49„Poollösungen“ in der Pflege – Arbeitnehmereigenschaft der vermittelten Pflegekräfte?
„Poollösungen“ in der Pflege – Arbeitnehmereigenschaft der vermittelten Pflegekräfte?
Strittig war im vorliegenden Fall die AN-Eigenschaft von 79 Pflegefachkräften, die über Vermittlung einer GmbH Tätigkeiten im Bereich der Personenbetreuung/Personenpflege für betreuungsbedürftige bzw pflegebedürftige Personen bzw für unterschiedliche Pflegeheime und Institutionen durchgeführt hatten. Mit Bescheid vom 17.5.2022 sprach die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) aus, dass diese Personen 110 auf Grund ihrer Tätigkeit als Pflegefachkräfte für besagte GmbH in näher bezeichneten Zeiträumen der Pflichtversicherung in der KV, UV und PV gem § 4 Abs 2 ASVG unterlegen seien. Die GmbH wurde verpflichtet, Beiträge und Zuschläge nachzuentrichten.
Gegen diesen Bescheid erhoben die mitbeteiligten Parteien (24 dieser 79 Pflegekräfte) Beschwerden an das BVwG.
Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG den Beschwerden auf Basis folgender Feststellungen statt:
Zwischen der GmbH als Auftraggeberin und den Pflegefachkräften als Auftragnehmern sei ein „Kooperationsvertrag“ abgeschlossen worden. Weiters sei es zwischen den jeweiligen Pflegeinstituten als Auftraggeber und der GmbH als Auftragnehmerin zu „Auftragsvereinbarungen für Pflegedienstleistungen“ gekommen. Die Pflegefachkräfte hätten der GmbH aus eigener Initiative bis zum 15. des Monats bekannt gegeben, an wie vielen bzw an welchen Tagen sie im darauffolgenden Monat für einen möglichen Einsatz in den pflegenden Institutionen zur Verfügung stünden. Bei Bedarf seien sie von der GmbH kontaktiert worden und hätten im Einzelfall den vorgeschlagenen Dienst zu- oder abgesagt.
Eine Vertretung für die Ausführung der Pflegetätigkeit durch externe Pflegefachkräfte sei weder vereinbart gewesen noch hätte ernsthaft damit gerechnet werden können. Dass die Pflegefachkräfte für einen zugesagten Termin einen externen Vertreter entsandt hätten, sei nicht vorgekommen. Eine Absage nach Zusage einer Tätigkeit sei seitens der GmbH nicht sanktioniert worden. Bei Entfall hätte sich die GmbH unter Heranziehung einer anderen Pflegefachkraft um Ersatz gekümmert. Die Pflegefachkräfte hätten einzelne Tätigkeiten im Rahmen eines übernommenen Dienstes in den jeweiligen Betrieben ohne Sanktionen ablehnen können.
Aus dem Akt und den Befragungen in der Verhandlung ergebe sich, dass keine Vertretungsregelung vereinbart gewesen sei. Zudem hätten sich die Pflegefachkräfte nie durch externe Personen vertreten lassen. Die Vertretung durch Personen, welche ebenfalls der GmbH an Pflegefachkräften zur Verfügung gestanden seien, sei durch Zeugen in der Verhandlung glaubhaft bestätigt worden. Diese Ausführungen seien auch vor dem Hintergrund, dass es sich im vorliegenden Fall um eine sensible Tätigkeit handle, bei der ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit vorausgesetzt werden müsse, nachvollziehbar. Zudem habe glaubhaft dargelegt werden können, dass die genannten Pflegefachkräfte auch bereits übernommene Tätigkeiten sanktionslos absagen hätten können und diesfalls von der GmbH für Ersatz gesorgt worden wäre. In der mündlichen Verhandlung sei deutlich geworden, dass die GmbH ein System etabliert habe, welches gerade kurzfristige Verhinderungen von Pflegefachkräften berücksichtige. Hierzu habe einer der Beschwerdeführer ausgeführt, dass er auch aus eigenen Stücken einen Dienst abschlagen habe können. Auch einer der Zeugen habe ausgeführt, dass er im Falle seiner Verhinderung (zB bei einem Krankheitsfall) eine SMS an die GmbH geschickt habe und sich um keine Vertretung kümmern habe müssen.
Im Gesamtbild ergebe sich, dass es auf Grund des Interesses der Pflegefachkräfte am seitens der GmbH etablierten System im Falle einer Absage oder fehlender Kapazitäten möglich gewesen sei, andere Pflegefachkräfte für einen möglichen Arbeitseinsatz zu kontaktieren.
Das BVwG ging davon aus, dass keine Werkverträge vorgelegen seien. Es bleibe zu prüfen, ob die Tätigkeit in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit von der GmbH als DG gem § 4 Abs 2 ASVG oder im Rahmen eines freien Dienstvertrags gem § 4 Abs 4 ASVG erbracht wurde.
Fallbezogen sei den Pflegefachkräften zwar kein generelles Vertretungsrecht, aber ein die persönliche Arbeitspflicht ausschließendes sanktionsloses Ablehnungsrecht zugekommen. Der GmbH sei im verfahrensgegenständlichen Zeitraum eine nicht abgegrenzte Anzahl an Pflegefachkräften zur Verfügung gestanden. Dadurch sei es ihr im Verhinderungsfall einer einzelnen Pflegefachkraft jederzeit möglich gewesen, eine andere Pflegefachkraft für einen möglichen Einsatz zu kontaktieren. Den genannten Pflegefachkräften sei somit klar gewesen, dass sie sich im Verhinderungsfall einfach melden hätten können, wenn sie einen Dienst nicht antreten konnten bzw wollten. Auf Grund dieses gelebten Systems habe glaubhaft dargelegt werden können, dass die genannten Pflegefachkräfte auch bereits übernommene Tätigkeiten sanktionslos absagen hätten können und diesfalls von der GmbH für Ersatz gesorgt worden wäre.
Zusammengefasst sei keine persönliche Abhängigkeit der Pflegefachkräfte iSd § 4 Abs 2 ASVG von der GmbH vorgelegen, da sie sanktionslos bereits zugesagte Tätigkeiten ablehnen hätten können und zudem nicht in die betriebliche Organisation der GmbH eingegliedert gewesen seien.
Gegen dieses Erkenntnis richtete sich die vorliegende außerordentliche Revision der ÖGK.
Die ÖGK brachte vor, dass das BVwG mit der Feststellung eines sanktionslosen Ablehnungsrechts von der Rsp des VwGH abgewichen sei. Im gegenständlichen Fall hätten die Pflegekräfte angebotene Dienste ablehnen können und lediglich zugesagte Dienste verbindlich einhalten müssen. Ein sanktionsloses Ablehnungsrecht sei weder vereinbart gewesen noch gelebt worden.
Bereits aus diesem Grund war die Revision zulässig und berechtigt. 111
Es entspricht der Rsp des VwGH, dass Grundvoraussetzung für die Annahme persönlicher Abhängigkeit iSd § 4 Abs 2 ASVG und damit eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses stets die persönliche Arbeitspflicht ist. Fehlt sie, dann liegt ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nach dieser Bestimmung nicht vor.
Ein „sanktionsloses Ablehnungsrecht“ in diesem Sinn liegt vor, wenn es dem Beschäftigten offensteht, die Leistung bereits übernommener Dienste jederzeit nach Gutdünken ganz oder teilweise sanktionslos abzulehnen. Der Empfänger der Dienstleistungen kann unter solchen Umständen nicht darauf bauen und entsprechend disponieren, dass dieser Beschäftigte an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit für Dienstleistungen vereinbarungsgemäß zur Verfügung steht. Selbst eine ausdrücklich vereinbarte Befugnis des Beschäftigten, bereits zugesagte Arbeitseinsätze jederzeit nach Gutdünken sanktionslos ablehnen zu können, stünde im Verdacht, ein „Scheingeschäft“ zu sein, wenn eine solche Vereinbarung mit den objektiven Anforderungen der Unternehmensorganisation nicht in Einklang zu bringen wäre. Anders wäre ein Sachverhalt aber zB dann zu beurteilen, wenn der DG einfache Aushilfsarbeiten derart organisiert, dass für deren Durchführung jederzeit mehrere abrufbare Arbeitskräfte zur Verfügung stehen („präsenter Arbeitskräftepool“) und es ihm nicht zuletzt wegen der Einfachheit der Arbeiten gleichgültig ist, von welcher gleichwertigen Arbeitskraft er die Arbeiten verrichten lässt. Stehen genügend Arbeitskräfte zur Verfügung, dann könnte der einzelne Teilnehmer am „Pool“ tatsächlich davon ausgehen, einzelne Arbeitsleistungen jederzeit nach Gutdünken sanktionslos ablehnen zu dürfen.
Das BVwG ist von einem „sanktionslosen Ablehnungsrecht“ iS dieser Rsp ausgegangen. Das findet jedoch in den Feststellungen keine Deckung. Diesen lässt sich weder entnehmen, dass ein sanktionsloses Ablehnungsrecht vereinbart wurde, noch dass es tatsächlich gelebt wurde. Vielmehr ging es laut Feststellungen und Beweiswürdigung um Fälle der Verhinderung, „Ausfälle“ und „Nichtantretenkönnen“ eines Dienstes. Im Übrigen vermochte das Gericht auch nicht darzulegen, dass die für die GmbH tätigen Pflegefachkräfte (79 Personen) tatsächlich einen jederzeit verfügbaren Pool gebildet hätten, der vor dem Hintergrund der Geschäftsbeziehungen der GmbH mit zahlreichen Pflegeinstitutionen und in Anbetracht dessen, dass es nicht bloß um einfache Aushilfsarbeiten ging, ausgereicht hätte, um jederzeit mögliche kurzfristige Absagen durch Ersatzkräfte abzudecken.
Was aber das vom BVwG festgestellte (und auch gelebte) Recht betrifft, angebotene Dienste im Vorhinein abzulehnen, so ist es für die Annahme einer persönlichen Abhängigkeit während der Einsätze selbst nicht von Bedeutung. Sollte es sich bei der vorliegenden Konstellation – worauf der festgestellte Sachverhalt laut VwGH hinweist – um Arbeitskräfteüberlassung iSd AÜG handeln, so würde sich das Recht auf Ablehnung einzelner Aufträge im Übrigen auch aus § 2 Abs 2 AÜG ergeben, ohne dass dies die persönliche Arbeitspflicht ausschlösse.
Selbst ein sanktionsloses Ablehnungsrecht wäre aber entgegen der Annahme des BVwG noch nicht iSe völligen Unverbindlichkeit zu verstehen, die auch ein freies Dienstverhältnis ausschlösse. Ein sanktionsloses Ablehnungsrecht nach der Zusage, bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, wird im Allgemeinen vielmehr als einseitiges Gestaltungsrecht des DN oder auch als jederzeitiges fristloses Kündigungsrecht zu deuten sein, wobei aber eine Verpflichtung zur Dienstleistung besteht, soweit bzw solange von der Option kein Gebrauch gemacht wird.
Die Verneinung einer persönlichen Arbeitspflicht erweist sich daher als rechtswidrig; das angefochtene Erkenntnis war wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.