RußeggerUnionsrechtskonformität des Urlaubsgesetzes

Verlag des ÖGB, Wien 2024, 128 Seiten, broschiert, € 36,–

PETER C. SCHÖFFMANN (WIEN)

In den letzten Jahren hat das Urlaubsrecht erheblich an Dynamik gewonnen. Der EuGH hat eine zunächst unscheinbare Bestimmung in kurzer Zeit zur Hydra umgebaut, bei der jede (scheinbar) geklärte Frage zahlreiche Folgeprobleme aufwirft. Dies allein bietet bereits reichlich Diskussionsstoff. Zusätzlich muss stets berücksichtigt werden, wie sich diese Entwicklungen im österreichischen Recht niederschlagen. Häufig geht der OGH dabei zunächst davon aus, dass die EuGH-Rsp nicht ohne Weiteres auf das österreichische Recht übertragen werden kann: So nahm er keine Urlaubssorgepflicht an, wie sie der EuGH in der Rs King entwickelt hatte (C-214/16, ECLI:EU:C:2017:914), weil den österreichischen AN andere Rechtsschutzmöglichkeiten offenstehen als im britischen Ausgangsfall. Erst die umfassende Kritik der Lehre (vgl etwa Kietaibl, Urlaubsverjährung bei Scheinselbständigkeit, ZAS 2021, 83) bewirkte ein Damaskuserlebnis samt anschließender Rechtsprechungskorrektur (OGH9 ObA 88/20m Arb 13.746 und insb OGH8 ObA 23/23z Arb 13.895).

Hannah Rußegger präsentiert eine kritische Bestandsaufnahme dieser Entwicklungen. Das Werk basiert auf einer 2022 an der Universität Salzburg eingereichten Diplomarbeit und wurde letztes Jahr – auf den aktuellen Stand ergänzt – veröffentlicht. Es besticht durch eine klare Struktur und präzise Sprache, was besonders bei inhaltlich anspruchsvollen Themen von Vorteil ist. Das Werk ist nicht nur eine Sammlung von Urteilen und Reaktionen in der Literatur, sondern beleuchtet die Standpunkte auch kritisch. Auch hier werden klare Worte gefunden: Statt juristischem Weichspüler (Negativ-Klassiker: „unrichtig“) sagt Rußegger, was Sache ist; etwa dass der OGH die Urlaubssorgepflicht einfach nicht verstanden hat (S 85).

Die Arbeit ist streng nach Problemfeldern und Entscheidungen gegliedert, was dazu führt, dass grundlegende Gedanken vereinzelt etwas versteckt sind. So widmet sich Rußegger etwa im Abschnitt zur Rs Bauer und Willmeroth ausführlich der umstrittenen Horizontalwirkung des Art 31 Abs 2 GRC (S 29 ff ). Diese Frage ist nicht nur für diese Rechtssache, sondern für die gesamte Arbeit von großer Bedeutung. Rußegger referiert prägnant die Kritik der Lehre an der Horizontalwirkung, 258 die oft zu lapidar auf den Wortlaut verweist.

ME ist aber unabhängig davon, wie man zur Horizontalwirkung im Ergebnis steht, erstens anzuerkennen, dass Art 51 Abs 1 GRC vom Grundrechtekonvent nicht als abschließende Regel gedacht war, sondern bewusst dem EuGH zur Fortentwicklung überlassen wurde (dazu allein Streinz/Michl in Streinz [Hrsg], EUV/AEUV3 [2018] Art 51 GRC Rz 30). Der EuGH weist in der Rs Bauer und Willmeroth darauf hin (Rn 87). Zweitens enthält die GRC – anders als die EMRK – auch Grundrechte, deren Schutzgüter vorrangig durch Privatpersonen gefährdet werden, insb die Art 30 bis 32 (Kingreen in Calliess/Ruffert [Hrsg], EUV/AEUV6 [2022] Art 31 GRC Rz 24). Drittens ist die Ausdehnung der Horizontalwirkung der Verfassungsverträge auf die Unionsgrundrechte durchaus konsequent (dazu Schorkopf in Grabenwarter [Hrsg], Europäischer Grundrechteschutz2 [2022] § 5 Rz 41). Aus arbeitsrechtlicher Sicht sind hier insb die AN-Freizügigkeit (EuGHC-415/93, Bosman, ECLI:EU:C:1995:463 und C-281/98, Angonese, ECLI:EU:C:2000:296) sowie die Entgeltgleichheit (EuGHC-43/75, Defrenne II, ECLI:EU:C:1976:56) zu nennen. Selbst wenn man dem EuGH kritisch gegenübersteht, ist es wichtig, seine Erwägungen nachzuvollziehen, um Entwicklungen besser ordnen zu können.

In Kapitel 3 befasst sich Rußegger mit dem Zusammenspiel von Krankheit und Urlaub. Nach dem EuGH unterbreche die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit den Erholungsurlaub zwingend, sodass der Urlaubsanspruch später verbraucht werden könne (S 45). Nach § 5 Abs 1 UrlG schließt eine Erkrankung während des Urlaubs einen weiteren Urlaubsverbrauch nur aus, wenn die Erkrankung mehr als drei Kalendertage dauert. Rußegger argumentiert überzeugend, dass diese Einschränkung unionsrechtswidrig ist und auch hinsichtlich der fünften Urlaubswoche kein abweichendes Ergebnis erzielt werden kann (S 51 ff).

Apropos fünfte Urlaubswoche: Auch der EuGHRs job-medium widmet sich Rußegger in ihrer Arbeit (Kapitel 6). Sie kritisiert die misslungene Neuregelung des § 10 Abs 2 UrlG (BGBl I 2022/167 ) und zeigt Wertungswidersprüche auf, etwa bei der fehlenden Rückzahlungspflicht bei überaliquotem Verbrauch (S 103 f). Auch könne § 10 Abs 2 UrlG nicht als „fairer Ausgleich“ gegenüber pönalen Elementen gedeutet werden, die AG bei unrechtmäßiger Beendigung treffen (etwa in Form der Nichtanrechnung nach § 29 Abs 2 AngG). Rußegger argumentiert überzeugend, dass ein Entfall des § 10 Abs 2 UrlG keinen Wertungswiderspruch verursachen würde. Die Asymmetrie zwischen AN und AG rechtfertige, dass nur AG mit pönalen Elementen konfrontiert werden (S 103).

Im Zusammenhang mit § 5 UrlG geht Rußegger auch auf das Zusammentreffen von Erholungsurlaub und sonstigen Dienstverhinderungsgründen ein (S 47 ff). Hier folge aus der Rsp des OGH (insb 9 ObA 306/89 vom 22.11.1989) ein „Wahlrecht“: AN könnten entweder von der Urlaubsvereinbarung (teilweise) zurücktreten oder sich auf § 5 UrlG analog stützen. Rußegger spricht sich mit beachtlichen Argumenten dafür aus, die dreitägige Mindesterkrankungsdauer nicht auf sonstige Verhinderungsgründe zu übertragen (S 50).

Bedenken bestehen mE jedoch hinsichtlich des „Wahlrechts“ an sich: Liegt die analoge Anwendung des § 5 UrlG allein im Ermessen der AN, ob sie den Rücktritt erklären oder nicht, fällt es schwer, eine planwidrige Lücke zu sehen. Dass für sonstige Verhinderungsgründe der Rücktritt zur Verfügung steht, bei Erkrankungen jedoch die Nichtanrechnung nach § 5 UrlG greift, leuchtet ein: Die Dauer einer krankheitsbedingten Dienstverhinderung wird in vollen Tagen gemessen, während die Gründe für sonstige Dienstverhinderungen und deren Dauer stark variieren können. Auch sehr kurze Zeiträume sind denkbar, bei denen der Erholungszweck des Urlaubs nicht zwangsläufig beeinträchtigt wird. Daher scheint es zweckmäßig, auf eine Rücktrittserklärung im Einzelfall abzustellen, diese nur bei wesentlicher Beeinträchtigung zuzulassen und nicht die undifferenzierte Rechtsfolge des § 5 UrlG analog anzuwenden (ausf gegen eine Analogie auch Drs, Urlaubsrecht10 [2019] § 5 Rz 6 ff mwN).

In Kapitel 4 (S 53 ff) untersucht Rußegger kritisch, wie sich Änderungen des Beschäftigungsausmaßes auf den Jahresurlaub auswirken. Sie sieht bei der Auslegung des Art 7 RL 2003/88/EG die besseren Gründe für einen kalendarischen Urlaubsanspruch, anders als der EuGH, der einen freistellungsorientierten Anspruch annimmt. Sie kritisiert, dass eine Einschränkung des Beschäftigungsausmaßes zu deutlich längeren Abwesenheiten führen kann und das AG-Interesse nicht ausreichend berücksichtigt wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Änderung des Beschäftigungsausmaßes grundsätzlich Vereinbarungssache ist und es somit auch an den AG liegt, einen Verbrauch der offenen Ansprüche vor Änderung des Beschäftigungsausmaßes zu vereinbaren.

Zudem sieht sie die Gefahr, dass es – in der Folge der Rs Greenfield (EuGH 11.11.2015, C-219/14) – zu einer Kürzung des Anspruchs unter den vierwöchigen Mindestjahresurlaub kommen könnte (S 56 ff). Diese Befürchtung ist aber wohl unbegründet: In der Rs Greenfield wurde die Arbeitszeit während des laufenden Urlaubsjahres erhöht. Der EuGH betrachtet die Zeiträume des geringeren und höheren Arbeitszeitausmaßes getrennt. Wird das Arbeitszeitausmaß zur Jahresmitte erhöht, muss der Urlaubsanspruch der ersten Jahreshälfte nicht angepasst werden. Für die zweite Jahreshälfte wird der Anspruch jedoch neu berechnet. Ausgenommen ist nur der Fall, wenn in der ersten Jahreshälfte überaliquot Urlaub genommen wurde. Rußegger befürchtet nun einen Eingriff in den vierwöchigen Mindestjahresurlaub, wenn AN ihren Jahresurlaub überaliquot in der zweiten Jahreshälfte verbrauchen würden, weil hier jener Anspruchsteil nicht erhöht wird, der ratierlich auf die erste Jahreshälfte entfällt. Nach der Logik des EuGH wird dadurch aber nicht unter den Mindestanspruch gekürzt, da die Inanspruchnahme zu einem späteren Zeitpunkt noch immer im Konnex mit dem ursprünglichen Erwerbs- und nicht dem späteren Verbrauchszeitpunkt steht. Zudem ging der EuGH in der Rs Greenfield auch nicht auf die Frage ein, ob die Nichtumrechnung (in diesem Fall die Nichterhöhung) auch dann noch gilt, wenn AN den Urlaub vor der Änderung des Beschäftigungsausmaßes gar nicht verbrauchen konnten. Nicht auszuschließen ist also, dass der EuGH bei der Erhöhung des Beschäftigungsausmaßes eine Aufwertung des Alturlaubs (unter Rückgriff auf die Urlaubssorgepflicht) sehr wohl dann anordnet, wenn dieser von den AN nicht früher verbraucht 259 werden konnte. Freilich wäre das aber nach dem vom EuGH entwickelten Modell nicht konsequent. Aber was kümmert den sein Geschwätz von gestern.

Das abschließende Kapitel 4.3 ist besonders interessant, weil es diese unionsrechtlichen Fragen auf das österreichische Recht überträgt. Rußegger zeigt, was aktuell möglich ist und wie das UrlG angepasst werden könnte. Dabei verdeutlicht sie, was die EuGH-Entscheidungen bedeuten, wenn man sie konsequent zu Ende denkt.

In Kapitel 5 geht Rußegger der Verjährungsfrage und der Urlaubssorgepflicht nach. Bemerkenswert ist, dass der EuGH hier nicht nur am Urlaubsrecht selbst dreht, sondern tief in allgemein schuldrechtliche Vorstellungen eingreift. So gilt ganz grundsätzlich und für das Arbeitsrecht im Besonderen, dass sich die Vertragspartner:innen nicht über die ihnen jeweils zustehenden Rechte aufklären müssen (vgl dazu allein Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger [Hrsg], ABGB4 § 1157 Rz 76). Informationspflichten sind jedoch ein Liebkind des Europäischen Rechtssetzers und des EuGH (siehe allein die Transparenz-RL [EU] 2019/1152 und die Entgelttransparenz-RL [EU] 2023/970). Die Urlaubssorgepflicht passt konzeptionell in dieses Transparenzbestreben. Rußegger argumentiert, dass gerade hier den AG ein aktives Tun abverlangt werden kann (S 79).

Spannend bleibt, ob sich die Einschränkungen der Verjährung auch auf die Ersatzleistung auswirken: Hier gelten andere Rahmenbedingungen, da AN den Anspruch einseitig geltend machen können. Der Anspruch ist nicht in gleicher Weise von der Mitwirkung der AG abhängig (etwa in Form einer zweiseitigen Urlaubsvereinbarung). Der EuGH hat sich bereits mit Ausschlussfristen befasst. Während er diese prinzipiell für zulässig hält (EuGH C-255/00, Grundig Italiana, ECLI:EU:C:2002:525), müssen sie im konkreten Fall stets angemessen sein (etwa EuGH 29.10.2009, C-63/08, Pontin). Jüngst hielt er eine zweiwöchige Kündigungsschutzfrist für unionsrechtswidrig (EuGH 27.6.2024, C-284/23, Haus Jacobus). Demnach erscheint die allgemeine dreijährige Verjährungsfrist nach § 1486 Z 5 ABGB weitestgehend unbedenklich. Für die teils besonders kurzen Verfallsfristen dürfte es aber zunehmend eng werden.

Auch darüber hinaus enthält die Arbeit viele anregende Gedanken. Wer sich mit dem Urlaubsrecht befassen muss, findet hier einen hervorragenden Ausgangspunkt. Zwar liegen zu Detailproblemen eine Vielzahl von Aufsätzen und Entscheidungsbesprechungen vor, so konsequent und gesamthaft durchgedacht wurde der europäische Einfluss auf das Urlaubsgesetz aber selten.