in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB normierten Kündigungsfristen und -terminen geltend, stützt er sich auf eine nach § 1164 Abs 1 ABGB grundsätzlich einseitig zwingende Bestimmung. Die Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands einer Kollektivvertragsdispositivität nach Satz 3 leg cit trifft daher den AG, der sich auf eine ungünstigere kollektivvertragliche Regelung beruft. Bleibt das Vorliegen einer Saisonbranche iS eines non liquet unklar, wird die Rechtsfolge der Kollektivvertragsdispositivität nicht ausgelöst und die kollektivvertragliche Regelung kann gegen § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB nicht durchdringen.27

Dasselbe Ergebnis kann im Übrigen auch schon aus § 1159 ABGB allein gewonnen werden. Die Entstehungsgeschichte des § 1159 ABGB neu28 spricht ebenso wie der sprachliche Aufbau der Vorschrift29 und ihr Zweck30 klar dafür, dass § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB als Ausnahmeregelung konzipiert ist. Dementsprechend bezeichnen mehrere Lehrmeinungen31 Satz 3 leg cit zutreffend als Ausnahmeregelung.

4
Kritik

Sowohl Dehn32 als auch der OGH33 wie auch weitere Autoren34 wollen nun die Beweislast für das Vorliegen einer Saisonbranche dem AN zuweisen, der sich auf die Grundregel der gesetzlichen Kündigungsfristen und -termine (§ 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB) beruft und nicht dem AG, der die Ausnahmeregel (§ 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB) in Anspruch nimmt.

4.1
Trennung Ermächtigungsnorm und kollektivvertragliche Norm?

Zunächst ist der Auffassung des OGH, es stelle sich nicht die Frage, ob ein konkreter Sachverhalt die Voraussetzungen einer bestimmten Norm erfülle, sondern ob eine bestimmte Norm selbst überhaupt rechtswirksam sei,35 entgegenzuhalten, dass die Rechtswirksamkeit der kollektivvertraglichen Norm und die Erfüllung des gesetzlichen Ermächtigungstatbestandes nicht voneinander getrennt werden 194 können.36 Die Rechtswirksamkeit der kollektivvertraglichen Norm setzt die Subsumtion des Sachverhaltes unter den gesetzlichen Ermächtigungstatbestand voraus. Gelingt dies etwa im Fall eines non liquet nicht, bleibt die kollektivvertragliche Norm rechtsunwirksam, weil es dann schlicht nicht zur Durchbrechung der einseitig zwingenden Wirkung der gesetzlichen Regelung der Kündigungsfristen und -termine in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB kommt.37

4.2
Prüfung der kollektivvertraglichen Norm auf Rechtsunwirksamkeit?

Dehn und ihr folgend der OGH – wie ausführlich auch Noga und Kietaibl – leiten ihre Auffassung aus der Rsp ab, die die Beweislast für die Nichtigkeit einer vertraglichen Vereinbarung der Partei auferlegt, die die Nichtigkeit behauptet. Diese Rsp lässt sich allerdings – wie Nunner-Krautgasser zutreffend darstellt38 – auf die hier gegebene Konstellation nicht übertragen.

Kietaibl39 argumentiert dagegen, die Differenzierung zwischen Inhaltskontrolle und Kontrolle der (sonstigen) Regelungsbefugnis des KollV sei zweifelhaft, weil der KollV für sitten- und gesetzwidrige Inhalte genauso wenig regelungsbefugt sei wie für andere Inhalte außerhalb gesetzlicher Regelungsermächtigungen. Auch die allgemeine Sittenwidrigkeitsschranke und die mittelbare Wirkung der Grundrechte steckten die Regelungsbefugnis des KollV ab.

Nun sieht der OGH die Behauptungs- und Beweislast für einen Missbrauch des inhaltlichen Gestaltungsspielraumes der Kollektivvertragsparteien bei der Partei, die sich auf den Missbrauch beruft.40 Dabei geht es klar um die Inhaltskontrolle kollektivvertraglicher Normen. Hier steht jedoch nicht der inhaltliche Gestaltungsspielraum des KollV auf der Grundlage einer gegebenen gesetzlichen Ermächtigung, sondern diese selbst, also die Rückführbarkeit der kollektivvertraglichen Norm auf eine gesetzliche Erlaubnis, zur Diskussion. Eine undifferenzierte Gleichbehandlung dieser beiden Fallgruppen ist verfehlt. Nur der privatautonomen Gestaltung ist die Rechtssetzungsbefugnis immanent, nicht aber der Regelungsbefugnis des KollV.41 Diese stellt eine Ausnahme von der Grundregel des Fehlens einer nichtstaatlichen generellen Normsetzungskompetenz dar.42

Begreift man auf dieser Grundlage gesetzliche Ermächtigungsnormen und die darauf fußenden kollektivvertraglichen Regelungen als Ausnahmetatbestände, 43 stellen diese Gegennormen iSd zu

Pkt 3.1. aufgezeigten Systematik dar. Zu Grundund Gegennormen kann – wie schon zu Pkt 3.1. gesagt – auch noch ein dritter Normentyp hinzutreten, der anordnet, dass unter bestimmten Umständen die Abwendung der Rechtsfolge der Grundnorm durch die Gegennorm nicht eintreten soll. Damit wird eine Gegenausnahme statuiert.44 Genau dieser Fall liegt vor, wenn eine kollektivvertragliche Regelung zwar in einer gesetzlichen Ermächtigung Deckung findet, etwa weil sie einen typischen Arbeitsvertragsinhalt iSd § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG betrifft, dabei aber die für kollektivvertragliche Normen wie für privatautonome Rechtsgestaltung in § 879 ABGB gesetzten inhaltlichen Grenzen überschreitet. Die Erfüllung des Tatbestandes der Gegenausnahmenorm hat zur Konsequenz, dass die Rechtsfolge des § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG (Erzeugung der normativen Wirkung) ausbleibt. Bleiben die tatbestandlichen Voraussetzungen der Gegenausnahmenorm aber beweislos, bleibt es bei der Rechtsfolge der Gegennorm, hier also des § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG.45 Die Beweislast trifft die Partei, die der kollektivvertraglichen Norm infolge Überschreitens der inhaltlichen Gestaltungsmacht der Kollektivvertragsparteien die Normwirkung abspricht.

Der Fall einer Gegenausnahme ist bei unklar gebliebenen tatsächlichen Voraussetzungen einer gesetzlichen Ermächtigungsnorm nicht verwirklicht. Ein non liquet zur Ausnahmeregel des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB trifft daher die Partei, die sich auf diese und die darauf fußenden kollektivvertraglichen Kündigungsmodalitäten beruft.

4.3
Nichtsaisonbranche als rechtsfolgebegründende Tatsache?

Die hier in Kritik gezogene Rechtsmeinung bedeutet, die Saisonbranche nicht als rechtsfolgehindernde Tatsache (Tatbestandselement der Gegennorm des § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB) zu verstehen, sondern ihr begriffliches Gegenteil (Nichtsaisonbranche) als rechtsfolgebegründendes Tatbestands element in § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB zu implementieren. Ein solches Verständnis krankt schon daran, dass dieses Tatbestandsmerkmal in Satz 1 und 2 leg cit nicht aufzufinden ist. Sie widerspricht ferner dem schon aufgezeigten Verhältnis von Regel und Ausnahme in § 1159 Abs 2 ABGB, vor allem aber § 1164 Abs 1 ABGB. Die durch § 1164 Abs 1 ABGB generierte einseitig zwingende Wirkung des § 1159 ABGB wird nur für einen Teilbereich, nämlich für Saisonbranchen, beseitigt. Erst und nur dadurch öffnet sich das „Einfallstor“ für die Anwendung einer gegenüber § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB ungünstigeren kollektivvertraglichen Regelung. Die gegenteilige Auffassung stellt das Verhältnis von Gesetz und KollV auf den Kopf.

4.4
Wirkung der Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages auf seine Regelungsbefugnis?

Bei der dem KollV zugeschriebenen Richtigkeitsgewähr handelt es sich um einen Auslegungsgrundsatz,46 195 der Leitlinien für die Ermittlung des Inhaltes kollektivvertraglicher Normen, „wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen“,47 liefern soll.48 Für die hier allein relevante Auslegung gesetzlicher Normen, nämlich eines gesetzlichen Ermächtigungstatbestandes, ist daraus nichts zu gewinnen. Wie und warum sich eine auf kollektivvertragliche Inhalte bezogene Richtigkeitsvermutung auf die Normenkonkurrenz zwischen Gesetz und KollV auswirken sollte, bleibt unverständlich.49

5
Zusammenfassung

1. § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB ist eine Ausnahmeregel (Gegennorm) zur Grundregel (Grundnorm) des § 1164 Abs 1 ABGB.

2. Das in der Gegennorm enthaltene Tatbestandsmerkmal Saisonbranche hat rechtsfolgehindernden Charakter.

3. Das non liquet zu einer rechtsfolgehindernden Tatsache führt iSd allgemeinen Beweislastregel zur Verneinung der an sie geknüpften Rechtsfolge, hier zur Verneinung der Kollektivvertragsdispositivität des § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB.

4. Mangels Kollektivvertragsdispositivität geht § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB ungünstigeren kollektivvertraglichen Regelungen vor.

5. Es bleibt bei der Rechtsfolge des § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB iVm § 1164 Abs 1 ABGB als Grundnormen.

6. Spricht eine Partei den gesetzlichen Bestimmungen des § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 ABGB die Anwendbarkeit ab, hat sie die Tatsachen zu behaupten und zu beweisen, aus denen sich die Rechtswirksamkeit der abweichenden kollektivvertraglichen Vorschriften ableiten lässt.