57Trotz rudimentärer Bewegungsfähigkeit der Extremitäten keine Erleichterung der Betreuung: Weiterleistung von Pflegegeld der Stufe 7
Trotz rudimentärer Bewegungsfähigkeit der Extremitäten keine Erleichterung der Betreuung: Weiterleistung von Pflegegeld der Stufe 7
Voraussetzung für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 7 ist, dass ein Pflegebedürftiger zu keinen willentlich gesteuerten Bewegungen in der Lage ist, die einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann.
Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand – wenn auch geringfügig – zu mindern bzw die Betreuung des Betroffenen zu erleichtern. Bereits ein einziger dem Pflegebedürftigen noch möglicher Bewegungsablauf dieser Qualität schließt die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 aus.
Wenn das Berufungsgericht ausgehend von der bloß rudimentären Fähigkeit des Kl zur zielgerichteten Nahrungsaufnahme und Steuerung seines Rollstuhls eine – wenn auch nur geringfügige – Erleichterung der Betreuung verneint hat, dann liegt darin keine aufzugreifende Fehlbeurteilung.
Der Kl leidet an spinaler Muskelantrophie und bezog Pflegegeld der Stufe 7. Er erlangte die Fähigkeit, kleinere Gegenstände mit einer Hand grob zu ergreifen und eingeschränkt, aber nicht zielsicher, zu bewegen. Mit Bescheid vom 19.1.2022 bemaß die Bekl das Pflegegeld neu und setzte das dem Kl bisher gewährte Pflegegeld auf Stufe 6 herab.
Das Erstgericht wies die auf Weitergewährung des Pflegegeldes der Stufe 7 gerichtete Klage ab. Der Kl könne mittlerweile seine oberen Extremitäten eingeschränkt – zur selbständigen Nahrungsaufnahme sowie zur Fortbewegung mit dem elektrischen Rollstuhl – nutzen, womit eine, wenn auch nur geringfügige, Pflegeerleichterung eingetreten sei. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl Folge und änderte das Ersturteil im klagestattgebenden Sinn ab. Der OGH erklärte die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Bekl mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung für nicht zulässig.
„[6] 1. Voraussetzung für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 7 ist, dass ein Pflegebedürftiger zu keinen willentlich gesteuerten Bewegungen in der Lage ist, die einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann.
[7] Nicht notwendig ist, dass die zielgerichteten Bewegungen noch zur Vornahme der im Pflegegeldrecht maßgebenden Betreuungs- und Hilfsverrichtungen eingesetzt werden können. Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand – wenn auch geringfügig – zu mindern bzw die Betreuung des Betroffenen zu erleichtern. Es genügt, wenn vom Pflegebedürftigen aktive Bewegungen ausgeführt werden können, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht wird.
[8] Bereits ein einziger dem Pflegebedürftigen noch möglicher Bewegungsablauf dieser Qualität schließt die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 aus. Daher besteht etwa schon dann kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7, wenn eine pflegebedürftige Person Essen zielgerichtet zum Mund führen oder 124 einen Schnabelbecher zum Mund heben und daraus trinken kann, solange nur durch diese selbständige Handführung der pflegerische Aufwand bei der Einnahme der Mahlzeiten auch tatsächlich zumindest geringfügig gemindert bzw die diesbezügliche Betreuung – ungeachtet einer allenfalls erforderlichen permanenten Anwesenheit der Pflegeperson – entsprechend erleichtert wird. […]
[10] 2.1 Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist der Kläger nunmehr in der Lage, kleinere Gegenstände mit einer Hand grob zu ergreifen und eingeschränkt, aber nicht zielsicher zu bewegen. Flüssigkeit kann er daher nicht selbständig zu sich nehmen. Wird ihm feste Nahrung entsprechend zerkleinert und in einem Abstand von ca 15 cm bereitgestellt, kann er diese (meist unter Zuhilfenahme beider Hände) ergreifen und zu seinem Mund führen. Die Bewegungen sind aber schlecht gesteuert, wodurch der vorbereitete Teller aus seiner Reichweite rutschen kann, und mitunter misslingt ihm die Nahrungsaufnahme mit den Fingern auch, weshalb bei den Mahlzeiten die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson nötig ist, die wiederholt aktiv eingreifen muss.
[11] Eine entsprechende dauernde Hilfestellung benötigt der Kläger nach dem Urteilssachverhalt auch bei der Fortbewegung mit seinem elektrischen Rollstuhl in der Wohnung: Der Kläger kann den Rollstuhl zwar unter Einsatz des Steuersticks „manchmal gezielt“ im Wohnungsbereich fortbewegen; dabei kommt es aber zu „harten Kontakten“ mit Wänden und Türstöcken, weil er die Geschwindigkeit in den Kurven und beim Bremsen nicht ausreichend kontrollieren kann. Deshalb muss sich ständig eine Pflegeperson in der Nähe aufhalten, um zur Hintanhaltung einer Eigen- oder Fremdgefährdung sofort eingreifen zu können.
[12] Wenn das Berufungsgericht ausgehend von dieser bloß rudimentären Fähigkeit des Klägers zur zielgerichteten Nahrungsaufnahme und Steuerung seines Rollstuhls eine – wenn auch nur geringfügige – Erleichterung der Betreuung verneint hat, dann liegt darin keine aufzugreifende Fehlbeurteilung.
[13] 3. Soweit sich die Beklagte schließlich in ihren weiteren Revisionsausführungen darauf stützt, dass der Kläger immerhin in der Lage sei, auf einem Touchscreen einen Notruf-Button zu betätigen und auf diese Weise einen Rufkontakt herzustellen, was nach der Judikatur die Annahme der Pflegestufe 7 ausschließe, so […] handelt es sich um eine unzulässige und daher unbeachtliche Neuerung, auf die nicht weiter einzugehen ist.“
Im vorliegenden Urteil bewegt sich der OGH hinsichtlich der Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 von seiner bisher restriktiven Auslegung des § 4 Abs 2 Stufe 7 Z 1 BPGG zu einer Auslegung hin, die der Intention der Gesetzgebung mehr entspricht. Hierbei geht es um die Frage, welche Bewegungen ausreichen, um einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 auszuschließen. In der Literatur wurde kritisiert, dass der OGH bereits eine einzige mögliche Bewegung mit einer der vier Extremitäten als den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ausschließend angesehen hat (Greifeneder, Pflegegeld5 [2023] Rz 5.422). Demgegenüber kommt es nach den Gesetzeserläuterungen darauf an, dass „für nahezu alle Alltagsverrichtungen und Tätigkeiten die Hilfe einer anderen Person notwendig ist“ (GP 20 RV 1186, 12). Daraus geht die Intention der Gesetzgebung hervor, dass nicht bereits jede noch so geringe Pflegeerleichterung bzw Erleichterung der Lebensführung bereits Stufe 7 ausschließt (Greifeneder, Pflegegeld5 Rz 5.422). Das Pflegegeld verfolgt den Zweck, pflegebedingte Mehraufwendungen abzugelten, und die Einstufung in eine Pflegegeldstufe hängt vom Pflegeaufwand ab. Es ist vor diesem Hintergrund – auch iS einer verfassungskonformen Interpretation – zu prüfen, inwiefern sich eine Beweglichkeit der Extremitäten im konkreten Fall auf den Pflegealltag auswirkt.
In der Vergangenheit hat der OGH bereits einen Fall entschieden, in denen eine Greifbewegung von Daumen und Zeigefinger der linken Hand eine Steuerung eines Spezialrollstuhls ermöglichte (OGH 2.12.1997, 10 ObS 385/97h), sowie einen weiteren Fall, in dem nur mit Hilfe eines am Handgelenk mittels Manschette befestigten Löffels breiige Nahrung eingenommen werden konnte (OGH 6.11.2007, 10 ObS 114/07y). In beiden Fällen wurde ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 abgelehnt.
In der vorliegenden E wird vom OGH das Augenmerk verstärkt auf die Frage der Pflegeerleichterung gelegt. Er kommt so zum Ergebnis, dass Pflegegeld der Stufe 7 zusteht. Der Kl kann grobe Greifbewegungen durchführen und dadurch feste, entsprechend zerkleinerte Nahrungsmittel selbständig einnehmen und einen elektrischen Rollstuhl steuern. Diese Bewegungsfähigkeit könnte – für sich betrachtet – wohl zu einer Ablehnung des Pflegegeldes der Stufe 7 führen. Bei genauerer Würdigung und Prüfung der tatsächlichen Auswirkungen auf den Pflegalltag ergibt sich, dass dadurch keine – wenn auch nur geringfügige – Erleichterung der Pflege erreicht wird. Denn die Bewegungen sind – nach den Feststellungen – schlecht gesteuert, mitunter misslingt die Nahrungsaufnahme bzw wird der platzierte Teller außer Reichweite verschoben, Geschwindigkeit und Bremsen beim Rollstuhl können nicht ausreichend kontrolliert werden. So ist sowohl beim Essen als auch bei der Fortbewegung mit dem Rollstuhl die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson und bei Bedarf deren aktives Eingreifen notwendig. Unter diesen Umständen kann nicht davon gesprochen werden, dass die Pflege sich – wenn auch nur geringfügig – erleichtert hat.
Ob der OGH in Zukunft auch in Fällen einer geringfügigen Pflegeerleichterung durch die Fähigkeit zur Bewegung der Extremitäten Pflegegeld der Stufe 7 zuerkennt, wenn dennoch für nahezu alle Alltagsverrichtungen und Tätigkeiten die Hilfe einer anderen Person notwendig ist, bleibt abzuwarten. 125