SchisslerDie Arbeiter von Nettingsdorf, Bd. 1: Arbeitnehmer
Verlag des ÖGB, Wien 2024, 304 Seiten, gebunden, € 39,-
SchisslerDie Arbeiter von Nettingsdorf, Bd. 1: Arbeitnehmer
Der Autor Peter Schissler hat mit dem zu rezensierenden Buch sowohl ein monumentales als auch beeindruckendes Werk vorgelegt, das weit über die erkennbaren Grenzen einer gewöhnlichen und herkömmlichen historischen Dokumentation hinausgeht. In einer detaillierten wie in der gleichen Weise tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Leben und den Erfahrungen von Arbeitern aus der Papierfabrik im oberösterreichischen Nettingsdorf (Ortsteil von Ansfelden) gelingt es dem Autor, ein buntes und facettenreiches, aber auch akribisch genaues und fundiertes Bild des Arbeitslebens und der sozialen Dynamik in der Region zu zeichnen.
Das Werk bietet eine umfassende Sammlung von Interviews und persönlichen Berichten, die sowohl geschichtliche Perspektiven als auch intime Einblicke in das Leben der Protagonisten gewähren. Durch die sehr detaillierte Darstellung der Familiengeschichten und individuellen Erfahrungswerte und Erlebnisse der Interviewpartner, darunter ua Johann Zöchbauer und Rosa Gutwald, wird die Geschichte des Arbeiterlebens in Nettingsdorf auf den ersten Blick spürbar lebendig und greifbar.
Schissler hat es in vortrefflicher Manier verstanden, die unterschiedlichen Generationen in ihre jeweilige Lebenswelt miteinander zu verweben. Auf diese Art entsteht ein grundlegendes und panoramaähnliches Mosaik, bunt und facettenreich in der Charakteristik, der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen. Die höchst interessanten Erzählungen reichen von den frühen Arbeitserfahrungen der Großeltern bis hin zu den Herausforderungen und Problemen der Nachkommen und illustrieren dabei auf eindrucksvolle Weise den steten Wandel der Arbeitsbedingungen und der gesellschaftlichen Erwartung(shaltung)en über die Jahrzehnte hinweg.
Der eigentliche und keinesfalls zu vernachlässigende Pluspunkt des Werkes von Schissler liegt in seiner Fähigkeit, historische Fakten und persönliche, vertrauliche Geschichten zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen. Der Autor nähert sich seinen Interviewpartnern mit durchgreifender Empathie, höchstem Respekt und großer Sensibilität, was sich sowohl in der Authentizität als auch in der Tiefe der Porträts widerspiegelt. Die Interviews wurden sorgfältig ausgewählt und bieten keinesfalls nur geschichtliche Einblicke, sondern darüber hinaus auch gefühlsbetonte und mehrfach bewegende Schilderungen des Alltagslebens.
Besonders bemerkenswert ist ferner die Art, wie Schissler kompliziert und schwierig scheinende Themenfelder wie beispielsweise Arbeitskämpfe, familiäre Beziehungen und soziale Ungleichheit behandelt. Ihm gelingt es vorbildlich, die bisweilen trockenen Aspekte der Arbeitsgeschichte durch die individuellen Erlebnisse der Befragten mit Leben zu füllen und in der Folge dem Leser ein Gefühl der menschlichen Tragweite und der ebensolchen Dimensionen der Arbeit zu vermitteln.
Folglich möchte der Rezensent betonen, dass die zu besprechende Publikation mehr als nur ein historisches Dokument ist. Im Gegenteil: Das Buch ist ein Zeugnis der menschlichen Solidarität und Resilienz. Der Verfasser hat ein Werk geschaffen, das sowohl für Lai:innen als auch für Fachleute von großem Interesse ist. Es ist ein aufschlussreicher und wertvoller Beitrag zur Sozialgeschichte und zur Erinnerungskultur, der zeigt, wie eng persönliche Schicksale mit größeren gesellschaftspolitischen und historischen Prozessen verbunden sind.
Alles in allem kann man betonen, dass das Buch aus der Sicht des Rezensenten eine mehr als tiefgründige und berührende Darstellung des Arbeitslebens in Nettingsdorf bietet. Es ist ein bedeutsames Stück Historiografie, das die Geschichten der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses und überdies deren Leben und Arbeit in einem durchaus umfassenden historischen Kontext stellt. Wer sich für Aspekte der Unternehmens-, Regional- und Sozialgeschichte, die Arbeiterbewegung und die vielschichtigen menschlichen Aspekte der Arbeitswelt interessiert, dem wird diese bewegende und fundierte Lektüre wärmstens ans Herz gelegt.