26Übergangsbestimmung: Nichtanwendung wegen Redaktionsversehens
Übergangsbestimmung: Nichtanwendung wegen Redaktionsversehens
Verfahrensgesetze sind, sofern nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen wurde, immer nach dem letzten Stand anzuwenden.
§ 98 Abs 31 ASGG ist infolge eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers so auszulegen, dass dessen zweiter Satz, wonach § 89 Abs 4 und 5 ASGG idF BGBl I 2022/61 (ZVN 2022) auf Verfahren anzuwenden sind, in denen die Klage nach dem 30.4.2022 eingebracht wird, zumindest für Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht gilt. Die Sozialgerichte haben daher § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auch in Verfahren, in denen die Klage vor dem 1.5.2022 eingebracht wurde und das Urteil nach diesem Zeitpunkt liegt, anzuwenden.
[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Verpflichtung des Sozialgerichts, im Verfahren über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld aufgrund der materiellen Berechtigung des Rückersatzanspruchs des bekl Krankenversicherungsträgers dem Kl nach § 89 Abs 4 ASGG den Rückersatz aufzuerlegen.
[...]
[3] Mit Bescheid vom 9.11.2021 sprach die Bekl aus, aufgrund des nicht rechtzeitigen Nachweises der vorgeschriebenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen reduziere sich der Anspruch [auf Kinderbetreuungsgeld] um 1.300 €, hiervon seien bereits 338,80 € einbehalten worden, es hafte ein Betrag von 961,20 € aus. Dieser sei binnen vier Wochen zu überweisen.
[4] Dagegen richtet sich die am 6.12.2021 erhobene Klage. [...]
[6] Das Erstgericht wies den Antrag der Bekl, den Kl zur Rückzahlung des Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 1.300 € zu verpflichten, mit Beschluss zurück und wies im Übrigen die Klage auf Feststellung, dass sich der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht um 1.300 € reduziere und die Bekl schuldig sei, das zuerkannte Kinderbetreuungsgeld ohne Kürzung um 338,80 € auszuzahlen, ab.
[...] Der Rückforderungsanspruch der Bekl bestehe [...] materiell zu Recht. Ungeachtet dessen bestehe infolge der Teilaufhebung einer Wortfolge in § 89 Abs 4 Satz 1 ASGG durch den VfGH für die unter § 65 Abs 1 Z 2 ASGG fallende Rechtsstreitigkeit über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld keine prozessrechtliche Grundlage dafür, den Kl zu einer Leistung an die Bekl zu verpflichten. § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61 sehe zwar wieder eine Rückzahlungsverpflichtung vor, komme aber gem § 98 Abs 31 ASGG nicht zur Anwendung, weil die Klage vor dem 30.4.2022 eingebracht worden sei.
[8] Die Bekl erhob Rekurs gegen den Beschluss auf Zurückweisung ihres Antrags.
[9] Die Abweisung des Klagebegehrens erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
[10] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Bekl nicht Folge und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Es ließ den Revisionsrekurs zu. [...]
[13] Der Revisionsrekurs ist [...] zulässig, er ist auch berechtigt.
1. Zur Zulässigkeit des Revisionsrekurses [...]
2. Zur Auferlegung des Rückersatzes nach § 89 Abs 4 ASGG
[16] 2.1. Nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG sind Rechtsstreitigkeiten über den Rückersatz einer zu Unrecht erbrachten Versicherungsleistung oder eines zu Unrecht erbrachten Pflegegeldes Sozialrechtssachen. Von § 65 Abs 1 Z 2 ASGG sind auch Streitigkeiten über den Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld erfasst (Klammerverweis auf Z 8; vgl Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 65 Rz 13). [...] Das Sozialgericht hat daher im Fall der Abweisung der negativen Feststellungsklage – wenn also der Rückersatzanspruch materiell zu Recht besteht – unter einem einen Rückzahlungsausspruch zu treffen.
[18] 2.2. § 89 Abs 4 ASGG idF vor der mit BGBl I 2021/21 kundgemachten Aufhebung einer Wortfolge in Satz 1 dieser Bestimmung lautete:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 oder über die Kostenersatzpflicht des Versicherten nach § 65 Abs 1 Z 5 die Klage abgewiesen, weil eine Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Rück(Kosten)ersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Hiebei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen.“
[19] 2.3. Mit Erkenntnis G 264/2019 vom 11.12.2020 hob der VfGH über einen Normenkontrollantrag nach Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG die Wortfolgen „nach § 65 Abs 1 Z 2 oder“ sowie „Rückersatzoder“ und „Rück(„ sowie das Zeichen „)“ in § 89 Abs 4 ASGG mit Ablauf des 31.12.2021 auf und sprach aus, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht in Kraft treten.
[20] § 89 Abs 4 ASGG idF der mit BGBl I 2021/21 kundgemachten Aufhebung durch den VfGH lautet:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit über die Kostenersatzpflicht des Versicherten nach § 65 Abs 1 Z 5 die Klage abgewiesen, weil eine Kostenersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Kostenersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Hiebei ist die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen.“
[21] 2.4. Der VfGH trug mit seiner Entscheidung den geltend gemachten Bedenken betreffend die fehlende Kognitionsbefugnis der Sozialgerichte im Hinblick auf die Möglichkeit der gänzlichen oder teilweisen Nachsicht von der Rückersatzpflicht in 240 Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG, wie sie im Anlassfall vorlag, Rechnung: [...]
[25] 2.5. Die Aufhebung bewirkt, dass Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht mehr von den zuvor auch für Rückersatzstreitigkeiten in § 89 Abs 4 ASGG normierten Anordnungen erfasst sind. Durch die Aufhebung ist die zuvor in § 89 Abs 4 ASGG festgeschriebene Verpflichtung des Gerichts, in Rückforderungsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG im Fall des (materiellen) Bestehens des Anspruchs des Versicherungsträgers auf Rückersatz einer (Versicherungs-) Leistung dem Gegner den Ersatz aufzuerlegen, also einen Leistungsbefehl zugunsten des Sozialversicherungsträgers zu schaffen, entfallen. Durch die Aufhebung wurde ein Rechtszustand geschaffen, nach dem die vom Beschwerdeführer vor dem VfGH relevierten Bedenken insofern nicht mehr bestehen, als der Kl in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht mehr damit konfrontiert ist, dass ihm von einem mit unzureichender Kognitionsbefugnis ausgestatteten Gericht eine Rückersatzpflicht auferlegt werden kann.
[26] 2.6. Dass es nicht sachgerecht ist, wenn der Rückforderungsanspruch im Gerichtsverfahren geprüft und als materiell berechtigt erkannt wird, gleichzeitig jedoch eine Rechtsgrundlage für die Auferlegung der Rückersatzpflicht im Urteil fehlt, liegt auf der Hand (vgl nur M. K. Greifeneder, JAS 2021, 195 [206]; siehe unten ErwGr 3.3.2.).
[27] Diese Erwägung führt allerdings nicht zum Schluss, der VfGH sei von einer aus einer anderen Rechtsgrundlage als § 89 Abs 4 ASGG zu entnehmenden Befugnis des Sozialgerichts zur Schaffung eines Exekutionstitels ausgegangen (vgl dazu Sonntag, Zur Aufhebung des § 89 Abs 4 ASGG durch den VfGH, in FS Neumayr 2972 [2976], wonach der VfGH davon ausgehe, das Gericht habe § 76 GSVG anzuwenden). Dem VfGH kann zum einen nicht unterstellt werden, er halte (ohne diesbezügliche eindeutige Ausführungen) § 76 GSVG bzw die in Pkt 2.4. genannten Parallelnormen, die sich nach ihrem Wortlaut nur an die Sozialversicherungsträger richten, auch für die Gerichte für maßgeblich. Zum anderen ordnete er gem Art 140 Abs 5 B-VG das Inkrafttreten seiner Aufhebung mehr als ein Jahr nach seinem Erkenntnis an:
[28] Die Möglichkeit der Einräumung einer solchen Frist dient gerade dem Zweck, eine Neuregelung zu ermöglichen, wenn das sofortige Außerkrafttreten einer Regelung wegen der dadurch bewirkten Rechtslücke größere Nachteile mit sich brächte als die übergangsweise Beibehaltung der für verfassungswidrig erkannten Regelung (Rohregger/Pechhacker in Korinek/Holoubek et al, Bundesverfassungsrecht [19. Lfg 2024] Art 140 B-VG Rz 343). Die Einräumung der Frist nach Art 140 Abs 5 B-VG bestätigt insofern den Befund, dass der durch die bloße Aufhebung entstehende Rechtszustand nicht wünschenswert ist.
[29] 2.7. Der Gesetzgeber reagierte auf die Aufhebung mit einer Änderung des § 89 Abs 4 ASGG im Zuge der Zivilverfahrens-Novelle 2022 (ZVN 2022, BGBl I 2022/61 ):
[30] § 89 Abs 4 ASGG wurde durch die neu gefassten Abs 4 (betreffend die Rückersatzpflicht) und 5 (betreffend die im vorliegenden Fall nicht gegenständliche Kostenersatzpflicht des Versicherten) ersetzt.
[31] § 89 Abs 4 ASGG idF ZVN 2022 lautet:
„Wird in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 die Klage abgewiesen, weil eine Rückersatzpflicht des Klägers besteht, so ist ihm unter einem der Rückersatz an den Beklagten aufzuerlegen. Das Gericht kann jedoch bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrages in Teilbeträgen anordnen oder die Rückersatzpflicht zum Teil oder zur Gänze entfallen lassen.“
3. Zum Übergangsrecht
3.1. Keine Anwendung der aufgehobenen Bestimmung auf den vorliegenden Fall
[32] 3.1.1. Art 140 Abs 7 B-VG ordnet die Bindung aller Gerichte und Verwaltungsbehörden an die Aufhebung eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit an. Nach Satz 2 dieser Bestimmung ist jedoch das Gesetz auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls (ein solcher liegt im vorliegenden Fall nicht vor) weiterhin anzuwenden, sofern der VfGH nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht.
[33] Maßgeblich für die weitere Anwendung der aufgehobenen Bestimmung ist, dass sich der Sachverhalt vor der Aufhebung verwirklicht hat (Rohr egger/Pechhacker in Korinek/Holoubek et al, Bundesverfassungsrecht Art 140 B-VG Rz 363). Ein „verwirklichter“ Tatbestand in diesem Sinn liegt vor, wenn ein noch vor dem Zeitpunkt, in dem die Sache selbst entschieden werden soll, verwirklichter, unveränderter Sachverhalt vorliegt, der den Tatbestand einer vom VfGH aufgehobenen Rechtsvorschrift erfüllt (Schäffer/Kneihs in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht [18. Lfg 2017] Art 140 B-VG Rz 90).
[34] 3.1.2. Im Zusammenhang mit der gegenständlichen Aufhebung einer Wortfolge in § 89 Abs 4 ASGG besteht der Sachverhalt, der den Tatbestand der aufgehobenen Rechtsvorschrift erfüllt, darin, dass in Rechtssachen nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die Klage abgewiesen wird, weil eine Rückersatzpflicht des Kl besteht (vgl Sonntag in FS Neumayr 2973 [2977]).
[35] 3.1.3. Im vorliegenden Fall wurde zwar die Klage am 6.12.2021, also vor dem Inkrafttreten der vom VfGH ausgesprochenen Aufhebung mit Ablauf des 31.12.2021, eingebracht. Die Abweisung der Klage erfolgte aber erst am 13.7.2022. Zu diesem Zeitpunkt war die Aufhebung, die nach dem Ausspruch des VfGH mit Ablauf des 31.12.2021 in Kraft trat, bereits nach Art 140 Abs 7 B-VG für die Gerichte bindend. Die vor dem Erkenntnis G 264/2019 geltende Fassung des § 89 Abs 4 ASGG war daher im vorliegenden Rechtsstreit vom Erstgericht nicht mehr anzuwenden. 241
3.2. Gesetzgeberisches Konzept des Übergangsrechts zu § 89 Abs 4 ASGG idF BGBl I 2022/61 (ZVN 2022)
[36] 3.2.1. Nach der Übergangsbestimmung des § 98 Abs 31 ASGG idF der Regierungsvorlage zur Zivilverfahrensnovelle 2022 (ZVN 2022, BGBl I 2022/61) sollte die Neufassung des (hier interessierenden) Abs 4 des § 89 ASGG am 1.1.2022 in Kraft treten und auf Verfahren anzuwenden sein, in denen die Klage nach dem 31.12.2021 eingebracht wird (§ 98 Abs 31 ASGG idF der Regierungsvorlage 1291 BlgNR 27. GP 10).
[37] Die Neufassung wäre damit im unmittelbaren Anschluss an das Wirksamwerden der vom VfGH ausgesprochenen Aufhebung in Kraft getreten.
[38] 3.2.2. Die Materialien führen dazu aus, im ASGG werde eine Nachfolgeregelung für die vom VfGH aufgehobene Sonderbestimmung zu Verfahren über den Rückersatz von zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistungen oder eines Pflegegeldes geschaffen und auch das KBGG und das FamZeitbG entsprechend angepasst (ErläutRV 1291 BlgNR 27. GP 3).
[39] Zur Aufhebung durch den VfGH und den dadurch ausgelösten Regelungsbedarf ist festgehalten, dass Rückzahlungsbescheide der Sozialversicherungsträger über zu Unrecht bezogene Leistungen durch die Erhebung einer Klage außer Kraft und durch die Klageabweisung nicht wieder in Kraft treten. Die abgewiesene Klage beseitige daher den Rückzahlungsausspruch aufgrund des Bescheids, weshalb im § 89 Abs 4 ASGG vorgesehen sei, dass das Sozialgericht einen Rückzahlungsausspruch treffen müsse. Weiters wird dargelegt, dass die Entscheidungskompetenz des Sozialgerichts nach der Entscheidung des VfGH auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht enthalten müsse.
Im Folgenden wird ausgeführt: „Es soll daher eine Rechtsgrundlage für die Festlegung der Rückzahlungsverpflichtung durch die Sozialgerichte geschaffen werden, die diesen Anforderungen entspricht:
Ab 1. Jänner 2022 soll nach Abs 4 zweiter Satz aufgrund von Urteilen über Streitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die festzulegende Rückzahlungsverpflichtung des unterlegenen Klägers bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände auch zum Teil oder zur Gänze entfallen können [...]
“ (ErläutRV 1291 BlgNR 27. GP 15).
[40] 3.2.3. Aus der Nennung des Datums („Ab 1. Jänner 2022“) ist der Wille des Gesetzgebers ersichtlich, das zeitliche Übergangsrecht so zu gestalten, dass ohne zeitliche Lücke nach dem 31.12.2021 die Sozialgerichte verpflichtet sein sollten, in Fällen des materiellen Bestehens einer Rückersatzpflicht dem Leistungsempfänger im klageabweisenden Urteil den entsprechenden Rückersatz aufzuerlegen.
3.3. Geeignete Regelungstechnik zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels
[41] Verfahrensgesetze sind nach stRsp, sofern nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen wurde, immer nach dem letzten Stand anzuwenden (RS0008733 [T1]).
[42] Aus diesem Grundsatz folgt, dass in Fällen, in denen das Gericht die negative Feststellungsklage abweist, weil die Rückersatzpflicht materiell zu Recht besteht, die Frage, ob das Gericht die Befugnis (und Verpflichtung) hat, neuerlich den Rückersatz aufzuerlegen, nach den im Zeitpunkt der Fällung der Entscheidung geltenden Verfahrensvorschriften zu entscheiden ist.
[43] Hätte sich die Übergangsvorschrift darauf beschränkt, das Inkrafttreten des § 89 Abs 4 idF der ZVN 2022 am 1.1.2022 anzuordnen, dann hätte der Gesetzgeber damit sein Ziel, trotz der Aufhebung durch den VfGH lückenlos eine Befugnis des Gerichts zur Auferlegung der Rückersatzpflicht zu schaffen, erreicht: Für Urteile, die bis einschließlich am 31.12.2021 erlassen wurden, ergibt sich diese Verpflichtung aus der weiterhin dem Rechtsbestand angehörenden „alten“ Fassung des § 89 Abs 4 ASGG, für ab dem 1.1.2022 erlassene Urteile hätte sie sich (sofern die Novelle tatsächlich am 1.1.2022 in Kraft getreten wäre) aus der ab diesem Tag geltenden novellierten Fassung der Bestimmung ergeben.
[44] Es ist daher nicht nachvollziehbar, was den Gesetzgeber bewogen hat, die Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 vom Zeitpunkt der Klageeinbringung abhängig zu machen. Denn dadurch sind zeitliche „Lücken“, in denen eine Rechtsgrundlage für die Befugnis des Gerichts, den Rückersatz aufzuerlegen, fehlt, vorprogrammiert.
3.4. Problematik des zeitlichen Übergangsrechts zu § 89 Abs 4 ASGG idF ZVN 2022
[45] [...]
[46] Dazu kommt, dass § 89 Abs 4 und 5 ASGG in der Folge nicht, wie angestrebt, am 1.1.2022, sondern erst am 1.5.2022 in Kraft traten; sie sind nach dem Wortlaut des § 98 Abs 31 ASGG auf Verfahren anzuwenden, in denen die Klage nach dem 30.4.2022 eingebracht wird.
[47] 3.4.2. Eine zeitliche Lücke in der Anwendbarkeit der gesetzlichen Verpflichtung zur Auferlegung des Rückersatzes führt zu dem offenkundig unsachlichen Ergebnis, dass der Leistungsempfänger durch die bloße Klageeinbringung und unabhängig vom materiellen Bestand des Rückforderungsanspruchs die Schaffung eines Rückforderungstitels verhindern könnte (vgl nur M. K. Greifeneder, JAS 2021, 195 [206]). Die Sozialgerichte müssten für Urteile, die aufgrund einer vor dem 1.5.2022 eingebrachten Klage zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem 31.12.2021 ergehen, weiterhin die Berechtigung des Rückersatzanspruchs prüfen, könnten aber keinen Leistungsbefehl über den Rückersatz erlassen.
[48] 3.4.3. Dass ein solches Ergebnis vermieden werden soll, ergibt sich auch aus der systematischen Zusammenschau mit § 72 Z 3 ASGG, der anordnet, dass in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die Klage nicht zurückgenommen werden kann. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Versicherte seiner Zahlungsverpflichtung dadurch entzieht, dass er den ihn belastenden Bescheid durch Klageerhebung außer Kraft setzt und dann die Klage zurückzieht (Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 72 ASGG Rz 6). 242
[49] 3.4.4. Zwar steht dem Gesetzgeber – gerade im Sozialversicherungsbereich – ein Gestaltungsspielraum insofern zu, als er in seinen rechts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Dieser Gestaltungsspielraum bringt es mit sich, dass er auch die rechtspolitische Freiheit hat, im Weg einer Stichtagsregelung festzulegen, ab wann eine neue materiell-rechtliche Bestimmung zu gelten hat (vgl RS0117654). Eine zeitliche Stichtagsregel verstößt daher nicht grundsätzlich gegen das Gleichheitsgebot (RS0053393; RS0117654).
[50] Das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot ist zwar nicht schon dann berührt, wenn das Ergebnis der Normanwendung nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (vgl RS0053882). Es ist allerdings verletzt, wenn der Gesetzgeber zur Zielerreichung völlig ungeeignete Mittel vorsieht oder die vorgesehenen, an sich geeigneten Mittel zu einer sachlich nicht begründbaren Differenzierung führen (RS0058455).
[51] 3.4.5. Eine zeitliche Lücke in der Anwendbarkeit der Regel, nach der die Sozialgerichte in Fällen einer materiell berechtigten Rückersatzpflicht des Leistungsempfängers verpflichtet sind, diesem den Rückersatz aufzuerlegen, führt zu einer Differenzierung je nach dem Zeitpunkt, zu dem das klageabweisende Urteil in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG ergeht. Diese Differenzierung beruht im vorliegenden Fall nicht bloß auf dem späteren Inkrafttreten der ZVN 2022, sondern auf dem Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung.
[52] Dieses Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung in § 98 Abs 31 ASGG ist offenkundig nicht Ausdruck der Inanspruchnahme des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Vielmehr wollte der Gesetzgeber eine Stichtagsregelung, die selbst bei einem Inkrafttreten am 1.1.2022 zu einer zeitlichen Lücke in der Verpflichtung der Gerichte, einen Rückersatzausspruch zu treffen, geführt hätte, gar nicht schaffen.
[53] Gemessen an den Intentionen des Gesetzgebers handelt es sich beim Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung daher um eine offenkundige regelungstechnische Fehlleistung.
[54] 3.4.6. Eine sachliche Rechtfertigung dafür, je nach dem Zeitpunkt der Klageeinbringung und Urteilsfällung trotz materieller Berechtigung des Rückersatzanspruchs dem Gericht die Schaffung eines Titels zu verwehren, ist nicht ersichtlich. Insofern erweist sich das Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung im Übergangsrecht auch als unsachlich iSd Art 7 B-VG.
[55] 3.4.7. Die in § 98 Abs 31 ASGG angeordnete Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Klageeinbringung führt darüber hinaus zu Wertungswidersprüchen, die sich aus der systematischen Zusammenschau von § 89 Abs 4 ASGG und § 31 Abs 4 KBGG oder § 7 Abs 3 FamZeitbG ergeben:
[56]–[60] [...]
[61] 3.4.10. Dass auch § 72 Z 3 ASGG, wonach die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht zurückgenommen werden kann, nur zusammen mit der Möglichkeit der Sozialgerichte, in Rückforderungsstreitigkeiten den Ersatz aufzuerlegen, die Funktionsfähigkeit des gerichtlichen Rückforderungsverfahrens wahren kann (vgl Fink, Sukzessive Zuständigkeit 420), wurde bereits oben ausgeführt.
[62] 3.4.11. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die durch das Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung in § 98 Abs 31 ASGG entstehende zeitliche „Anwendungslücke“ Widersprüche innerhalb der Systematik der Regelung der Rückforderung von Leistungen hervorruft. Diese tritt in Fällen der Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld oder Familienzeitbonus in besonders zugespitzter Weise zutage.
3.5. Zu einer Wertungswidersprüche vermeidenden Auslegung des § 98 Abs 31 ASGG
3.5.1. Grundsätze der Gesetzesauslegung
[63] 3.5.1.1. Für die Auslegung generell-abstrakter Normen sehen §§ 6 und 7 ABGB eine Reihe von Kriterien vor: § 6 ABGB stellt sowohl auf die „eigentümliche Bedeutung der Worte“, und zwar „in ihrem Zusammenhang“ ab, was der Wortinterpretation unter Berücksichtigung des Bedeutungszusammenhangs und der Gesetzessystematik entspricht, als auch auf die „klare Absicht des Gesetzgebers“ und schreibt damit die Erforschung der Absicht des Gesetzgebers vor (8 Ob 563/85). Dabei sind die einzelnen Auslegungsmethoden nicht mechanisch hintereinander anzuwenden, es ist vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehender Kriterien in wertender Entscheidung der Sinn einer Regelung klarzustellen (RS0008877; 8 Ob 563/85; 5 Ob 233/22h). Dass selbst der eindeutige Gesetzeswortlaut keine unübersteigbare Grenze juristischer Argumentation darstellt, ist auf Grundlage des § 7 ABGB in der Rsp anerkannt (vgl RS0008765 [T1]).
[64] In Fällen, in denen das Gesetz in seinem wörtlichen Verständnis offenbare Wertungswidersprüche in der Rechtsordnung provozieren müsste, mit dem bestehenden Wertekonsens innerhalb der Rechtsgemeinschaft unvereinbar oder der „Natur der Sache“ zuwider wäre, ist die Heranziehung von historischem Interpretationsmaterial erforderlich. Gelingt in einem solchen Fall der Nachweis einer vom Wortlaut abweichenden Absicht des Gesetzgebers, so wird diese, unterstützt von den objektiv-teleologischen Argumenten, durchdringen (RS0008765; 10 ObS 126/88; vgl 5 Ob 118/07z; 5 Ob 6/11k). Dabei geht es nicht darum, unter Außerachtlassung der Gewaltenteilung eine als unbefriedigend empfundene Gesetzgebung durch die Rsp zu korrigieren (vgl RS0106011), sondern vielmehr darum, einem eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers, der mit der Gesetzessystematik und ihren zugrunde liegenden Wertungen im Einklang steht, über einen unzulänglich formulierten Gesetzestext hinaus zum Durchbruch zu verhelfen (vgl RS0009100; RS0008763; Kerschner/Kehrer in Klang3 §§ 6, 7 ABGB Rz 101: „Redaktionsversehen“). In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Erzielung eines verfassungswidrigen Auslegungsergebnisses tunlichst zu vermeiden ist (6 Ob 157/14b [ErwGr 4.4.]; RS0008793), sofern sich der Gesetzgeber 243 nicht gezielt über verfassungsgesetzliche Wertungen hinweggesetzt hat (vgl Kerschner/Kehrer in Klang3 §§ 6, 7 ABGB Rz 79).
[65] 3.5.1.2. Im vorliegenden Fall wurde bereits aufgezeigt, dass das gesetzgeberische Ziel darin bestand, für Rückersatzstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG eine Rechtsgrundlage für die Auferlegung des Rückersatzes durch die Sozialgerichte zu schaffen, die lückenlos im Anschluss an das Wirksamwerden der Aufhebung durch den VfGH zur Anwendung kommen sollte.
[66] Ebenso wurde dargestellt, dass der Gesetzeswortlaut insofern, als er die Anwendbarkeit der Neuregelung von der Klageeinbringung ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der novellierten Fassung des § 89 Abs 4 ASGG abhängig macht, der Verwirklichung dieses Ziels entgegensteht. Denn das – nach dem Wortlaut gebotene – Abstellen auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung (ab dem Tag des Inkrafttretens) führt zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten zeitlichen Lücke in der Befugnis der Sozialgerichte, unberechtigten Leistungsempfängern den Rückersatz aufzuerlegen. Eine Auslegung des § 98 Abs 31 ASGG ausschließlich nach grammatikalischen Gesichtspunkten würde – auch das wurde bereits ausgeführt – bei systematischer Betrachtung zu teleologisch-systematischen Wertungswidersprüchen und zu einem unsachlichen Ergebnis führen.
[67] Vor diesem Hintergrund ist es im vorliegenden Fall geboten, die Übergangsvorschrift des § 98 Abs 31 ASGG entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen, dass für die Anwendbarkeit von § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 nicht auf den Zeitpunkt der Klageeinbringung nach dem 30.4.2022 abgestellt wird. Ob darin eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlauts oder eine analoge Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auf Fälle, die nach dem Wortlaut der Übergangsbestimmung von ihr noch nicht erfasst sind, kann dahinstehen.
[68] Diese Auslegung verhilft dem aus den zitierten Materialien ersichtlichen wahren Willen des Gesetzgebers unter Berichtigung des unzulänglich gestalteten Wortlauts (eines offenkundigen Redaktionsversehens) des § 98 Abs 31 ASGG zum Durchbruch und vermeidet eine Auslegung, die unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten wertungswidersprüchlich und mit dem allgemeinen Sachlichkeitsgebot des Art 7 B-VG kaum in Einklang zu bringen wäre.
3.5.2. Ergebnis
Als Ergebnis der vorstehenden Erwägungen wird festgehalten:
[69] § 98 Abs 31 ASGG ist infolge eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers so auszulegen, dass dessen zweiter Satz, wonach § 89 Abs 4 und 5 ASGG idF BGBl I 2022/61 (ZVN 2022) auf Verfahren anzuwenden sind, in denen die Klage nach dem 30.4.2022 eingebracht wird, zumindest für Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG nicht gilt. Die Sozialgerichte haben daher § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 auch in Verfahren, in denen die Klage vor dem 1.5.2022 eingebracht wurde und das Urteil nach diesem Zeitpunkt liegt, anzuwenden.
[...] Die meritorische Entscheidung ist [...] vom Erstgericht unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund – des „Fehlens einer prozessrechtlichen Grundlage“ für die Auferlegung des Rückersatzes an die Bekl – zu treffen.
Eine vollkommen zutreffende Entscheidung mit einem erstaunlichen Begründungsaufwand. Es soll daher versucht werden, die Problemlinien in prozessualer Hinsicht noch einmal nachzuzeichnen. Die Rückzahlungsverpflichtung von € 1.300,– stand im Zeitpunkt der Entscheidung des OGH rechtskräftig fest.
Gem § 354 Z 2 ASVG ist die Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung eine Leistungssache, dh die Feststellung wird jener Verfahrensart zugeordnet, in der Bescheide der Versicherungsträger mit Klage an das Arbeits- und Sozialgericht (und nicht mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht) zu bekämpfen sind. Die Bescheidpflicht bei Rückersatzverpflichtungen ergibt sich aus § 367 Abs 2 ASVG. Dabei kann der Versicherungsträger gem § 107 Abs 3 ASVG bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände, insb in Berücksichtigung der Familien-, Einkommensund Vermögensverhältnisse des Empfängers, auf die Rückforderung (ergänze: ganz oder teilweise) verzichten, sowie die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrages in Teilbeträgen zulassen. Entsprechendes gilt infolge von Parallelbestimmungen auch in den anderen Sozialversicherungsgesetzen. Diese im Verwaltungsverfahren vor dem Versicherungsträger geltende Rechtslage wird im gerichtlichen Verfahrensrecht des ASGG entsprechend gespiegelt: Rechtsstreitigkeiten über die Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung oder – qua Verweisung auf Z 8 dieses Paragrafen – einer zu Unrecht empfangenen Leistung nach dem KBGG, sind Sozialrechtssachen und daher in dem für Sozialrechtssachen geltenden Verfahren zu führen (§ 65 Abs 1 Z 2 ASGG). Da die Bescheide mit der Klage außer Kraft treten, sorgt der Gesetzgeber bei Ansprüchen auf Rückersatz einem möglichen Missbrauch vor: Die Klage kann nicht zurückgenommen werden (§ 72 Z 3 ASGG) und das Gericht hat in einem klagsabweisenden Urteil den Kl zum Rückersatz urteilsmäßig zu verpflichten (§ 89 Abs 4 ASGG).
§ 25a KBGG ordnet an, dass, soweit dieses Bundesgesetz nichts anderes bestimmt, die für Leistungssachen in der KV geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen des ASVG, GSVG, BSVG und Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes (B-KUVG), BGBl 1967/200, anzuwenden sind. Gem § 31 Abs 1 KBGG ist der Leistungsbezieher bei 244 Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unrichtige Angaben oder durch Verschweigung von Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte.
Gem § 65 Abs 1 Z 8 ASGG sind Rechtsstreitigkeiten ua über Ansprüche auf Kinderbetreuungsgeld nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG), BGBl I 2001/103, Sozialrechtssachen. Gem § 72 Z 3 erster Satz ASGG kann eine Klage nicht zurückgenommen werden, wenn es um Rückersatzansprüche nach dem KBGG geht. Daher hat in einer solchen Rechtssache das Gericht gem § 89 Abs 4 erster Satz ASGG dem Bekl im Falle der Abweisung der Klage den Rückersatz urteilsmäßig aufzuerlegen. Das Problem der Verpflichtung des Gerichts zur urteilsmäßigen Verpflichtung des Kl zum Rückersatz besteht also in Leistungssachen nach dem KBGG in ganz gleicher Weise.
Bis zur Aufhebung eines Teils des § 89 Abs 4 ASGG durch den VfGH war das Gericht nach dieser Bestimmung befugt „die Leistungsfrist unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht die Zahlung auch in Raten anordnen“. Die Kognitionsbefugnis des Gerichts blieb also insofern hinter dem Ermessenspielraum des Sozialversicherungsträgers nach § 107 Abs 3 ASVG zurück, als das Gericht nicht auch die Befugnis hatte, die Rückforderung ganz oder teilweise zu erlassen. Ein Sozialversicherungsträger konnte gleichsam nach Gutsherrenart ohne nachprüfende Kontrolle des Gerichts Nachlässe auf Rückersatzforderungen gewähren oder eben auch nicht. Daran fand man lange Zeit nichts auszusetzen, da man die Unüberprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen der Sozialversicherungsträger gleichsam als einen Ausfluss des Selbstverwaltungsprinzips betrachtete. Daran hatte sich freilich schon durch die Rsp des OGH einiges geändert (vgl OGH RS0117386 und RS0119969); in vielen Fällen übt das Gericht daher selbst das Ermessen (OGH RS0084427 zu § 182 ASVG).
Der VfGH erachtete die Beschränkung in § 89 Abs 4 ASGG als gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßend und hob die entsprechenden Wortfolgen auf, wobei der VfGH für das Außerkrafttreten eine Frist bis 31.12.2021 setzte (VfGH 2020/VfSlg 20.434 – Parallelfall nach dem GSVG). Dies wirkte sich aufgrund der Verweisungen entsprechend auch auf Verfahren nach dem KBGG aus, wie auch der Anlassfall zeigt.
Der Gesetzgeber reparierte die Norm im Zuge der Zivilverfahrens-Novelle 2022 (ZVN 2022), BGBl I 2022/61: Seither kann das Gericht nach § 89 Abs 4 zweiter Satz ASGG bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände, insb unter Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Kl, nicht nur die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrages in Teilbeträgen anordnen, sondern auch die Rückersatzpflicht zum Teil oder zur Gänze entfallen lassen.
So weit so gut. Verbockt hat der Gesetzgeber die Sache mit der Übergangsbestimmung: Gem § 98 Abs 31 KBGG idF der ZVN 2022 trat ua § 89 Abs 4 und 5 idF der am 14.4.2022 ausgegebenen ZVN 2022 mit 1.5.2022 in Kraft. Und dann heißt es im zweiten Satz: „§ 89 Abs 4 und 5 sind auf Verfahren anzuwenden, in denen die Klage nach dem 30. April 2022 eingebracht wird.
“
Dies bedeutet: Für Klagen, die noch bis 31.12.2021 erledigt wurden, galt die vom VfGH aufgehobene Bestimmung über die Auferlegung des Rückersatzes. Für Klagen, die im zeitlichen Geltungsbereich der ZVN eingebracht und erledigt wurden, galt – no, na würde ich dazu sagen – diese Novelle. Soweit die Übergangsbestimmung des § 98 Abs 31 KBGG dies bekräftigt, ist sie daher insoweit schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen über die Geltung von Normen redundant. Es sei noch hinzugefügt, dass die Rechtslage und ihre Beurteilung keine andere wäre, wenn es dem Gesetzgeber gelungen wäre, das intendierte Inkrafttreten der Novelle mit 1.1.2022 zu schaffen, wie der OGH in Auseinandersetzung mit der RV dargestellt hat.
Die Übergangsbestimmung enthält aber keine Regelung für Klagen, die vor dem 1.5.2022 (wann immer) eingebracht und zwischen dem 31.12.2021 und dem 1.5.2022 erledigt wurden. Für Klagen, die vor dem 1.5.2022 eingebracht wurden, aber erst nach Inkrafttreten der ZVN 2022 erledigt wurden, enthält die Übergangsbestimmung sogar die gegenteilige Regelung: Sie schließt e contrario die Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG idF der ZVN 2022 aus.
Der übrige Rechtsrahmen betreffend den Rückersatz blieb indes unverändert bestehen, insb die Verpflichtung der versicherten Person zum Rückersatz, die korrespondierende Berechtigung der Behörde bzw des Versicherungsträgers und das Verbot der Klagsrücknahme nach Außerkrafttreten des Rückforderungsbescheides.
Könnte man für den Übergangszeitraum den allgemeinen Rechtsgrundsatz anwenden, dass im Verfahrensrecht stets spätestens das im Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht anzuwenden ist (vgl stRsp OGH RS0008733, für das Rechtsmittelgericht OGH RS0087462), wäre im vorliegenden Fall kein Problem entstanden: Das erstinstanzliche Urteil erging erst am 13.7.2022 und daher im zeitlichen Geltungsbereich der ZVN-Novelle 2022.
Die Klage war aber schon am 6.12.2021 erhoben worden, also lange vor dem 1.5.2022. Und die Übergangsbestimmung regelt von diesem allgemeinen Rechtsgrundsatz Abweichendes; sie stellt – wie wir gesehen haben – auf den Zeitpunkt der Klagseinbringung ab. Die Übergangsbestimmung war also nicht nur für sich überflüssig, sie schließt 245 nicht die Lücke zwischen dem Außerkrafttreten der aufgehobenen und dem Inkrafttreten der novellierten Bestimmung des § 89 Abs 4 ASGG und sie hat durch das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Klagseinbringung eine weitere Lücke erst geschaffen. Diese Lücke betrifft – theoretisch – alle Verfahren, in denen die Klage vor dem 1.5.2022 eingebracht wurde, egal, wann das Urteil ergeht.
Wenn eine gesetzliche Bestimmung, die den Übergang von einer früheren zur aktuellen Rechtslage zu regeln bestimmt ist, durch ihre Formulierung gleich drei Fliegen mit einem Schlag verfehlt, indem sie eine bestehende Lücke nicht schließt, eine weitere Lücke öffnet, die ohne sie gar nicht bestünde, und im Übrigen redundant ist, und steht zugleich fest, dass der Gesetzgeber – den Gesetzesmaterialien zufolge – genau das Gegenteil wollte, dann ist dem OGH darin zuzustimmen, dass man von einem Redaktionsversehen ausgehen muss. Dies bedeutet, dass dem feststehenden Willen des Gesetzgebers auch gegen den strikten Wortlaut des Gesetzes zum Durchbruch zu verhelfen ist (vgl Engisch, Einführung in das juristische Denken [1956] 169 und Rn 221; ihm folgend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3 [1995] 387 und Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff [1982] 393). Und zwar auch und gerade dann, wenn man in die allgemein zu vernehmenden Klagen über eine immer schlechter werdende Legistik gerade im Fall des Justizministeriums nur ungern einstimmen würde.
Auf dieser Grundlage ist methodisch der Weg eröffnet, die von § 98 Abs 31 ASGG irrtümlich verursachte Gesetzeslücke dadurch zu schließen, dass diese Bestimmung, welche die Anwendung des § 89 Abs 4 ASGG vom Zeitpunkt der Klagseinbringung abhängig macht, unangewendet bleibt. Damit wird der Anwendung des § 89 Abs 4 ASVG idF der ZVN (beinhaltend die Verpflichtung des Gerichts, einen Ausspruch über den Rückersatz vorzunehmen) die Bahn geebnet. Der Entscheidung des OGH ist daher in jeder Hinsicht zuzustimmen.
Eine Anmerkung zur Begründung sei noch gestattet: Der enorme Begründungsaufwand des OGH nicht nur zur Erforschung der Rechtslage, sondern auch zur methodischen Frage könnte den Eindruck einer gewissen Unsicherheit erwecken, aus der heraus der Senat nicht nur uns, sondern auch sich selbst alles ganz genau erklären wollte. Der Rezensent kennt das aus eigener beruflicher Erfahrung. Dabei war man sich offenbar nicht darüber klar, ob man jetzt den Wortlaut der Übergangsbestimmung teleologisch reduziert oder die Neufassung des § 89 Abs 4 ASVG analog angewendet hat. Analogie scheidet mE aus, weil man im Ergebnis ja ohnehin jene Gesetzesbestimmung angewendet hat, die in Geltung stand und nach dem Zeitpunkt der Urteilsfindung nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen ohnehin anzuwenden gewesen wäre. Die Nichtanwendung des zweiten Satzes des § 98 Abs 31 ASGG kommt am ehesten einer teleologischen Reduktion der Übergangsbestimmung nahe, allerdings in der Radikalität der gänzlichen Nichtanwendung. Denn es bleibt für diesen zweiten Satz kein denkbarer Anwendungsbereich.
Offen ist noch die Frage, wie in jenen Verfahren vorzugehen war, in denen die Urteilsfällung zwischen 31.12.2021 und 1.5.2022 lag. Man könnte so weit gehen, dass das Gericht in der Konstellation der Bekämpfung eines Rückersatzbescheides, der durch die Klagsführung außer Kraft getreten ist und der Gesetzgeber zugleich anordnet, dass eine Klagsrücknahme nicht zulässig ist, auch ohne die ausdrückliche Norm des § 89 Abs 4 ASGG auf Antrag der Bekl die klagende Partei zum Rückersatz zu verpflichten hätte. Dann diente § 89 Abs 4 ASGG nur einer Klarstellung. Verneint man dies, so stünde der Bekl immer noch frei, nach schlichter Abweisung der Klage, neuerlich einen Rückforderungsbescheid zu erlassen, dessen neuerliche Bekämpfung dann wohl res iudicata entgegenstünde. In dieser Variante hätte also § 89 Abs 4 ASGG, soweit darin der urteilsmäßige Abspruch angeordnet wird, eher verfahrensökonomische Bedeutung. Das ist das Schicksal höchstgerichtlicher Begründungen: Einmal werden sie als zu knapp kritisiert, dann wieder als zu ausufernd. In jedem Fall haben sie die wichtige Funktion, dem Rezensenten auch bei völlig zutreffenden Entscheidungen einen interessanten Gegenstand der Nachbetrachtung zu bieten. 246