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Allgemeiner Bestandschutz und verfehlte Entscheidungsform

THOMASMATHY (INNSBRUCK)
  1. Nach stRsp ist für die Beurteilung, ob ein Urteil oder ein Beschluss vorliegt, nicht die tatsächlich gewählte, sondern die vom Gesetz vorgesehene Form der Entscheidung maßgebend.

  2. Nach stRsp ist für die Beurteilung, ob ein Urteil oder ein Beschluss vorliegt, nicht die tatsächlich gewählte, sondern die vom Gesetz vorgesehene Form der Entscheidung maßgebend.

[1] Das Erstgericht wies mit Urteil das Klagebegehren, die von der Bekl am 10.9.2021 bekannt gegebene Kündigung des Kl aus dem Dienstverhältnis zur Bekl aufgrund des Dienstvertrags vom 29.1.2021 sei rechtsunwirksam, ab. Ausgehend davon, dass dem Kl das eingeschriebene Kündigungsschreiben der Bekl am 16.8.2021 durch Hinterlegung zugestellt worden sei, sei die mit der Klage vom 24.9.2021 vorgenommene Anfechtung der Kündigung außerhalb der zweiwöchigen Frist des § 105 Abs 4 ArbVG und damit verspätet erfolgt.

[2] Das Rekursgericht wies die als Rekurs zu behandelnde „Berufung“ des Kl und die „Berufungsbeantwortung“ der Bekl als verspätet zurück. Die Anfechtungsfrist gegen eine Kündigung sei eine prozessuale Frist, nach § 105 Abs 4 ArbVG verspätete Anfechtungsklagen seien analog § 543 ZPO mit Beschluss zurückzuweisen. Die Abweisung des Klagebegehrens in Urteilsform erweise sich demnach als verfehlt. Die Umdeutung einer Entscheidung durch das Gericht zweiter Instanz beim Vergreifen in der Entscheidungsform durch das Gericht erster Instanz sei grundsätzlich möglich. Die Zulässigkeit einer Anfechtung richte sich allein nach der vom Gesetz vorgeschriebenen Entscheidungsform. Das Vergreifen in der Entscheidungsform beeinflusse weder die Zulässigkeit noch die Behandlung des Rechtsmittels, weil selbst ein Gerichtsfehler nicht zur Verlängerung von Notfristen führen dürfe. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall der fälschlichen Abweisung eines Klagebegehrens mit Urteil, welches richtigerweise mit Beschluss hätte zurückgewiesen werden müssen. Hier habe das Erstgericht in den Entscheidungsgründen unzweifelhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Kl die Anfechtungsfrist nach § 105 Abs 4 ArbVG nicht eingehalten habe, was, weil es sich um eine prozessuale Frist handle, zur Zurückweisung der Klage mit Beschluss hätte führen müssen. Das Erstgericht habe daher nur irrtümlich in Urteilsform entschieden.

[3] Die Entscheidung des Erstgerichts hätte daher nur mit Rekurs angefochten werden können. Das vom Kl dagegen erhobene Rechtsmittel erweise sich somit im Hinblick auf die am 29.4.2022 erfolgte Zustellung der erstgerichtlichen Entscheidung unter Beachtung der 14-tägigen Rekursfrist und das erst am 25.5.2022 erfolgte Einlangen der „Berufung“ als verspätet. Auch die Rechtsmittelbeantwortung sei nicht innerhalb der 14-tägigen Rechtsmittelfrist eingebracht worden.

[4] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Kl mit dem Antrag, den bekämpften Beschluss aufzuheben und dem Berufungsgericht die inhaltliche Entscheidung über seine Berufung aufzutragen.

[5] Die Bekl erstattete keine Rechtsmittelbeantwortung.

[6] Der Rekurs ist zulässig (RS0043802 [T4]; 1 Ob 63/23f Rz 6 mwN), er ist aber nicht berechtigt.

[7] 1. Nach stRsp ist für die Beurteilung, ob ein Urteil oder ein Beschluss vorliegt, nicht die tatsächlich gewählte, sondern die vom Gesetz vorgesehene Form der Entscheidung maßgebend (RS0036324 [T7]; RS0040727 [T1]). Demgemäß bestimmt sich auch die Anfechtbarkeit eines Beschlusses nach der gesetzlich vorgesehenen – also objektiv richtigen – Entscheidungsform (RS0041880). Der tatsächliche oder vermeintliche Wille des Gerichts, in einer bestimmten Form seine Entscheidung zu treffen, ist grundsätzlich ohne Bedeutung, soweit das Gericht nicht bewusst die Rechtsfrage anders qualifiziert und die seiner Rechtsauffassung entsprechende richtige Entscheidungsform wählt (RS0041859 [T6]). Vergreift sich das Gericht in der Entscheidungsform, wählt es also fälschlich jene des Urteils statt jene des Beschlusses oder umgekehrt, so ändert dies nichts an der Zulässigkeit des Rechtsmittels und dessen Behandlung (RS0036324 [T1]; RS0041859 [T1]).

[8] 2. Welche Entscheidungsform die vom Gesetz vorgesehene, also objektiv richtige ist, bestimmt sich nach dem vom Gericht als entscheidend erachteten Umstand. War dieser Umstand ein solcher, der objektiv zu einem Beschluss zu führen hätte, liegt ein Beschluss, war es ein Umstand, der objektiv zu einem Urteil zu führen hätte, liegt ein Urteil vor. Damit ist stets anhand der Begründung der Entscheidung zu untersuchen, welchen Umstand das Gericht als entscheidend betrachtete (RS0040727 [T2, T3]; 3 Ob 67/23h Rz 7 mwN).

[9] 3. Der Rekurswerber stimmt dem Berufungsgericht zwar insofern zu, dass nach stRsp ein Vergreifen des Gerichts in der Entscheidungsform weder die Zulässigkeit noch die Behandlung des gegen die Entscheidung erhobenen Rechtsmittels beeinflusse. Die Verwendung einer falschen Entscheidungsform verlängere nicht die Rechtsmittelfrist; zutreffend sei auch, dass die Anfechtungsfrist gegen eine Kündigung als prozessuale Frist angesehen werde und eine Analogie zu § 543 ZPO zu einer Zurückweisung der Klage führen müsste, welcher Umstand in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen wäre. Der Rekurswerber vertritt jedoch für den gegenständlichen Fall – unter Bezugnahme auf die E 10 ObS 54/22x – die Rechtsansicht, dass es für die Art des zu erhebenden Rechtsmittels darauf ankomme, in welcher Entscheidungsform das Gericht entscheiden habe wollen. Hier habe das Erstgericht erkennbar nicht540 in Beschlussform, sondern in Urteilsform entscheiden wollen. Seine Berufung hätte daher auch als solche behandelt werden müssen.

[10] 4. Die der E 10 ObS 54/22xzugrundeliegende Rechtsauffassung, dass im Fall der Erledigung in Form eines Urteils anstatt mit Beschluss eine Entscheidung aber nur dann als Beschluss zu behandeln ist, wenn sie nach dem klar erkennbaren Entscheidungswillen des Gerichts – klar erkennbar zu Unrecht – bloß als Urteil bezeichnet wurde, wurde mittlerweile von den Senaten 1 (1 Ob 63/23f) und 3 (3 Ob 67/23h) ausdrücklich abgelehnt. Begründet wurde das Festhalten an der stRsp (unter Auseinandersetzung mit dem der E 10 ObS 54/22x zustimmenden Schrifttum) im Wesentlichen damit, dass das Abgrenzungskriterium der (Un-)Zweifelhaftigkeit des subjektiven gerichtlichen Entscheidungswillens – Umdeutung nur dann, wenn das Gericht in den Entscheidungsgründen „unzweifelhaft“ zum Ausdruck bringe, in der richtigen Form entscheiden zu wollen, dann aber „irrtümlich“ die andere wählt – einen beliebigen und nicht näher fassbaren Beurteilungsspielraum für die Rechtsmittelgerichte eröffne. Das schaffe Rechtsunsicherheit. Zudem könne das Abstellen auf die ausschlaggebende Bedeutung des Entscheidungswillens – als Kontrollüberlegung – sogar dazu führen, dass ein Vergreifen in der Entscheidungsform die Rechtsmittelfrist verkürze. Dies wäre dann der Fall, wenn ein Urteil fälschlicherweise als „Beschluss“ ausgefertigt werde und der Entscheidung ein unzweifelhaft auf Fällung eines Urteils gerichteter Entscheidungswille nicht zu entnehmen sei. In diesem Fall wäre von einem „echten“ Beschluss auszugehen, für dessen Anfechtung nur die zweiwöchige (Revisions-) Rekursfrist offen stünde.

[11] 5. Diese Begründung überzeugt. Auch der erkennende Senat erachtet daher auch weiterhin die Beurteilung nach der gesetzlich vorgesehenen – also objektiv richtigen – Entscheidungsform für zutreffend, ohne dass es auf den subjektiven Willen des Gerichts ankommt.

[12] Dem Rekurs des Kl war daher nicht Folge zu geben. [...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Die vorliegende E betrifft eine Anfechtungsklage nach dem allgemeinen Bestandschutz, welche der Kl erst nach Ablauf der Anfechtungsfrist des § 105 Abs 4 ArbVG eingebracht hat. Dieser an sich unscheinbare Sachverhalt wird jedoch durch ein Missgeschick mit einer zwischen den Senaten des OGH strittigen Rechtsfrage aufgeladen: Das Erstgericht vergreift sich in der Entscheidungsform; anstatt die Klage mit Beschluss zurückzuweisen (vgl OGH9 ObA 349/98h RdW 1999, 675; OGH9 ObA 155/11a Arb 13.066), weist es die Klage mit Urteil ab. Dieser Fehler bleibt dem Kl verborgen, weshalb er gegen die Entscheidung ein als Berufung bezeichnetes Rechtsmittel – zwar innerhalb der vierwöchigen Berufungsfrist, aber erst nach Ablauf der 14-tägigen Rekursfrist – einbringt. Das Zweitgericht deutet das Rechtsmittel zunächst als Rekurs (vgl § 84 Abs 2 S 2 ZPO) und weist es in weiterer Folge als verspätet zurück. Gegen diesen Beschluss wiederum erhebt der Kl Rekurs und stützt sich dabei auf eine Judikaturlinie des 10. Senates. Der zufolge soll dann, wenn eine Erledigung fälschlich in Form eines Urteils anstatt richtig mit Beschluss erfolgt, die Entscheidung – entgegen der bisher hA (objektive Theorie) – nicht stets als Beschluss behandelt werden. Das soll vielmehr nur dann der Fall sein, wenn die Entscheidung „nach dem erkennbaren Entscheidungswillen des Gerichts – klar erkennbar zu Unrecht – bloß als Urteil bezeichnet wurdeOGH 28.7.2022, 10 ObS 54/22x Rz 15 mwN). Mit dieser Argumentation dringt der Kl allerdings beim 9. Senat nicht durch: Dieser hält – ebenso wie bereits der 1. Senat (OGH1 Ob 63/23f JBl 2023, 804) und der 3. Senat (OGH3 Ob 67/23h EvBl 2023/290, 989) – hinsichtlich der Rechtsfolgen der verfehlten Entscheidungsform ausdrücklich an der sogenannten („strengen“) objektiven Theorie fest und verweigert damit dem 10. Senat und dessen „Modifikation“ der objektiven Theorie die Gefolgschaft.

2.
Anfechtungsfrist gem § 105 Abs 4 ArbVG: materiell- oder prozessrechtliche Natur

Der allgemeine Bestandschutz stellt nach der österreichischen Arbeitsrechtsordnung eine fristgebundene Anfechtungsklage zur Verfügung, die darauf abzielt, die ausgesprochene Beendigung für rechtsunwirksam zu erklären (§ 25 Abs 7 BRG 1947, § 105 Abs 4 und 7 ArbVG). Die Anfechtungsfrist wurde dabei sowohl unter Geltung des BRG 1947 als auch in den ersten Jahrzehnten der Geltung des ArbVG als materiellrechtliche Präklusivfrist angesehen (VfGHB 15/82 VfSlg 9565; VwGH550/68 VwSlg 7376 A; VwGH83/01/0512 infas 1985 A 93; Floretta/Strasser, BRG2 [1973] 533; Floretta in Floretta/Strasser [Hrsg], ArbVG-HK [1975] 675; aA Floretta/Strasser, BRG [1961] 415; zweifelnd Wachter, Postenlauf und Anfechtungsfrist bei der Kündigungsanfechtung, RdW 1986, 147 f). Eine Neubewertung der Rechtsnatur der Anfechtungsfristen erfolgte jedoch, als mit dem ASGG die Zuständigkeit hinsichtlich betriebsverfassungsrechtlicher Streitigkeiten von den Einigungsämtern auf die ordentliche Gerichtsbarkeit übertragen worden war. Der OGH qualifiziert die Anfechtungsfristen seither als prozessuale Fristen und begründet seine Auffassung damit, dass eine Parallele zwischen § 67 Abs 2 ASGG auf der einen Seite und § 105 Abs 4 ArbVG (iVm § 169 ArbVG, §§ 32 f AVG) auf der anderen Seite bestehe. Beide Regelungen würden lediglich vorsehen, dass die Zeiten des Postlaufes nicht in die Frist einberechnet werden. Den Materialien zu § 67 Abs 2 ASGG sei jedoch zu entnehmen, dass es sich bei diesem um eine prozessuale Frist handle (ErläutRV 7 BlgNR 16. GP 54); Gleiches müsse auch für § 105 Abs 4 ArbVG angenommen werden (OGH9 ObA 289/89 ZAS 1990/20, 166 [Andexlinger]). Trotz der gegen diese Auffassung vorgebrachten Kritik (Andexlinger, ZAS 1990/22,541166 [167 f]; vgl weiters Binder/Mair in Binder/Burger/Mair [Hrsg], AVRAG3 [2017] § 8 Rz 30) blieb der OGH ihr treu: Es entspricht nicht nur stRsp, dass es sich bei den Fristen zur Anfechtung nach dem allgemeinen Bestandschutz um prozessuale Fristen handelt (OGH9 ObA 349/98h RdW 1999, 675; OGH9 ObA 77/23y wbl 2024/54, 226). Vielmehr erstreckt der OGH die prozessrechtliche Qualifikation der Anfechtungsfristen auch auf den individuellen Bestandschutz nach dem GlBG, da dieser seiner Konzeption nach („inhaltliche Regelungsnähe“) der Anfechtung nach dem allgemeinen Bestandschutz entspreche (OGH9 ObA 81/05k Arb 12.601; OGH9 ObA 112/21tDRdA-infas 2022/42, 96). Sofern freilich die Regelungsnähe zum allgemeinen Bestandschutz für sich allein tatsächlich genügen sollte, um die Frist zur Anfechtung einer Kündigung bzw Entlassung als prozessuale zu qualifizieren, müsste dies wohl für weite Teile, wenn nicht den gesamten individuellen Bestandschutz gelten (vgl zB Floretta/Wachter, Anmerkungen zur Kündigungsschutzklage nach §§ 8 und 9 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz, in GedS Rabofsky [1996] 59 [66 f]; Mosler in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 8 AVRAG Rz 66 f; aA Binder/Mair in Binder/Burger/Mair, AVRAG3 § 8 Rz 30).

Die Qualifikation der Anfechtungsfrist als prozessuale Frist zeitigt maßgebliche verfahrensrechtliche Konsequenzen: Sie erlaubt es nicht nur, im Falle der Fristversäumung einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand iSd § 146 ZPO zu stellen (OGH9 ObA 289/89 ZAS 1990/20, 166 [Andexlinger]). Vielmehr leitet der OGH daraus auch ab, dass es sich bei der Einhaltung der Fristen um eine Prozessvoraussetzung – maW um eine Voraussetzung für eine meritorische Entscheidung – handelt. Dies wird insb aus dem Vergleich mit den Fristen für das Einbringen einer Wiederaufnahme- bzw Nichtigkeitsklage gefolgert, die ebenfalls prozessrechtlicher Natur sind. Sofern die Anfechtungsfrist nicht eingehalten wird, ist die Klage daher nicht mit Urteil abzuweisen, sondern mit Beschluss zurückzuweisen (OGH9 ObA 349/98h RdW 1999, 675; OGH9 ObA 155/11a Arb 13.066).

3.
Die verfehlte Entscheidungsform: „objektive“ vs „subjektive“ Theorie

Nach stRsp soll es dann, wenn eine Entscheidung fälschlich als Urteil (anstatt als Beschluss) bzw fälschlich als Beschluss (anstatt als Urteil) ergeht, nicht auf die, vom Gericht tatsächlich gebrauchte Entscheidungsform ankommen („subjektive Theorie“), sondern auf die vom Gesetz vorgesehene Form („objektive Theorie“). Das war in Judikatur (RIS-Justiz RS0036324) und Schrifttum (Fasching, Zivilprozeßrecht: Lehr- und Handbuch2 [1990] Rz 1686; Konecny in Fasching/Konecny3 IV/1 Einleitung IV/1 ZPO Rz 28 [Stand 1.9.2019, rdb.at]) lange Zeit unbestritten (ausführlich zur Entwicklung Schindl, Die verfehlte Entscheidungsform: Rück- und Ausblick, ÖJZ 2023/34, 196 ff). Zunächst musste sich die objektive Theorie freilich bloß in Bezug auf die Statthaftigkeit des Rechtsmittels bewähren. In diesem Bereich führt sie unbestrittenermaßen auch zu überzeugenden Ergebnissen: Die Erhebung von Rechtsmitteln richtet sich allein nach den vom Gesetz für die zu bekämpfende Entscheidung vorgesehenen Voraussetzungen; dementsprechend können die unterinstanzlichen Gerichte den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz mit der Wahl der Entscheidungsform in keiner Weise beeinträchtigen. Als mit der Zivilverfahrens-Novelle 2009 (BGBl I 2009/30) die Rekursfrist (auch) für zweiseitige Rekurse von vier Wochen auf 14 Tage reduziert wurde (§ 521 Abs 1 ZPO), während die Rechtsmittelfrist gegen Urteile unangetastet blieb, wurde die Frage virulent, welche Rechtsfolgen die verfehlte Entscheidungsform für die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels nach sich zieht. Die Gerichte erstreckten die im Bereich der Statthaftigkeit bewährte objektive Theorie auch auf den Bereich der Rechtzeitigkeit (OGH8 ObS 8/10zDRdA 2011, 72). Das ist aber – wenn der Rechtsmittelwerber den Fehler des Gerichtes nicht erkennt – alles andere als unproblematisch (Klicka, Die „verfehlte Entscheidungsform“ im Zivilprozess – neue Rechtsprechung des OGH, ÖJZ 2020/65, 478 f). Vergleichsweise harmlos stellt sich die Rechtslage noch dar, wenn das Gericht fälschlicherweise mit Beschluss entschieden hat; der binnen 14 Tagen im Vertrauen auf die Richtigkeit der Entscheidungsform eingebrachte Rekurs ist in das jeweils statthafte Rechtsmittel (Berufung bzw Revision) umzudeuten (§ 84 Abs 2 S 2 ZPO) und wahrt selbstverständlich die vierwöchige Rechtsmittelfrist. Anders verhält es sich jedoch, wenn der Rechtsmittelwerber nicht erkennt, dass das Gericht fälschlich mit Urteil anstatt mit Beschluss entschieden hat; reizt dieser nämlich im Vertrauen auf die als Urteil ergangene Entscheidung die vermeintliche Rechtsmittelfrist von vier Wochen aus, ist im Zeitpunkt des Einbringens seines als Rekurs zu deutenden Rechtsmittels die 14-tägige Rekursfrist längst verstrichen.

Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass die objektive Theorie in jüngerer Zeit vom 10. Senat des OGH herausgefordert wurde. Die gesetzlich vorgesehene Entscheidungsform soll nur dann maßgeblich für den Rechtsschutz sein, wenn das Gericht in den Entscheidungsgründen „unzweifelhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat“, die richtige Entscheidungsform gebrauchen zu wollen, sich im Spruch jedoch irrtümlich der falschen Form bedient hat (OGH10 ObS 114/20t SSVNF 34/70; OGH 28.7.2022, 10 ObS 54/22x ; zuvor bereits OGH10 Ob 57/18g ecolex 2019/19, 37; OGH10 Ob 6/19h EvBl 2020/68 [Hoch]). Anders als es der Aufbau dieser Urteile suggeriert, liegt keine bloße Modifikation der objektiven Theorie vor. Der 10. Senat folgt im Ergebnis vielmehr der subjektiven Theorie (Schindl, Neues zur verfehlten Entscheidungsform: 10. Senat am Zug, ecolex 2023/527, 835 [836 f]). Dementsprechend bildet der Umstand, dass die vom 10. Senat geforderte (Un-) Zweifelhaftigkeit ein wenig trennscharfes Abgrenzungskriterium darstellt (OGH1 Ob 63/23f JBl 2023, 804; OGH3 Ob 67/23h EvBl 2023/290, 989), wohl noch das geringste Problem dieser Auffassung. Im Gegenteil: Dieses schwer greifbare Krite-542rium erlaubt es dem 10. Senat, die weitreichenden Konsequenzen der subjektiven Theorie zu vermeiden, auf welche sowohl das Schrifttum (zB Schindl, ecolex 2023/527, 835) als auch die anderen Senate (OGH1 Ob 63/23f JBl 2023, 804; OGH3 Ob 67/23h EvBl 2023/290, 989) mit Recht hinweisen. Kommt es nämlich auf den Willen des Gerichtes in Bezug auf die Entscheidungsform an, führt dies nicht nur zu einem vom Gesetz nicht vorgesehenen Rechtsmittelsystem. Vielmehr bestimmt dann auch die Wahl der Entscheidungsform sowohl über die zur Verfügung stehende Rechtsmittelfrist als auch über die zulässigen Rechtsmittelgründe und mitunter sogar über die Zulässigkeit von Rechtsmitteln (vgl zB § 528 Abs 2 Z 2 ZPO).

Die vom 10. Senat geprägte Rechtsprechungslinie erscheint aus all diesen Gründen zwar nicht anschlussfähig, dennoch kommt ihr ein maßgeblicher Verdienst zu. Sie stellt sich dem zentralen Schwachpunkt, der mit der Fruchtbarmachung der objektiven Theorie auch für die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels einhergeht: Obwohl dem Gericht bei der Wahl der Entscheidungsform ein Fehler unterläuft, ist es letztlich die belastete Partei, die die Konsequenz der Fristversäumnis des Rechtsmittels zu tragen hat (Klicka, ÖJZ 2020/65, 478; Schindl, ÖJZ 2023/34, 200 f; Schindl, ecolex 2023/527, 836).

4.
Abmilderung der Folgen der objektiven Theorie

Das wirft die Frage auf, wie mit der offenen Flanke der objektiven Theorie, der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels, umzugehen ist. Den Ausgangspunkt bildet dabei § 84 Abs 2 S 2 ZPO. Dieser ordnet an, dass die unrichtige Benennung eines Rechtsmittels nicht schadet, solange bloß das Begehren deutlich erkennbar ist. Dem lässt sich die Wertentscheidung entnehmen, dass der Gesetzgeber die Parteien „von Einordnungsfragen der verschiedenen Typen von Rechtsmitteln“ entlasten und gerade nicht der Gefahr aussetzen wollte, den Prozess allein deshalb zu verlieren. Es hieße dem Rechtsmittelwerber jedoch Steine statt Brot zu geben, wenn seine unzulässige Berufung gem § 84 Abs 2 S 2 ZPO zwar in einen Rekurs umgedeutet wird, das umgedeutete Rechtsmittel dann aber letztlich wegen des Verstreichens der Rekursfrist zurückzuweisen ist (Klicka, ÖJZ 2020/65, 479).

4.1.
Sinngemäße Anwendung des § 61 Abs 2 und Abs 3 AVG?

Vor diesem Hintergrund tritt Schindl dafür ein, die Frage der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels bei verfehlter Entscheidungsform unter Rückgriff auf das Verwaltungsverfahrensrecht zu lösen: Der Gesetzgeber bestimmt in § 61 Abs 2 und Abs 3 AVG, dass eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung nicht zulasten der Partei gehen dürfe; bei Angabe einer längeren als der gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittelfrist gelten auch solche Rechtsmittel als rechtzeitig, die innerhalb der angegebenen Frist eingebracht werden (§ 61 Abs 3 AVG). Das solle zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit auch gelten, wenn das Gericht mit der Wahl der falschen Entscheidungsform den Eindruck einer längeren Rechtsmittelfrist erweckt. Auf diesem Weg lasse sich nicht nur fristenrechtlicher Vertrauensschutz, sondern auch rechtsmittelrechtliche Naturalrestitution verwirklichen (Schindl, ÖJZ 2023/34, 202; Schindl, ecolex 2023/527, 837 f; dagegen König, Reform der Rechtsmittelbelehrungspflicht im Zivilgerichtlichen Verfahren, ÖJZ 1980, 309 [312]). Im Zuge seiner Bestätigung der objektiven Theorie hat der 1. Senat – anknüpfend an die bisherige Judikatur (OGH 8 Ob 177/99h ZIK 1999, 206; OGH 20.5.2014, 4 Ob 77/14y) – einer sinngemäßen Anwendung des § 61 Abs 2 und Abs 3 AVG freilich eine Absage erteilt und dies damit begründet, dass diese Bestimmungen „an falsche Rechtsmittelbelehrungen an[knüpfen], die es im Anwaltsprozess – wie hier – nicht gibt“. Es fehle daher an einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes (OGH1 Ob 63/23f JBl 2023, 804; dagegen wiederum Schindl, ecolex 2023/527, 837 f). Dieser restriktiven Sichtweise des OGH ist letztlich aus zwei Gründen zuzustimmen.

Zum einen muss es als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers angesehen werden, keine dem § 61 Abs 3 AVG vergleichbare Regel in den Zivilverfahrensgesetzen verankert zu haben: Eine solche Anordnung fehlt nicht nur in jenen Fällen, in denen die Zivilverfahrensgesetze eine Rechtsmittelbelehrung vorsehen (§ 432 Abs 2, § 447 ZPO, § 39 Abs 7 ASGG). Vielmehr muss gerade auch die Entstehungsgeschichte des ASGG als deutliche Absage an einen derartigen Vertrauensschutz verstanden werden. Im Zuge der Gesetzwerdung wurde von Fasching an prominenter Stelle angeregt, die Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung zumindest als „absolute[n] Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ vorzusehen (Fasching, Die verfahrensrechtlichen Probleme der Regierungsvorlage 1982 für ein Bundesgesetz über die Sozialgerichtsbarkeit, DRdA 1983, 229 [236]; vgl auch Pfeil, 18. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht am 24.3. und 25.3.1983 in Zell am See, DRdA 1983, 204 [208]). Der Gesetzgeber ist diesem Vorschlag Faschings – im Gegensatz zu anderen (vgl AB 527 BlgNR 16. GP 4) – nicht gefolgt. Wenn aber die fehlende bzw fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung nicht einmal als privilegierter Wiedereinsetzungsgrund verankert wurde, kann es umso weniger dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass eine solche iSd § 61 Abs 3 AVG automatisch zu einer Verlängerung der Rechtsmittelfrist führt. Nichts anderes kann dann aber auch für einen Gerichtsfehler (= Vergreifen in der Entscheidungsform) gelten, der einer fehlenden bzw fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung gleichzuhalten sein soll. Nur eine scheinbare Ausnahme stellt es auch dar, dass § 61 Abs 3 AVG auf die Klagsfrist gegen Leistungsbescheide der Sozialversicherungsträger angewendet wird (OGH10 ObS 1/02yDRdA 2002/23, 302 [Fink]); das folgt gerade nicht aus der Regelung betreffend die Klagsfrist (§ 67 Abs 2 ASGG), sondern wird aus den vom Sozialversicherungsträger anzuwendenden Verfahrensbestimmungen543 (§ 360b ASVG iVm § 61 AVG: Belehrung bezüglich Bescheidklage) abgeleitet (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 293 f; Hengstschläger/Leeb, AVG § 61 Rz 11 [Stand 1.3.2023, rdb.at]; dagegen Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 360b ASVG Rz 21/4 [Stand 1.12.2020, rdb.at]).

Zum anderen steht die restriktive Haltung des OGH auch im Einklang mit der Handhabung des § 61 Abs 3 AVG durch den VwGH: Zu einer Verlängerung der Rechtsmittelfrist soll es nämlich nur dann kommen, wenn die längere als gesetzlich vorgesehene Frist im Bescheid selbst oder zumindest in einer normativen schriftlichen Mitteilung der Behörde angegeben ist (VwGH2012/10/0134 VwSlg 18.532 A); im Gegensatz dazu führen weder formlose unrichtige Auskünfte der Behörde hinsichtlich der Dauer der Rechtsmittelfrist (VwGH2006/05/0247 ZfV 2007/2332) noch sonstige von der Behörde veranlasste Irrtümer (VwGH 14.12.1994, 94/01/0761) zu einer Verlängerung der Rechtsmittelfristen. Angesichts dieses Maßstabes erscheint der mit der verfehlten Entscheidungsform erweckte implizite Eindruck bezüglich der Rechtsmittelfrist nicht ausreichend, um die Rechtsfolge des § 61 Abs 3 AVG auszulösen. Der durch die verfehlte Entscheidungsform erweckte Anschein lässt sich dementsprechend der fälschlichen Angabe einer zu langen Rechtsmittelfrist in einer Rechtsmittelbelehrung nicht gleichhalten.

4.2.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Auch wenn eine sinngemäße Anwendung des § 61 Abs 3 AVG nicht in Betracht kommt, ist dies nicht gleichbedeutend damit, dass der durch den Gebrauch der falschen Entscheidungsform verursachte Gerichtsfehler zu Lasten der Partei ausschlägt. Mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem § 146 ZPO steht ein originär zivilprozessuales Instrument zur Verfügung, um den durch die verfehlte Entscheidungsform (Urteil statt Beschluss) geschaffenen Anschein einer längeren Rechtsmittelfrist nicht zu Lasten der Partei aufzulösen (ausführlich Schindl, ÖJZ 2023/34, 200 f, auch unter Hinweis auf die problematische Kostentragungsregel des § 154 ZPO). Das entspricht einerseits der Abhilfemöglichkeit, den die zivilgerichtliche Judikatur bei fehlender bzw fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung eröffnet (vgl RISJustiz RS0036701; RIS-Justiz RS0109747) und lässt sich auch insoweit mit der Judikatur des VwGH in Einklang bringen, als eine unrichtige Rechtsauskunft der Behörde im Einzelfall als Wiedereinsetzungsgrund in Betracht kommt (VwGH 2.7.1998, 97/06/0056; VwGH2001/18/0014 VwSlg 15.573 A). Ein Aufgreifen der durch das Vergreifen in der Entscheidungsform verursachten Fristversäumung im Wege der Wiedereinsetzung dürfte auch dem 3. Senat vorschweben (vgl OGH3 Ob 67/23h EvBl 2023/290, 989).

Eine wirksame Abhilfe gewährleistet der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand freilich nur dann, wenn das Nichtauffallen der verfehlten Entscheidungsform als ein minderer Grad des Versehens qualifiziert werden kann. Genau dies wird allerdings mit Blick auf den strengen Maßstab, der an rechtskundige Personen im Allgemeinen und berufsmäßige Parteienvertreter im Besonderen angelegt wird, in Zweifel gezogen (Schindl, ÖJZ 2023/34, 200 f). Juristische Kunstfehler, die diesen unterlaufen, werden regelmäßig als grob fahrlässig qualifiziert (OGH10 ObS 371/01h RdW 2002/318, 307; OGH7 Ob 161/06m EFSlg 115.025). Diese „reflexartige“ Annahme grober Fahrlässigkeit wird im Schrifttum freilich als überschießend kritisiert (Gitschthaler in Rechberger/Klicka [Hrsg], ZPO5 [2019] § 146 ZPO Rz 8/2; Fink, Unrichtige Rechtsmittelbelehrung in einem Leistungsbescheid, DRdA 2002/23, 302 [305]; großzügiger auch VfGHB 567/2013 VfSlg 19.830); das Vorliegen grober Fahrlässigkeit muss immer anhand der Umstände des jeweiligen Falles beurteilt werden (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny3 II/3 § 146 ZPO Rz 55 [Stand 1.10.2015, rdb.at]). Gerade diese lassen den Sorgfaltsverstoß des Rechtsmittelwerbers (bzw des diesem gem § 39 ZPO zuzurechnenden Parteienvertreters), wenn sich das Gericht in der Entscheidungsform vergreift, in einem anderen Licht erscheinen: Das Verschulden kann nämlich nicht losgelöst vom vorangegangenen Verhalten des Gerichtes beurteilt werden. Dieses hat mit der Wahl der verfehlten Entscheidungsform eine – nicht leicht zu erkennende – Gefahrenlage für das Versäumen der Rechtsmittelfrist geschaffen. Das spricht aber dagegen, das Versäumen der Rechtsmittelfrist als grob fahrlässig zu bewerten (vgl Kerschner, DHG4 [2019] § 2 Rz 39).

5.
Fazit

Die vorliegende E führt die stRsp sowohl in Bezug auf die Qualifikation der Anfechtungsfristen gem § 105 Abs 4 ArbVG als prozessuale Fristen und den daraus abgeleiteten prozessrechtlichen Konsequenzen als auch in Bezug auf die rechtsmittelrechtlichen Folgen des Vergreifens in der Entscheidungsform konsequent fort. Damit ergreift auch der 9. Senat Partei für die „strenge“ objektive Theorie, wonach dann, wenn eine Entscheidung fälschlicherweise als Urteil anstatt als Beschluss ergeht, sich nicht nur die Statthaftigkeit, sondern auch die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels allein nach der gebotenen Entscheidungsform richtet. Entgegen des durch die verfehlte Entscheidungsform erweckten Anscheins steht dann zur Erhebung eines Rechtsmittels nur die 14-tägige Rekursfrist und nicht die vierwöchige Berufungsfrist zur Verfügung. Wie der mit seiner „Modifikation“ der objektiven Theorie zunehmend isolierte 10. Senat auf die Ablehnung seiner Auffassung reagieren wird (näher Schindl, ecolex 2023/527, 838) und wie die übrigen Senate eine interessengerechte Abhilfe gegen das durch das Vergreifen in der Entscheidungsform verursachte Versäumen der Rechtsmittelfrist schaffen werden, darf mit Spannung erwartet werden.544