HeinemannArbeit auf Abruf i.S.d. § 12 TzBfG
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 311 Seiten, € 92,50
HeinemannArbeit auf Abruf i.S.d. § 12 TzBfG
„Arbeit auf Abruf“ – eine prekarisierte und flexible Form des Arbeitens, bei der das wirtschaftliche Risiko der:des AG aufgrund ihrer:seiner einseitigen Dispositionsbefugnis hinsichtlich der Lage und des Ausmaßes der Normalarbeitszeit auf die:den AN überwälzt wird – war in Österreich schon vor der Einführung der §§ 19c und 19d AZG regelmäßig sittenwidrig. Ganz anders gestaltet sich die Situation in Deutschland: Gem § 12 Abs 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), in der im zu besprechenden Werk vornehmlich behandelten Fassung (dBGBl I 2018, 2384; aber auch idgF), können AG und AN – in einem gewissen, einzuhaltenden Rahmen – vereinbaren, dass ein:e Teilzeit-AN ihre:seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall, somit auf Abruf der:des AG, zu erbringen hat.
Bei dem vorliegenden Werk von Anna Heinemann handelt es sich um ihre im Jahre 2021 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommene Dissertation, die aufgrund der nach der offiziellen Einreichung erfolgten und notwendig gewordenen (neuerlichen) Gesetzesänderung (in Umsetzung der Transparenz-RL 2019/1152, insb in § 12 Abs 3 TzBfG und § 2 Abs 1 Z 9 Nachweisgesetz [NachwG]), punktuell aktualisiert, respektive ergänzt 72 wurde. Forschungsgegenständlich ist primär die Änderung des § 12 TzBfG mit dBGBl I 2018, 2384, weshalb auf die im Jahr 2022 in § 12 Abs 3 TzBfG erfolgten Änderungen nur im Rahmen der Grundlegung der Tatbestandsmerkmale eingegangen wurde, während im Hauptteil der Arbeit diese jedoch unberücksichtigt blieben.
Das Werk Heinemanns beginnt mit einem Kapitel über Grundlagen und Grundannahmen, in dem die Autorin das Bedürfnis des AN-Schutzes (im Gegensatz zu einer „schrankenlos“ vorherrschenden Privatautonomie) darlegt, sowie ergründet, woraus staatliche Schutzpflichten im Arbeitsrecht abgeleitet werden können und worin diese inhaltlich bestehen. Darauf folgt im dritten Kapitel eine ausführliche Darlegung der Tatbestandsmerkmale der sogenannten „Arbeit auf Abruf“ iSd § 12 TzBfG, insb auch aus allgemein-zivilrechtlicher Perspektive und in Abgrenzung zu anderen Vertragstypen und Formen der flexiblen Arbeitszeitgestaltung, gefolgt von einer Herleitung des Schutzbedürfnisses der:des AN im Allgemeinen sowie der:des Abruf-AN im Besonderen. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel – beginnend von der erstmaligen Normierung der „Arbeit auf Abruf“ im Jahre 1985, bis zur letzten Gesetzesänderung im Jahr 2022, unter Aufarbeitung der Gesetzesentwürfe sowie der Stellungnahmen von Interessenvertretungen, der Wissenschaft und politischer Parteien – die Entstehungsgeschichte des nunmehr in Geltung stehenden § 12 TzBfG beleuchtet. Schließlich wird im vierten Kapitel – im Hauptteil der Arbeit – die am 1.1.2019 in Kraft getretene Gesetzesänderung von Heinemann dahingehend untersucht, inwiefern die geänderte Norm nunmehr zu einer verstärkten Planungs- und Einkommenssicherheit aus AN-Sicht führt und der Gesetzgeber somit seiner (nach Heinemann bestehenden) Schutzpflicht aufgrund der schwächeren Verhandlungsposition der:des AN entsprochen hat, wobei von der Autorin auch Alternativ- und Ergänzungsvorschläge unterbreitet werden. Im fünften Kapitel der Arbeit schließt Heinemann mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und einem Ausblick.
Zentrale Gründe, weshalb es spezieller Schutzregelungen für Abruf-AN bedarf, sind nach Heinemann einerseits die grundsätzlich bestehende strukturelle Unterlegenheit der AN als Vertragspartner:innen und andererseits die dem Modell „Arbeit auf Abruf“ immanente Planungs- und Einkommensunsicherheit. Die Planungsunsicherheit besteht nicht nur hinsichtlich des (Nicht-)Wissens, wann Arbeit zu erbringen ist, sondern selbstverständlich vice versa auch hinsichtlich der privaten Freizeitgestaltung. In Bezug auf die Einkommensunsicherheit – die bei Abrufarbeitsverhältnissen von der konkret abgerufenen Arbeitsleistung abhängt – ist kritisch anzumerken, dass diese Einkommensunsicherheit nicht, wie von Heinemann vertreten, auch von der Höhe der Vergütung beeinflusst wird. Das von Heinemann angeführte niedrige Entgelt, das typischerweise in Branchen, in denen Abrufarbeit häufig erbracht wird, bezahlt wird, führt nämlich nicht – wie jedoch von Heinemann dargelegt – zu einer Einkommensunsicherheit bei der Arbeit auf Abruf. Aus dem Umstand, dass verhältnismäßig niedrige Löhne gezahlt werden, lässt sich allein noch keine Einkommensunsicherheit ableiten. Das Entgelt bemisst sich höhenmäßig zentral nach der geleisteten (Zeit-)Einheit. Die Unsicherheit hinsichtlich des zu erzielenden Einkommens ist vielmehr exklusiv im unsicheren Arbeitszeitausmaß der:des Abruf-AN zu verorten.
Aus diesem Blickwinkel – nämlich der den Abrufarbeitsverhältnissen immanenten Planungs- und Einkommensunsicherheit – untersucht Heinemann sodann akribisch die Änderung der Bestimmung des § 12 TzBfG, insb verliert sie dabei nie die konträren AG- und AN-Interessen aus den Augen. Auch bei ihren Verbesserungsvorschlägen de lege ferenda gelingt es ihr in eindrucksvoller Art und Weise – aus Sicht der jeweiligen Vertragspartner:innen in praxi –, dem Gesetzgeber Alternativ- und Ergänzungsvorschläge zu unterbreiten. Ein Blick auf diese Alternativ- und Ergänzungsvorschläge ist besonders lohnenswert, da sie nicht nur auf die Rsp und Meinungen im Schrifttum rekurrieren, sondern vielmehr auch versuchen, AN- und AG-Interessen miteinfließen zu lassen.
Kurz näher eingegangen soll auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung Heinemanns mit der (adaptierten) gesetzlichen Fiktion bei Fehlen einer Vereinbarung hinsichtlich des Arbeitszeitumfangs (§ 12 Abs 1 Satz 3 TzBfG) werden. Demnach wurde prima vista durch die Gesetzesänderung zwar nur der fiktive wöchentliche Arbeitszeitumfang von zehn auf 20 Stunden erhöht. Jedoch stellt und stellte sich aufgrund der fehlenden Übergangsbestimmungen die Frage, wie mit bereits bestehenden Abrufarbeitsverhältnissen, die keine Vereinbarung hinsichtlich des Arbeitszeitumfangs beinhalten, verfahren werden sollte. Insb stellt sich diese Frage auch in Hinblick auf (vormalige) geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, da bei einem wöchentlichen Arbeitszeitumfang von 20 Stunden die Geringfügigkeitsgrenze überschritten werden würde. Heinemann legt kurz die im Schrifttum vorhandenen konträren Positionen dar und schließt sich sodann der Meinung an, dass ab 1.1.2019 auch bei Altverträgen nunmehr eine fiktive Arbeitszeit von 20 Wochenstunden vorliegt. Jedoch kann die viel diskutierte ergänzende Vertragsauslegung (der hypothetische Parteiwille) bei geringfügigen Arbeitsverhältnissen nicht beiseitegeschoben werden. Denn der hypothetische Parteiwille (der jedoch nach der nunmehrigen Rsp des BAG nur unter gewissen Voraussetzungen von Relevanz ist, siehe dazu sogleich) wird wohl häufig darin bestehen, dass weiterhin unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze gearbeitet wird. Es ist Heinemann zwar dahingehend beizupflichten, dass Dauerschuldverhältnisse einem steten Wandel unterliegen, jedoch ist es meiner Meinung nach bei einem derart relevanten Vertragsbestandteil wie dem Ausmaß der Arbeitszeit, wo insb bei geringfügigen Arbeitsverhältnissen ein derartiger hypothetischer Parteiwille schlüssig dargelegt werden kann, nicht sachgerecht, primär auf die gesetzliche (Auffangs-)Fiktion zurückzugreifen. Heinemann schließt sich jedoch – ohne weitere Begründung und mE nicht überzeugend – dieser Meinung (wie nunmehr auch das BAG) an.
Aus der Sicht der hM und der früheren Rsp des BAG war die gesetzliche Fiktion der 20 Stunden bei fehlender Festlegung der wöchentlichen Arbeitszeit lediglich ein Auffangtatbestand, primär war im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit zu ermitteln. Es stellte sich die Frage, ob vorrangig der hypothetische Parteiwille zur Ermittlung heranzuziehen ist oder zunächst die 73 gesetzliche Fiktion des § 12 Abs 1 Satz 3 TzBfG greift. Das BAG hat nunmehr entschieden, dass eine Abweichung von der gesetzlich fingierten wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung (hypothetischer Parteiwille) nur angenommen werden kann, wenn die gesetzliche Regelung nicht sachgerecht ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Parteien bei Vertragsschluss übereinstimmend eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit gewollt haben.
Aber auch aus dem Blickwinkel des ebenfalls in Österreich vorherrschenden Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Entgelt“ stellt sich die spannende Frage, inwieweit das in Österreich bestehende Entgeltfortzahlungsrecht – sollte es zu einer Judikaturwende hinsichtlich der Sittenwidrigkeit der sogenannten „Arbeit auf Abruf“ bzw zu einer dahingehenden gesetzlichen Grundlage kommen – auf derartige Konstellationen Antworten findet. Denn nach österreichischem Recht stellt das wirtschaftliche Risiko der:des AG keinen Grund zum Entfall der Entgeltzahlungspflicht dar, in Deutschland besteht durch die Möglichkeit, innerhalb eines Arbeitszeitrahmens weniger Arbeitsleistung abzurufen (§ 12 Abs 2 TzBfG), eine gesetzliche Grundlage zur Überwälzung ebendieses wirtschaftlichen Risikos, wobei dies somit zum Entfall der Entgeltleistungspflicht der:des AG führt. Es handelt sich aus dem Blickwinkel sowohl des deutschen als auch des österreichischen Arbeitsverhinderungsrechts betrachtet somit um eine „systemwidrige Vertragskonstruktion
“. Die Zeit, in der die:der AN nicht abgerufen wird, ist – im Gegensatz zur Arbeitsbereitschaft, die Arbeitszeit ist – als (vergütungsfreie) Freizeit zu qualifizieren. Bei der Rufbereitschaft (§ 20a AZG) handelt es sich zwar auch – wie im Fall, dass die Arbeitsleistung der:des AN nicht abgerufen wird – um Freizeit, jedoch wird diese (wenn auch uU geringer) vergütet. Die vergütungslose Bereithaltung für eine Arbeitsleistung der:des AN aufgrund der kurz bemessenen Frist von vier Tagen zur Mitteilung des Abrufs der Arbeitsleistung stellt die Disponibilität über die Freizeit für Zeiträume, die über die Vier-Tages-Frist hinausgehen, vor – aus AN-Sicht – nicht lösbare Probleme der Freizeitgestaltung, weshalb in Österreich mE zu Recht von einer (grundsätzlichen) Sittenwidrigkeit derartiger Regelungen ausgegangen wird, da die Überwälzung des Unternehmer:innenrisikos auf AN und die Verunmöglichung der Freizeitgestaltung für Zeithorizonte, die vier Tage überschreiten, einer Grenze (§ 879 Abs 1 ABGB) der privatautonomen Vertragsgestaltungsmöglichkeit bedarf.
Abschließend kann der Verfasserin zu ihrem Werk gratuliert werden, wenngleich es für die Publikation wünschenswert gewesen wäre, dass ausführlicher auf die – zwischen Einreichung der Dissertation und der Publikation erfolgte – Gesetzesänderung eingegangen wird, insb die Grenzen des § 12 Abs 3 TzBfG beleuchtet werden und auf die nunmehrig erforderliche Aushändigung einer unterzeichneten Niederschrift gem § 2 Abs 1 Z 9 NachwG stärker hingewiesen wird. Generell hätte meiner Meinung nach durchgängig auf die jetzige Gesetzeslage Bezug genommen werden sollen, was in der Arbeit aber nicht immer der Fall ist. Denn auch der nunmehrige § 12 Abs 3 Satz 1 TzBfG – durch den die Festlegung eines Referenzrahmens, in dem die:der AN zur Arbeitsleistung verpflichtet ist, notwendig wurde – hätte neben der ebenso bedeutsamen Bestimmung des § 2 Abs 1 Z 9 NachwG im Lichte der von Heinemann skizzierten Problematik der Planungs- und Einkommensunsicherheit als relevante diesbezügliche Regelung näher untersucht werden sollen. Doch wird darauf nur am Rande iZm dem Weisungsrecht der:des AG hinsichtlich der Lage der Arbeitszeit eingegangen. An mancher Stelle wäre aus wissenschaftlicher Sicht eine – neben der Darlegung der Rsp und der Meinungen im Schrifttum – ausführlichere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Meinungen in der Literatur sowie die Herausarbeitung eines eigenen Standpunktes und eigener Argumente für den rechtswissenschaftlichen Diskurs wünschenswert gewesen (bspw iZm der gesetzlichen Fiktionsregelung).
Für die:den österreichische:n Leser:in kann ein Blick in das Werk von Heinemann – aufgrund der fundamental unterschiedlichen Rechtslage in Österreich und Deutschland ([grundsätzlich] Sittenwidrigkeit vs gesetzlich normierte Möglichkeit der sogenannten „Arbeit auf Abruf“) – aus wissenschaftlichem Interesse bzw für einen Blick über den Tellerrand von Relevanz sein. Sollte ein zukünftiger Gesetzgeber de lege ferenda eine Regelung für „Arbeit auf Abruf“ treffen wollen, kann er mit dem Werk von Heinemann auf eine umfassende Aufarbeitung der in Deutschland in Geltung stehenden Tatbestandsmerkmale zurückgreifen, insb auch im Lichte des in Österreich – dogmatisch jedoch nicht als grundrechtsinduzierte „staatliche Schutzpflichten“ iSd deutschen Doktrin bezeichnet, sondern als Arbeitszeitschutz, als der:dem AG vom Staat auferlegte Pflicht, AN-Interessen zu schützen und den persönlichen AN-Schutz sicherzustellen – bestehenden umfassenden AN-Schutzrechts (in casu insb das AZG).