Die Verhältnismäßigkeit von Verfahrensanordnungen der Pensionsversicherungsträger: Analyse der Theorie und Praxis sozialgerichtlicher Verantwortung
Die Verhältnismäßigkeit von Verfahrensanordnungen der Pensionsversicherungsträger: Analyse der Theorie und Praxis sozialgerichtlicher Verantwortung
Dieser Beitrag untersucht die Frage der Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen im Verfahren betreffend Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit vor den Pensionsversicherungsträgern im Hinblick auf ihre Verhältnismäßigkeit. Anstoß für diese Überlegungen war eine beobachtbare Zunahme von Verfahrensanordnungen, deren Verhältnismäßigkeit zumindest bezweifelt werden durfte. Nach Einsatz bestehender Rechtsbehelfe stellte sich heraus, dass in der Praxis eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit solcher Anordnungen häufig nicht erreicht werden konnte. Dieser Beitrag möchte diskutieren, inwiefern das System der sukzessiven Kompetenz geeignet ist, einen effektiven Rechtsschutz vor unverhältnismäßigen Anordnungen der Pensionsversicherungsträger zu gewährleisten.
In einem ersten Schritt werden die Problemstellung sowie die praktischen Hürden der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit anhand von Beispielen erläutert1. In einem zweiten Teil folgen Ausführungen zur sukzessiven Kompetenz der Sozialgerichte im Zusammenhang mit der Kontrolle von Verfahrensanordnungen. Hier wird auch die jüngste Rsp des OGH zur Überprüfung von Verfahrensanordnungen im Rahmen gerichtlicher Vorfragen dargestellt. Im dritten Teil werden deren Implikationen für die gerichtliche Kontrolle der Verhältnismäßigkeit anhand der dargestellten Fallbeispiele analysiert. Die Ergebnisse dieser Analyse werden schließlich zusammenfassend dargestellt. 133
Das Verfahren vor den Pensionsversicherungsträgern wird heute allgemein als Verwaltungsverfahren anerkannt, auf das gem § 360b ASVG auch eine Vielzahl der Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) anwendbar ist.2 Gegen Bescheide des Pensionsversicherungsträgers sieht § 67 ASGG einen Instanzenzug an die ordentlichen Gerichte als Sozialgerichte vor. Es handelt sich hierbei um eine sukzessive Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte als Ausnahmeregelung zum gewaltenteilenden Prinzip der Bundesverfassung. Das Sozialgericht darf daher unter Achtung dieses Prinzips nicht als Kontrollorgan der Pensionsversicherungsträger als Verwaltungsorgane agieren.3 In Verfahren betreffend Leistungen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist es daher wie in den übrigen sozialgerichtlichen Verfahren gängige Praxis, dass das Verfahren vor den Pensionsversicherungsträgern im Zuge des Klageverfahrens nicht näher beleuchtet wird. In der Regel werden nach Anrufung des Gerichts medizinische und berufskundliche Gutachten zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit eingeholt. Unter Würdigung dieser Gutachten ergeht dann die gerichtliche Entscheidung.
Im gerichtlichen Verfahren kann ein vermeintlicher Missstand im Verwaltungsverfahren zwar in der Klage beanstandet werden, die Erfahrung aus der Praxis zeigt aber, dass die erstinstanzlichen Gerichte dieses Vorbringen nicht aufgreifen, geschweige denn im Urteil darüber absprechen. Eine rechtliche Auseinandersetzung mit der Verhältnismäßigkeit von Verfahrensanordnungen des Pensionsversicherungsträgers findet de facto vor dem Sozialgericht nicht statt.4
Für die Antragsteller:innen bedeutet dies, dass in der Praxis kein effektiver Rechtsschutz gegen unverhältnismäßige Verfahrensanordnungen gegeben ist. Die Situation bietet ein Einfallstor für ein willkürliches Vorgehen des Pensionsversicherungsträgers. Drei Beispiele aus der Praxis sollen in Kürze veranschaulichen, welche Anordnungen einer genaueren Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bedürfen würden:
In Fallkonstellation 1 kreuzt ein:e Antragsteller:in im Antrag auf Invaliditätspension an, nicht gehfähig zu sein bzw nicht imstande zu sein, zu einer medizinischen Untersuchung zu erscheinen. Belegt wird dies durch aktuelle Bestätigungen der Transportunfähigkeit. Diese Fälle ergaben sich in letzter Zeit gehäuft bei Betroffenen von schweren Long-Covid-Verläufen. Eine Untersuchung im Eigenheim wird für das Pflegegeldverfahren durchgeführt, für die Feststellung der geminderten Arbeitsfähigkeit jedoch nicht bewilligt. Die behandelnden Ärzte:Ärztinnen attestieren, dass selbst ein Liegendtransport zur Untersuchung mit der Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands einhergeht. Der:Die Antragsteller:in gibt folglich an, nicht an einer Untersuchung teilnehmen zu können, sofern diese nicht im Eigenheim stattfinden kann. Es ergeht ein negativer Bescheid wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht.
In den Fallkonstellationen 2 und 3 kommt es jeweils im Zuge eines Antrags auf Invaliditätspension zu einer psychiatrischen Begutachtung und anschließend zu einer Einladung zu einer mehrstündigen psychodiagnostischen Testung. In beiden Fällen stellt das erste, psychiatrische Gutachten bereits Arbeitsunfähigkeit fest, wovon der:die Antragsteller:in jedoch nicht in Kenntnis gesetzt wird. Dieser Umstand wird erst nach Anforderung des erstellten Gutachtens zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens ersichtlich.
In Fallkonstellation 2 wird der Anordnung zur psychodiagnostischen Testung nicht Folge geleistet. Es ergeht ein negativer Bescheid wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht.
In Fallkonstellation 3 kommt es zur Teilnahme an der psychodiagnostischen Testung. Es ergeht ein negativer Bescheid, weil (vorübergehende) Arbeitsunfähigkeit nicht vorliegt. Aus dem Inhalt der angeforderten Gutachten ergibt sich, wie bereits oben erwähnt, dass das erste Gutachten Arbeitsunfähigkeit festgestellt und geregelte Arbeiten als nicht zumutbar erachtet hat. Aus dem psychodiagnostischen Testbefund geht hervor, dass sich bei einem der durchgeführten Tests Hinweise auf eine nicht authentische Beschwerdenschilderung ergeben. Folglich werden die berichteten Beschwerden in ihrer Gesamtheit als nicht plausibel bewertet und Arbeitsfähigkeit bejaht. Es wird ein psychiatrisches Ergänzungsgutachten erstellt, welches aufgrund der Ergebnisse der psychodiagnostischen Testung nun doch ein Restleistungskalkül bejaht und daher Arbeitsfähigkeit feststellt. Das Ergänzungsgutachten ist dann die Basis für einen negativen Bescheid wegen Nicht-Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen.
In allen drei Beispielen ist es für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wesentlich, ob die angeordneten Untersuchungen den Kriterien einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. In den ersten beiden Fällen würde die im Bescheid begründend angeführte Mitwirkungspflicht nämlich nur dann bestehen, wenn die Anordnung der Untersuchung, an der nicht mitgewirkt wurde, auch verhältnismäßig ist. Im zweiten und dritten Fall wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens bereits das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen bejaht und erst durch das Ergebnis einer weiteren Untersuchung deren Nicht-Vorliegen festgestellt. Ist die Anordnung 134der weiteren Untersuchung nicht verhältnismäßig, so ist kritisch zu hinterfragen, ob deren Ergebnisse für die Begründung eines negativen Bescheids verwertet werden dürfen.
Eine rechtliche Beurteilung der Verhältnismäßigkeit lassen die erstinstanzlichen Urteile leider durchwegs vermissen. Begründend wird die Einhaltung einer strikten Trennung der Justiz von der Verwaltung angeführt. Da vor Gericht ohnehin ein gänzlich neues Verfahren zur Leistungsfeststellung durchgeführt wird, vertrauen die involvierten Personen offenbar darauf, dass letztlich eine gesetzmäßige Entscheidung über den Leistungsanspruch ergeht. Das Rechtsschutzinteresse der Betroffenen gegen missbräuchliche Verfahrensanordnungen bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Einem willkürlichen Vorgehen des Pensionsversicherungsträgers kann damit kein Einhalt geboten werden. Nicht zu vergessen sind die Kosten, die für die Einholung gerichtlicher Sachverständigengutachten entstehen, aber auch die Verfahrensdauer, die sich im sozialgerichtlichen Verfahren teilweise über mehr als ein Jahr erstreckt. Es sind also sowohl verfassungsrechtliche Bedenken als auch Kostenerwägungen, welche eine genauere Betrachtung der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen der Pensionsversicherungsträger notwendig machen. Der folgende Abschnitt gibt einen Einblick in Literatur und Rsp und zeigt, dass die Sozialgerichte im Rahmen ihrer sukzessiven Zuständigkeit sehr wohl Verfahrensmängel des Verwaltungsverfahrens aufgreifen dürfen und in Anbetracht des ansonsten fehlenden effektiven Rechtsschutzes auch müssen.
Bei der sukzessiven Kompetenz kommt es nach der Entscheidung einer Verwaltungsbehörde zur Anrufung eines ordentlichen Gerichts.5 Das verfassungsrechtliche Prinzip der Gewaltenteilung verlangt grundsätzlich, dass die Justiz von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt sein muss. Dies gilt daher auch für wechselseitige Instanzenzüge.6 Die Sozialgerichtsbarkeit in Leistungssachen der Pensionsversicherungsträger hat sich aus der zuvor bestehenden Schiedsgerichtsbarkeit entwickelt, auch die Behördenqualität der Pensionsversicherungsträger hat sich erst nach und nach verfestigt.7 Heute räumt Art 94 Abs 2 B-VG auch für andere Verfahren die Möglichkeit ein, vom Trennungsgrundsatz in einzelnen Angelegenheiten abzuweichen. Ein solcher Instanzenzug muss jedoch gewisse Kriterien erfüllen, um nicht gegen das gewaltenteilende Prinzip zu verstoßen.8 Beispielsweise kommt es im Gerichtsverfahren nicht zu einer echten Überprüfung der verwaltungsbehördlichen Entscheidung, da das Gericht den erlassenen Bescheid nicht abändern darf. Vielmehr geht mit der Klage beim zuständigen Sozialgericht einher, dass der Bescheid durch die Anrufung des Gerichts im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft tritt (§ 71 Abs 1 ASGG). Er wird durch eine gänzlich neue E des ASG ersetzt.9 Daher handelt es sich beim sozialgerichtlichen Verfahren nicht um ein Rechtsmittelverfahren im eigentlichen Sinne.10
Dennoch ergibt sich aus Rechtsschutzerwägungen, dass Verfahrensanordnungen von Versicherungsträgern nicht gänzlich der gerichtlichen Überprüfung entzogen werden können. Verdeutlicht hat dies der OGH in der E 10 ObS 258/02t mit folgenden Worten:
„Die Konstruktion der sukzessiven Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte dürfe keinesfalls dazu missbraucht werden, eine Verkürzung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutzes gegenüber Hoheitsakten herbeizuführen.“
Es entspricht der stRsp des OGH, dass ein vom Sozialversicherungsträger ausgeübtes Ermessen vom Sozialgericht darauf zu überprüfen ist, ob das Ermessen iSd Gesetzes ausgeübt wurde.11 Wird eine Leistung aufgrund eines Ermessensmissbrauchs nicht zuerkannt, so darf das Arbeits- und Sozialgericht auch im Rahmen der sukzessiven Kompetenz urteilsmäßig die Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Erbringung der Leistung aussprechen. Dies fließt aus dem rechtsstaatlichen Prinzip, welches verlangt, dass ein System von Rechtsschutzeinrichtungen Gewähr dafür bietet, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sind.12
Konkretisiert wurde dies in der jüngeren Rsp hinsichtlich der gerichtlichen Klärung von Vorfragen über die Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verfahren betreffend Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit. Der OGH hielt in der E 10 ObS 21/21t fest, dass es sich bei der Anordnung von Untersuchungen durch den Pensionsversicherungsträger um Verfahrensanordnungen und daher um Ermessensentscheidungen handelt. Er stellte weiter fest, dass die Entscheidung über die Anordnung der Untersuchung untrennbar mit der Entscheidung über die Leistung verbunden ist.13 Das Sozialgericht ist folglich befugt, zu überprüfen, ob die durch den Pensionsversicherungsträger angeordnete Untersuchung135 iSd Art 8 EMRK verhältnismäßig – also geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ieS – war.14 Unverhältnismäßig ist eine Anordnung beispielsweise dann, wenn sich aus einem bereits erstellten medizinischen Leistungskalkül ergibt, dass die Anspruchsvoraussetzungen für eine Pflichtleistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit erfüllt sind. In einem solchen Fall sind weitere Begutachtungen für die Ermittlung der Entscheidungsgrundlage nicht mehr erforderlich.15 Die Leistung kann daher nicht mit der Begründung entzogen werden, dass an diesen weiteren Untersuchungen nicht mitgewirkt wurde. Diese weiteren Begutachtungen sind als von vornherein unzulässig zu qualifizieren.16 Kommt das Arbeits- und Sozialgericht daher in der rechtlichen Beurteilung zum Ergebnis, dass die Anordnung einer weiteren Untersuchung durch den Pensionsversicherungsträger unverhältnismäßig war und die Anspruchsvoraussetzungen für den Leistungsbezug erfüllt sind, so darf es die Leistung auch ohne neuerliche Begutachtung im Gerichtsverfahren zuerkennen.17 Zu verweisen ist hier auch auf § 85 ASVG, der normiert, dass der Leistungsanspruch mit der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen entsteht.
Diese Judikatur wurde bereits in einigen rezenten Beiträgen dargestellt.18 In der Praxis stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Rsp auf die eingangs geschilderten Fallkonstellationen übertragbar ist und wie die erstinstanzlichen Gerichte bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorgehen sollen. Dies wird nun im nächsten Abschnitt diskutiert.
Wesentliches Unterscheidungsmerkmal der drei oben erwähnten Fallbeispiele zu der jüngeren OGH-Judikatur in 10 ObS 25/23h ist, dass es sich nicht um Verfahren über die Entziehung einer Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit handelt, sondern um Verfahren über die Zuerkennung einer Leistung.
In Fallkonstellation 1 fand mit Verweis auf die Transportunfähigkeit trotz Einladung zur Untersuchung gar keine Begutachtung im Verwaltungsverfahren statt. Folgt man der Rechtsmeinung Pokornys, läge hier immer eine schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht vor, weil eine Anordnung zur Untersuchung ohnedies erst dann erfolgt, wenn sie im Vorfeld durch den Pensionsversicherungsträger als verhältnismäßig eingestuft wurde.19 Dennoch muss auch diese Ermessensausübung iSd Rechtsschutzgedankens einer Überprüfung im Hinblick auf ihre Gesetzmäßigkeit zugänglich sein.20 Zudem steht eine Ablehnung mit einem bloßen Verweis auf eine mangelnde Mitwirkung an der Untersuchung dem Wortlaut des § 366 Abs 2 ASVG entgegen. Es darf durch die fehlende Teilnahme nicht automatisch vom Nicht-Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ausgegangen werden.21 Vielmehr müsste der Pensionsversicherungsträger unter Würdigung der vorliegenden Beweise eine Begründung anführen, weshalb Arbeitsunfähigkeit im betreffenden Fall nicht vorliegt. Kommt nach der Klageeinbringung das Sozialgericht im Zuge seiner Prüfung zu dem Ergebnis, dass die angeordnete Untersuchung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhält, so hat es auszusprechen, dass eine schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht vorliegt und hat im Hinblick auf den Leistungsanspruch neu zu entscheiden. Dies wäre ein korrekteres Vorgehen als die derzeit gängige Praxis der Erstgerichte, dass die Zumutbarkeit der Mitwirkung an einer Untersuchung ausschließlich medizinisch durch Sachverständige und nicht rechtlich durch das Gericht beurteilt wird. Kommt ein:e Sachverständige:r zum Ergebnis, dass die Mitwirkung an der Untersuchung im Verwaltungsverfahren aus medizinischer Sicht zumutbar gewesen wäre, so geht das Gericht üblicherweise von einer Verletzung der Mitwirkungspflicht zum Stichtag aus, welche erst durch die Teilnahme an der gerichtlich angeordneten Untersuchung durch Sachverständige saniert wird. Rechtliche Konsequenz für den Leistungsanspruch ist die Verschiebung des Stichtags auf den Monatsersten nach der gerichtlichen Begutachtung. Eine medizinische Einschätzung der Zumutbarkeit einer Untersuchung kann jedoch eine ordentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ersetzen. Sie kann bloß eines von mehreren Argumenten sein, welches bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen ist.
In Fallkonstellation 2 wird im Antragsverfahren bei einer Erstbegutachtung Arbeitsunfähigkeit festgestellt, den Einladungen zu weiteren Untersuchungen wird nicht Folge geleistet und es ergeht ein negativer Bescheid wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht. Dieser Fall entspricht in vielerlei Hinsicht 136jener Fallkonstellation, welche den Entscheidungen 10 ObS 21/21t und 10 ObS 25/23h zugrunde liegt. Wird nämlich im Zuge einer Begutachtung bereits Arbeitsunfähigkeit festgestellt, so sind die Anspruchsvoraussetzungen für eine Pflichtleistung des Pensionsversicherungsträgers erfüllt und weitere Untersuchungen daher mangels Erforderlichkeit von vornherein als unverhältnismäßig zu qualifizieren. Es besteht keine Mitwirkungspflicht an einer unverhältnismäßigen Untersuchung, sodass der Bescheid auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung beruht. Das Sozialgericht darf im Zuge der sukzessiven Kompetenz die Verhältnismäßigkeit der Anordnung überprüfen, seine eigene rechtliche Beurteilung vornehmen und die Leistung ohne weitere medizinische Begutachtung durch gerichtlich beeidete Sachverständige zuerkennen.22
In der Praxis viel häufiger zu beobachten ist jedoch Fallkonstellation 3, in welcher die Antragsteller:innen aus Angst vor negativen Konsequenzen der weiteren Einladung zur Untersuchung Folge leisten. In der beschriebenen Fallkonstellation wird im Ergebnis Arbeitsfähigkeit entgegen dem Erstgutachten bejaht und daher ein negativer Bescheid wegen Nicht-Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen erlassen. Oftmals wird erst im laufenden Klageverfahren im Zuge der Vorlage der Gutachten in der Klagebeantwortung ersichtlich, dass ein Ermessensmissbrauch durch den Pensionsversicherungsträger stattgefunden haben könnte, sodass das gerichtliche Verfahren der einzige Rechtsschutzmechanismus bleibt, um die Verhältnismäßigkeit der erfolgten Verfahrensanordnungen zu überprüfen. Umso wünschenswerter wäre es, dass die erstinstanzlichen Gerichte diese Verantwortung auch aufgreifen, was jedoch in der Praxis nicht zu beobachten ist. Wendet man die in der Rsp entwickelten Prinzipien auf den beschriebenen Fall an, so würde das Vorgehen des Pensionsversicherungsträgers einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhalten. Wiederum ist die Anordnung der zweiten Untersuchung als unverhältnismäßig zu qualifizieren, wenn bereits die Erstbegutachtung dauerhafte oder vorübergehende Arbeitsunfähigkeit – und somit das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen – festgestellt hat. Die Komplexität liegt aber darin begründet, dass der:die Antragsteller:in an der zweiten Begutachtung teilgenommen hat und hierin eine Zustimmung in die Untersuchung gesehen werden kann. Der Eingriff in die körperliche Integrität durch eine medizinische Untersuchung kann durch die Zustimmung des:der Betroffenen legitimiert werden.23 Notwendige Voraussetzung hierfür ist aber, dass dem:der Betroffenen sämtliche relevante Informationen zur Verfügung stehen, andernfalls kann nicht von einer informierten Zustimmung ausgegangen werden.24 Die bloße Teilnahme an der Untersuchung reicht nicht aus, um auf eine Zustimmung in den Grundrechtseingriff zu schließen, da die Nicht-Teilnahme mit erheblichen Sanktionen einhergeht.25 Eine Zustimmung kann meines Erachtens daher nur dann angenommen werden, wenn den Antragsteller:innen das Ergebnis der Erstbegutachtung noch vor der Zweitbegutachtung zur Kenntnis gebracht wird. Wenn sie also mit dem Wissen um die bereits festgestellte Arbeitsunfähigkeit zu einer weiteren Begutachtung erscheinen. Dies scheitert jedoch schon daran, dass im laufenden Verfahren vor dem Pensionsversicherungsträger selbst auf konkrete Nachfrage so gut wie nie Akteneinsicht gewährt wird. Die Antragsteller:innen sind daher vorab nicht ausreichend informiert und fühlen sich zur Mitwirkung an der Untersuchung verpflichtet.
Das anhand der drei Beispiele veranschaulichte Vorgehen des Pensionsversicherungsträgers muss in einem Rechtsstaat überprüfbar sein. Die dargestellte Rsp zur Überprüfung von Verfahrensanordnungen ebnet den Weg für die Sozialgerichte, ihre Verantwortung als Rechtsschutzeinrichtungen wahrzunehmen und die Verhältnismäßigkeit als Vorfrage zu prüfen. Stellt sich dabei heraus, dass die Anordnung der zweiten Untersuchung nicht verhältnismäßig war, so sollten die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht verwertet werden dürfen. Das Erstgericht könnte sodann unter Würdigung des Erstgutachtens eine Leistungszuerkennung aussprechen, ohne weitere gutachterliche Untersuchungen im Gerichtsverfahren anzuordnen.
In der Praxis spielt die Behandlung von Vorfragen in sozialgerichtlichen Verfahren betreffend Invaliditätspension eine bloß untergeordnete Rolle. Ausführungen in der Klage zu unverhältnismäßigen Verfahrensanordnungen im Verfahren vor dem Pensionsversicherungsträger werden im schlechtesten Fall gar nicht und im besten Fall durch den Auftrag für eine entgegnende Stellungnahme aufgegriffen. Danach werden Gutachten eingeholt, eine tiefergehende Befassung mit der rechtlichen Problematik erfolgt üblicherweise nicht. Eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Verfahrensanordnungen erfolgt so gut wie nie.
Im Ergebnis dieses Beitrags zeigt sich jedoch, dass die geschilderte Rechtsschutzproblematik zwar de facto besteht, eine Lösung derselben durch Literatur und Rsp aber schon gegeben ist. Es bleibt daher zu hoffen, dass die dargestellte höchstgerichtliche Rsp die Sozialgerichte darin bestärkt, ihre Rechtsschutzfunktion auch im Rahmen der sukzessiven Zuständigkeit ernst zu nehmen und dadurch ihrer rechtsstaatlichen Rolle gerecht zu werden. Die Sozialgerichte sollten daher Klagevorbringen über unverhältnismäßige Verfahrensanordnungen vorfrageweise 137behandeln und erst dann entscheiden, ob die Einholung neuer Sachverständigengutachten erforderlich ist. Dadurch wird zwar der Kontrollfunktion des Gerichts, welche mit dem Konstrukt der sukzessiven Kompetenz eben nicht eingerichtet werden sollte, ein Stück weit die Tür geöffnet. Dennoch bleibt dadurch das gewaltenteilende Prinzip weiterhin gewahrt. Es erfolgt lediglich eine neue rechtliche Beurteilung des Sozialgerichts betreffend eine Verfahrensanordnung, welche in einer neuen Entscheidung über den Leistungsanspruch mündet.26 Nicht zuletzt wäre ein solches Vorgehen auch aus verfahrensökonomischen Gründen iS einer Ersparnis an Zeit und Sachverständigengebühren zu begrüßen.