Kein Anpassungsbedarf? – Umsetzung der Ratifikation des ILO 190 Übereinkommens gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
Kein Anpassungsbedarf? – Umsetzung der Ratifikation des ILO 190 Übereinkommens gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
Nach jahrelangem gewerkschaftlichen Eintreten für ein internationales Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung wurden die ersten internationalen Normen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt schließlich 2019 auf der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO beschlossen:1, 2 das Übereinkommen über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, 2019 (Nr 190)3 und die ergänzende Empfehlung, 2019 (Nr 206).4 Die Ratifikation5 an sich, dh die Erklärung, sich völkerrechtlich zur Einhaltung eines Übereinkommens zu verpflichten, ist freiwillig. Mit der Ratifikation durch den jeweiligen Staat wird das Übereinkommen völkerrechtlich verbindlich, muss damit im nationalen Recht umgesetzt werden und unterliegt dem ILO-Überwachungsmechanismus.6 Die Kontrolle der Einhaltung geschieht vor allem über Berichtspflichten und dem sogenannten Normanwendungssausschuss.7 Die Empfehlung ist unverbindlich, soll aber als ergänzende und konkretere Handlungsanleitung dienen.
Bis dato haben 45 Mitgliedstaaten das Übereinkommen ratifiziert,8 auch Österreich mit 11.9.2024. In Kraft treten wird es ein Jahr später, am 11.9.2025. Bis dahin ist für Österreich viel zu tun.9
Österreich hat zwar weltweit gesehen einen theoretisch hohen Schutzstandard, vieles davon kommt in der Praxis aber nicht an bzw bietet zu wenig effektiven Schutz.10 Jede 3. Frau und jeder 5. Mann in Österreich waren schon einmal von Gewalt und Belästigung 138 bei der Arbeit betroffen.11 Mehr als 300.000 Menschen waren laut der letzten Arbeitskräfteerhebung 2020 aktuell in ihrer Arbeitsumgebung von Gewalt bedroht oder Mobbing oder Belästigung ausgesetzt.12
Doch die Mehrheit der österreichischen Betriebe tut nichts bzw zu wenig dagegen: In einer europaweiten Unternehmenserhebung der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (ESENER 201913) gaben 55,1 % der Betriebe an, über keine Verfahren zu verfügen, um mit möglichen Fällen von Bedrohung, Beleidigung oder Angriffen durch Kund:innen, Patient:innen oder andere externe Personen umzugehen14 (EU-27: 47,4 %). 66,7 % der befragten Betriebe erklären, dass sie über kein Verfahren für den Umgang mit möglichen Fällen von Mobbing oder Belästigung am Arbeitsplatz verfügen15 (EU-27: 53,7 %).
Auch die arbeitsrechtliche Beratungs- und Rechtsvertretungspraxis der AK Wien zeigt regelmäßig, wie stark AN bspw von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen sind und wie wenig in den Betrieben seitens der AG dagegen getan wird.16, 17 Es müssen somit dringend Maßnahmen gesetzt werden, damit die Ratifikation durch Österreich nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt und Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt effektiv verhindert und bekämpft werden können.
Jahrelang haben Arbeiterkammer, ÖGB und Gewerkschaften – zuletzt auch gemeinsam mit den AG-Sozialpartner:innenorganisationen18 – die österreichische Regierung und den Gesetzgeber aufgefordert, das Übereinkommen Nr 190 zu ratifizieren und ihre Unterstützung mittels ihrer Expertise und ihren Erfahrungen aus der Praxis des Arbeitslebens bei der Umsetzung der Inhalte angeboten. Österreich hat das Übereinkommen schließlich jedoch ohne inhaltliche Änderung von nationalen Gesetzen ratifiziert.19, 20 Die Erläuternden Bemerkungen halten dazu Folgendes fest: „Eine Gegenüberstellung mit der nationalen Rechtslage und Praxis zeigt, dass auf nationaler Ebene kein Anpassungsbedarf besteht; auch gibt es zu den wesentlichen Vorschlägen der Empfehlung entsprechende Umsetzungsmaßnahmen.“21 Dies mutet angesichts der vorhin dargelegten Zahlen doch etwas hochgegriffen an.
Ein umfassender inhaltlicher Abgleich der österreichischen Rechtslage mit den Vorgaben des Übereinkommens ist im Rahmen dieses Artikels nicht möglich.22 Einzelne Aspekte seien hier aber herausgegriffen.
In Österreich hat der:die AG aufgrund der Fürsorgepflicht, die generalklauselartig in § 1157 ABGB sowie § 18 AngG geregelt ist, „die materiellen und immateriellen Interessen“23 seiner:ihrer AN zu schützen. Diese umfassen explizit die Rechtsgüter Leben und Gesundheit sowie ua „Sittlichkeit“.24 Die hM25 geht von einem allgemeinen Persönlichkeitsschutz der AN aus (bspw Verbot von sexueller und sonstiger Belästigung26 sowie Mobbing27 inklusive Abhilfe- und Unterlassungsverpflichtungen).28 Konkretere Vorgaben finden sich bspw in den Gleichbehandlungsgesetzen oder im ASchG29. Der:die AG ist 139 bei Gewalt und Belästigung verpflichtet, für Abhilfe zu sorgen, ansonsten kann dies zu Schadenersatzansprüchen führen.30
Im AN-Schutzrecht31 ist der:die AG nach § 3 ASchG verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der AN in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen und die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie der Integrität und Würde erforderlichen Maßnahmen zu treffen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung arbeitsbedingter Gefahren. Der:die AG hat somit die Arbeit selbst und „auch das Arbeitsumfeld so zu regeln bzw die Arbeitsorganisation so zu gestalten, dass es zu keiner Gefährdung von Gesundheit und Leben“32 der AN kommt. § 2 Abs 7 leg cit ASchG definiert Gefahren als arbeitsbedingte physische und psychische Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen. Nach § 4 ASchG ist der:die AG zu einer Arbeitsplatzevaluierung verpflichtet. Auf Grundlage der Gefahrenermittlung und -beurteilung hat der:die AG Maßnahmen zur Gefahrenverhütung festzulegen. Die festgelegten Maßnahmen sind insb etwa nach Abs 5 Z 2a „nach Zwischenfällen mit erhöhter arbeitsbedingter psychischer Fehlbeanspruchung“ auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls anzupassen. Gemäß den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur ASchG-Novelle 2012 (1983 BlgNR 24. GP)33 sind darunter auch Gewaltübergriffe zu verstehen.34, 35
Im Arbeitsvertragsrecht selbst finden sich keine konkreteren Ansatzpunkte einer Präventionsverpflichtung. Auch im Gleichbehandlungsrecht, bspw in § 6 Abs 1 Z 3 GlBG, gibt es lediglich (ex post) Abhilfe, aber keine expliziten Präventionsverpflichtungen des:der AG. Das Übereinkommen und die Empfehlung enthalten hier Vorgaben, aber auch hilfreiche Konkretisierungen für die Praxis.36
Art 9 des Übereinkommens schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften annehmen, die AG dazu verpflichten, „geeignete und dem Grad ihrer Kontrolle angemessene Schritte zu unternehmen, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, zu verhindern“. Die AG müssen bspw in Beratung mit den AN „sowie ihren Vertretungen“ (in Österreich zB Betriebsräten) eine Arbeitsplatzpolitik zu Gewalt und Belästigung annehmen und diese auch umsetzen.37, 38
Zum möglichen Inhalt der Arbeitsplatzpolitik gibt die Empfehlung39 folgende Punkte vor, die eine solche umfassen sollte: die Erklärung,40 dass Gewalt und Belästigung nicht toleriert werden; Programme zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung mit41 messbaren Zielen; Präzisierung der Rechte und Verantwortlichkeiten von AN sowie des:der AG; Informationen über Beschwerde- und Untersuchungsverfahren; Vorgabe, dass alle internen und externen Mitteilungen zu Vorfällen von Gewalt und Belästigung gebührend berücksichtigt werden und42 in entsprechenden Maßnahmen münden; Präzisierung des Rechts der Personen auf Privatsphäre und Vertraulichkeit unter Abwägung mit dem Recht der AN, auf alle Gefahren aufmerksam gemacht zu werden43 und Maßnahmen zum Schutz von beschwerdeführenden Personen, Opfern, Zeug:innen sowie Hinweisgeber:innen vor Viktimisierung oder Vergeltungsmaßnahmen. Die AN und andere betroffenen Personen sind über die Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dieser Arbeitsplatzpolitik zu informieren und zu schulen.
Das internationale Arbeitsamt konkretisiert die Vorgaben nochmals und empfiehlt in einer eigenen Publikation für AG zusätzlich die Aufnahme folgender Informationen:44 Definitionen und Beispiele verschiedener Arten von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz sowie von inakzeptablen Verhaltensweisen; eine kurze Übersicht über die Auswirkungen 140 von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz und wie sie die Belegschaft und das Unternehmen nachteilig beeinflussen können;45 eine Zusammenfassung der proaktiven Schritte, die vom Unternehmen unternommen wurden, einschließlich des Programms zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung sowie Schulungen für Führungskräfte und Mitarbeiter:innen und schließlich, wie die Arbeitsplatzpolitik umgesetzt, überprüft und überwacht werden kann. Die Publikation enthält auch konkrete Vorschläge zur Implementierung der Maßnahmen.46
In Österreich ist bei der Umsetzung der Arbeitsplatzpolitik an den Abschluss von Betriebsvereinbarungen47, 48 oder an verpflichtende interne Leitlinien zu denken. Als Rechtsgrundlage für eine BV kommen unterschiedliche Bestimmungen im ArbVG in Frage:49 § 96 Abs 1 Z1 Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung; § 97 Abs 1 Z 1 Allgemeine Ordnungsvorschriften, die das Verhalten der AN im Betrieb regeln sowie § 97 Abs 1 Z 9 Maßnahmen zur menschengerechten Arbeitsgestaltung50 und § 97 Abs 1 Z 20 betriebliches Beschwerdewesen.51 Zu denken ist auch an § 92b iVm § 97 Abs 1 Z 25 Betriebliche Frauenförderung.52
Bei den in Betracht kommenden Betriebsvereinbarungstatbeständen handelt es sich nur bei § 97 Abs 1 Z1 um erzwingbare Betriebsvereinbarungen.53 Somit können nicht alle in Frage kommenden Maßnahmen (im vollen Umfang) seitens des BR durchgesetzt werden.54 Zudem müssen laut Rsp55 Betriebsvereinbarungen, die auf § 97 Abs 1 Z 1 basieren, „zum ganz überwiegenden Teil“ das Verhalten der AN im Betrieb regeln und nicht primär Verhaltenspflichten für den:die Betriebsinhaber:in festlegen. Daraus ergeben sich Abgrenzungsprobleme und Defizite in der Praxis. Deshalb erscheint die gesetzliche Normierung eines einheitlichen, erzwingbaren Betriebsvereinbarungstatbestands gegen Gewalt und Belästigung nötig, um den Vorgaben des Übereinkommens in Gesetzgebung und Praxis auch entsprechen zu können.56
Für eine effektive Umsetzung in der Praxis besteht hier Handlungsbedarf in Österreich und eine rechtliche, konkretisierende Verankerung der detaillierten ILO-Vorgaben57 erscheint zudem sinnvoll.
Damit der Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Praxis auch effektiv durchgesetzt werden kann, verpflichtet Art 10 die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen zur Durchsetzung und Abhilfe.58
Es muss ua einen leichten Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemaßnahmen geben. Die Empfehlung konkretisiert in Art 14 bspw das Recht auf Kündigung mit Entschädigung, Wiedereinstellung und Schadenersatz. In dem Zusammenhang sei für Österreich auf die zu kritisierende Judikatur des OGH59 hingewiesen, die – unter Berufung auf die Vorgabe der richtlinienkonformen Auslegung und die Grenzen des Wortlauts des § 12 Abs 7 GlBG – für eine von sexueller Belästigung60 betroffene und deswegen berechtigt vorzeitig ausgetretene AN den Anspruch auf einen immateriellen Schadenersatz ablehnt. Dem ist entgegenzuhalten, dass Art 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) Diskriminierung61 verbietet und sich in der Literatur zusehends die Stimmen derer mehren, die von einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art 21 141 GRC ausgehen.62 Zudem ist auf die Vorgabe des EuGH hinzuweisen, die besagt, dass „das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist“63 und dass sich ein nationales Gericht nicht auf eine stRsp berufen kann, die eine nationale Vorschrift „in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbarten Sinne ausgelegt habe“.64 In Kombination mit den europarechtlichen Vorgaben hinsichtlich „Schadenersatz oder Entschädigung“ (Art 18 GleichbehandlungsRL 2006/5465) bzw „Sanktionen“ (Art 15 AntirassismusRL 2000/4366 und Art 17 RahmenRL 2000/7867) wäre mE somit auch bei berechtigtem Austritt der Zuspruch von immateriellem Schadenersatz möglich und geboten.
Es muss zudem einen leichten Zugang zu sicheren, fairen und wirksamen Melde- und Streitbeilegungsmechanismen und -verfahren geben: bspw Beschwerde- und Untersuchungsverfahren sowie betriebliche und außerbetriebliche Streitbeilegungsmechanismen und Viktimisierungsschutz.
Die AN müssen außerdem das Recht haben, „sich von einer Arbeitssituation zu entfernen, wenn sie hinreichenden Grund zu der Annahme haben, dass diese Situation aufgrund von Gewalt und Belästigung eine unmittelbare und ernste Gefahr für ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit darstellt“ und das, ohne Vergeltungsmaßnahmen oder andere ungerechtfertigte Folgen zu erleiden. In § 8 AVRAG (Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz) findet sich eine derartige Regelung inklusive einem Benachteiligungsverbot. Dass Betroffene in derartigen Ausnahmesituationen allerdings nur schwer einschätzen können, ob eine Gefahr tatsächlich „ernst genug“ ist, um sich rechtmäßig aus der Gefahrensituation begeben zu können, zeigt die Praxisferne dieser unklar definierten Regelung auf. Um AN wirksam zu schützen, wäre mE auch eine ergänzende Regelung im Gleichbehandlungsrecht sinnvoll, wie bspw in § 14 dt AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), der ein explizites Leistungsverweigerungsrecht vorsieht, wenn der:die AG „keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zur Unterbindung einer Belästigung oder sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz“ ergreift und die betroffenen AN berechtigt, „ihre Tätigkeit ohne Verlust des Arbeitsentgelts einzustellen, soweit dies zu ihrem Schutz erforderlich ist“.
Art 1168 gibt ua vor, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich Sensibilisierung und Schulungen zum Thema aktiv werden. Zum einen sollen den AG und AN sowie ihren Verbänden und den zuständigen Behörden Leitlinien, Ressourcen und Schulungen zum Thema, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, bereitgestellt werden69 – Pkt 23 der Empfehlung nennt bspw Musterverhaltensregeln – und zum anderen sollen Initiativen, einschließlich Sensibilisierungskampagnen, durchgeführt werden.
Art 6 normiert, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften und Politiken annehmen müssen, die das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf gewährleisten, insb für weibliche und vulnerable AN und andere Personen, welche unverhältnismäßig stark von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt betroffen sind.70 Die Empfehlung legt in Art 22 dazu fest, dass sich die Mitgliedstaaten bemühen sollen, Statistiken zu erheben und zu veröffentlichen, die nach dem Geschlecht, der Form der Gewalt oder Belästigung und dem Wirtschaftszweig aufgeschlüsselt sind, einschließlich in Bezug auf die in Art 6 des Übereinkommens genannten Gruppen.71
Gem Art 8 müssen die Mitgliedstaaten in Beratung mit den betreffenden AG- und AN-Verbänden feststellen, „in welchen Sektoren oder Berufen und Arbeitssituationen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und andere betroffene Personen Gewalt und Belästigung stärker ausgesetzt sind“ und Maßnahmen ergreifen, um solche Personen wirksam zu schützen. Die Empfehlung führt dazu in Art 9 beispielhaft 142Nachtarbeit, Alleinarbeit, Gesundheitswesen, Gastgewerbe, soziale Dienste, Notfalldienste, hauswirtschaftliche Arbeit, Transport, Bildung oder Unterhaltung an. Ein diesbezügliches Initiativwerden seitens der österreichischen Bundesregierung konnte bis dato nicht wahrgenommen werden.
Auf eine Sozialpartner:inneninitiative darf hier aber hingewiesen werden: In Branchen, wie bspw der Gastronomie, ist das Problem der sexuellen Belästigung und der mangelnden Abhilfe durch die AG besonders gravierend und macht den Bedarf an Prävention deutlich.72 Deshalb wurde in Kooperation der Wirtschaftskammer Fachgruppe Gastronomie Wien mit der AK Wien, der Gewerkschaft vida und der Gleichbehandlungsanwaltschaft ein Leitfaden für Gastronom:innen zur Prävention von sexueller Belästigung in Auftrag gegeben und ein eigenes Schutzkonzept entwickelt.73
Um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt effektiv zu verhindern und zu bekämpfen, braucht es somit ua folgende Maßnahmen:
AG müssen ihre Fürsorgepflicht stärker als bisher wahrnehmen und AN vor Übergriffen schützen.
Es braucht eine Konkretisierung und Präzisierung des ASchG im Hinblick auf Prävention und Verantwortung von AG zur Vermeidung von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Auf betrieblicher Ebene sollten unter frühzeitiger und aktiver Einbindung des BR durch erzwingbare Betriebsvereinbarungen oder verpflichtende interne Leitlinien verbindliche Verhaltensregeln im Umgang mit Gewalt und Belästigung im Interesse der AN festgelegt werden.
Wenn AG kein geeignetes Präventionskonzept vorweisen können – je nach Betriebsgröße bspw eine verpflichtende Ausbildung von Führungskräften, die Etablierung der erforderlichen Kompetenz durch eine eigens geschulte und beauftragte Person zur Prävention im Betrieb, die Einrichtung einer Beschwerdestelle –, muss ein Schadenersatzanspruch für Betroffene gegen den:die AG in der Höhe von mindestens € 5.000,- im Falle einer Belästigung normiert werden.
AG-Interessenvertretungen sind aufgefordert, entsprechende Schulungsmaßnahmen für ihre Mitglieder anzubieten. Eine erste Orientierung für AG bietet die Broschüre der Gleichbehandlungsanwaltschaft zu Abhilfemaßnahmen74 sowie die Sozialpartner:innen-Broschüre „Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz. Instrumente zur Prävention“.75
Um der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung eine stärkere Durchsetzungskraft zu verleihen, sollten auf arbeitsverfassungsrechtlicher Ebene Antidiskriminierungsmaßnahmen und Maßnahmen der betrieblichen Frauenförderung als erzwingbare Betriebsvereinbarungen normiert werden.
Die Beratungserfahrung der Arbeiterkammern zeigt, dass AN sich oft aufgrund der Angst vor Arbeitsplatzverlust davor scheuen, eine Klage im aufrechten Arbeitsverhältnis einzubringen. Gerade im Bereich der Diskriminierung ist es erforderlich, die Last von den Schultern des:der Einzelnen zu nehmen und strukturelle Diskriminierung im Kollektiv effizient und kostengünstig zu bekämpfen. Aus diesem Grund wird die Einführung eines Verbandsklagerechts der Arbeiterkammern, des ÖGB und der Gewerkschaften in diesem Bereich eingefordert.
Zur Sensibilisierung ist eine gemeinsame Kampagne zum Thema Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt durch Regierung, Sozialpartner:innen, Medien und NGOs dringend angesagt.
Mit 11.9.2025 tritt das Übereinkommen für Österreich in Kraft, im Jahr 2026 beginnt die erste Berichterstattung im Rahmen des ILO-Normenüberwachungsmechanismus, um die Umsetzung in Recht und Praxis zu kontrollieren. Bis dahin ist noch Einiges zu tun. Dies war ein erster Einblick.
Die ILO gab Österreich bereits einmal im Bereich der Entgeltdiskriminierung einen wichtigen Anstoß für den Erlass des ersten österreichischen Gleichbehandlungsgesetzes (GlBG) 197976, indem sie ua rügte, dass die damalige Kollektivvertragspraxis von 143 eigenen Frauenlohngruppen,77 die schlechter bezahlt waren als Männer, den Grundsatz des Übereinkommens 100 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit verletzte.78 Österreich könnte diesmal selbst proaktiv werden und nicht erst eine Rüge aus Genf abwarten.
Am Schluss sei nochmals auf den gemeinsamen Sozialpartner:innenbrief79 an den damaligen Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft vom 2.3.2023 hingewiesen und der letzte Satz daraus zitiert: „Die Österreichischen Sozialpartner sprechen sich deshalb gemeinsam dafür aus das ILO Übereinkommen 190 rasch und umfassend umzusetzen und sich damit zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu bekennen […] wir sind gerne bereit an der erfolgreichen Umsetzung mitzuwirken!“