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Covid-19-Infektion einer Schulpsychologin – Teleologische Reduktion der Berufskrankheitenliste?

ELISABETHBISCHOFREITER (WIEN)
  1. Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Materialien ist ableitbar, dass die Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit nach § 177 Abs 1 ASVG iVm Nr 38 der Anlage 1 insofern eingeschränkt sein soll, als nur Beschäftigte erfasst sind, die bei ihrer Tätigkeit in einem Listenunternehmen einer gegenüber der Allgemeinheit besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt seien. Die Möglichkeit der Anerkennung einer Covid-19-Infektion als Berufskrankheit besteht grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tätigkeit im Unternehmen.

  2. Eine teleologische Reduktion des Schutzbereiches der Berufskrankheitenliste ist jedoch nicht generell ausgeschlossen. Ob bei Tätigkeiten in einem Listenunternehmen, die dem Risiko einer Infektion gar nicht ausgesetzt sind, eine teleologische Reduktion erforderlich ist, wird offen gelassen.

[1] Die Kl ist Beschäftigte des Vereins Österreichisches Zentrum für psychologische Gesundheitsförderung im Schulbereich (ÖZPGS) und in den Schulen eines Viertels in Oberösterreich als Schulpsychologin tätig.

[2] In dieser Funktion war sie am 6.10.2020 (Dienstag) in einer Neuen Mittelschule tätig und führte dort Gespräche mit dem Schülercoach und einem Schüler. Am nächsten Tag war sie für ca fünf Stunden in einer Volksschule und führte dort mehrere Gespräche mit Lehrerinnen und dem Direktor. Am 8.10.2020 war sie zunächst für etwa drei Stunden an einem BG/BRG und führte in dieser Zeit neben zahlreichen kürzeren Gesprächen mit Schülern und Lehrerinnen ein ungefähr 45-minütiges Gespräch mit einem Schüler. Anschließend war sie in einer Berufsbildenden Schule, wo sie ebenfalls mehrere Beratungsgespräche mit Schülern und Lehrerinnen durchführte. Am 9.10.2020 (Freitag) war sie nicht beruflich tätig.

[3] Die von der Kl vorab vereinbarten Gesprächstermine dauerten zwischen 15 und 50 Minuten. Zusätzlich führte sie viele spontane Gespräche mit Schülern und Lehrerinnen in den Gängen und an frequentierten Plätzen der Schulen. Sie achtete dabei darauf, einen Abstand von einem bis eineinhalb Metern zum Gesprächspartner einzuhalten; bei Gesprächen in Beratungszimmern vor Ort trug die Kl ein Gesichtsschild. Das Tragen von FFP2-Masken war zu dieser Zeit nicht vorgeschrieben; im Oktober 2020 wurden an den Schulen auch noch keine COVID-19-Tests durchgeführt.

[4] Am 9.10.2020 trat in dem von der Kl besuchten BG/BRG der erste COVID-19-Fall auf. In der Folge wurden 22 von rund 65 Lehrern der Schule positiv getestet. Die Kl zeigte am 11.10.2020 erste Symptome einer Erkrankung und wurde am 12.10.2020 positiv auf SARS-CoV-2 getestet.

[5] Mit Bescheid vom 18.6.2021 sprach die bekl Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass die Erkrankung der Kl nicht als Berufskrankheit anerkannt werde und kein Anspruch auf Leistungen aus der UV bestehe, weil ein hinreichender Zusammenhang zwischen der Infektion und ihrer beruflichen Tätigkeit nicht ersichtlich sei.

[6] Mit ihrer dagegen erhobenen Klage begehrt die Kl (erkennbar) einerseits die Feststellung, dass es sich bei ihrer Erkrankung um eine Berufskrankheit handle, sowie andererseits, die Bekl zur Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu verpflichten. [...]

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil eine außerberufliche Ansteckung gleich wahrscheinlich sei wie eine Ansteckung in einer der Schulen.

[9] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es bejahte zwar einen den Kausalzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Ansteckung betreffenden Stoffsammlungsmangel. Es maß diesem aber keine Relevanz zu, weil die Klage bereits aus davon unabhängigen Gründen unberechtigt sei. Angesichts des Normzwecks sei die Regelung in Nr 38 der Anlage 1 nämlich in zweifacher Hinsicht inkonsistent. Zum einen seien nicht alle Beschäftigten in den dort genannten Unternehmen einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt; eine solche sei etwa für Verwaltungspersonal nicht ersichtlich. Zum anderen sei die Gefahr auch nicht in allen Schulen gleich, weil sie mit zunehmendem Alter der Schüler signifikant abnehme. Die Bestimmung sei daher insofern einschränkend auszulegen, als sie nur Beschäftigte erfasse, die bei ihrer Tätigkeit einer gegenüber der Allgemeinheit besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt seien. Diese Sicht werde auch dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber nur das Lehrpersonal habe schützen wollen. Abgesehen davon, dass die Kl nicht zu dieser Gruppe zähle, seien die von ihr durchgeführten Gespräche auch nicht mit der Tätigkeit von Lehrern vergleichbar, die während einer Unterrichtsstunde einer größeren Anzahl von Schülern gegenüberstünden. Der mögliche 524 Kontakt der Kl mit Infizierten sei dagegen nur zeitlich begrenzt und daher nicht größer gewesen als bei Berufsgruppen, die im ständigen und intensiven Kontakt mit Menschen stünden.

[10] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil in der höchstgerichtlichen Rsp noch nicht geklärt sei, ob jede oder nur bestimmte, risikoreiche Tätigkeiten in einem der in Nr 38 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen als Beschäftigung iSd § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren seien. [...]

[13] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist iSd Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen auch berechtigt. [...]

[16] Als Berufskrankheiten gelten gem § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage 1 bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen verursacht sind.

[17] Das Gesetz anerkennt daher nicht jede Krankheit, die infolge arbeitsbedingter Einwirkungen auftreten kann, als Berufskrankheit, sondern legt in Form einer taxativen Liste fest, welche Krankheit unter welchen Voraussetzungen als Berufskrankheit gilt (10 ObS 74/16d SSV-NF 30/47; 10 ObS 105/04w SSV-NF 19/72). In diesem Sinn stellt die hier relevante Nr 38 der Anlage 1 („Infektionskrankheiten“) [...] pauschalierend auf besondere Unternehmen ab, weil die dort beschäftigten Personen nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall in einem ganz besonderen Ausmaß einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind (10 ObS 1/23d; [...] vgl auch RS0085380). Personen, die zwar mit Infizierten in Kontakt kommen können, aber nicht in einem geschützten Unternehmen beschäftigt sind, sind vom Versicherungsschutz hingegen ausgeschlossen, weil sie in der Regel überwiegend mit Gesunden zu tun haben. [...]

[20] Der reine Wortlaut des § 177 Abs 1 ASVG iVm der Nr 38 der Anlage 1 erfasst alle Beschäftigungen in den dort genannten Unternehmen, ohne dass zwischen bestimmten Gruppen von Beschäftigten, verschiedenen Tätigkeiten oder einzelnen Sparten unterschieden wird. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Einschränkung auf bestimmte, mit einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko verbundene Tätigkeiten innerhalb eines geschützten Unternehmens ließe sich daher nur durch eine teleologische Reduktion erzielen. Das setzt voraus, dass eine nach dem klaren Gesetzeszweck erforderliche Ausnahme fehlt (RS0008979), was jedenfalls in dem vom Berufungsgericht angenommenen Umfang aber nicht der Fall ist.

[21] Stellungnahmen der Lehre zur Abgrenzung der geschützten Personen(-gruppen) sind spärlich. Tomandl (in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts Pkt 2.3.2. [275]) verweist darauf, dass die gesetzliche Regelung gleichzeitig zu eng und zu weit sei. Zu eng, weil auch in anderen als den genannten Unternehmen eine vergleichbare Ansteckungsgefahr bestehe, zu weit, weil nicht alle in den geschützten Unternehmen Beschäftigten einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien. Die Nr 38 der Anlage 1 berechtige daher nicht zur Annahme, davon werde etwa auch das Verwaltungspersonal etwa in Schulen erfasst, das mit den Schülern nicht unmittelbar in Kontakt komme. Hausfremde Professionisten seien dagegen geschützt, sofern sie durch ihre Tätigkeit gezwungen sind, sich der im Listenunternehmen bestehenden besonderen Ansteckungsgefahr auszusetzen, unabhängig davon, wie lange die Exposition gedauert hat. Dem stimmen Gebhardt/Perktold (Covid-19: Berufskrankheit und Arbeitsunfall, SozSi 2022, 60 [61 f]) und (indirekt) Schneider (Methodik der Beurteilung von Berufskrankheiten an den Beispielen BK Nr 25 und 38, DAG 2021, 135 [138]) zu. Schneider führt dazu das Beispiel eines externen Handwerkers an, der im Aufenthaltsraum eines Kindergartens oder im Patientenzimmer eines Krankenhauses arbeitet und deshalb Versicherungsschutz genieße. Nach Gerstl-Fladerer (aaO 439) sei überhaupt immer zu prüfen, welche konkrete Tätigkeit der Betroffene ausübt und ob er dadurch einer besonderen Gefahr ausgesetzt war. [...]

[23] Das OLG Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen qualifizierte vor Einführung der Generalklausel in Nr 38 der Anlage 1 (mit BGBl I 1998/138) Krankenkassen insoweit als Einrichtung des Gesundheitsdienstes iSd Spalte 3 der Nr 38 Anlage 1, als sie etwa Ambulatorien betrieben und nicht bloß die ihnen zukommenden Verwaltungsagenden wahrnahmen (SSV 7/17). Demgemäß erstreckte es den Versicherungsschutz auf eine Assistentin im Zahnambulatorium einer Krankenkasse, die auch am Behandlungsstuhl tätig war (SVSlg 23.140), nicht aber auf Beschäftigte in der ärztlichen Abrechnungsstelle (SSV 16/76) oder im Bürodienst (SVSlg 18.191).

[24] Das (deutsche) Bundessozialgericht judiziert zur – der Nr 38 Anlage 1 entsprechenden – Berufskrankheit 3101, dass von dieser das gesamte in den geschützten Unternehmen tätige Personal einschließlich des Hauspersonals und Verwaltungsangestellten erfasst sind [...].

[25] Der OGH hat sich erst unlängst eingehend mit der Nr 38 der Anlage 1 befasst. Zwar ging es dort nicht um die hier interessierende Frage, ob zwischen den Beschäftigten eines (durch die Nr 38 der Anlage 1 ausdrücklich) geschützten Unternehmens zu differenzieren ist, sondern darum, ob ein Nachhilfeinstitut überhaupt ein – iSd Generalklausel – geschütztes Unternehmen ist. Es wurde jedoch (allgemein) klargestellt, dass die Nr 38 der Anlage 1 darauf abzielt, Personen einen Schutz zu bieten, die wegen ihrer Erwerbstätigkeit in einem der dort bezeichneten Unternehmen in einer besonderen Ansteckungsgefahr schweben. In der Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 sind daher Einrichtungen genannt, die ihrer Typizität nach für die dort Beschäftigten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten mit sich bringen (10 ObS 149/22t [Rz 24 und 54]).

[26] Vor dem Hintergrund dieses Gesetzeszwecks ist die vom Berufungsgericht in den Vordergrund gestellte besonders hohe Ansteckungsgefahr konsequenterweise kein Tatbestandsmerkmal der Regelung. Das im Vergleich zur allgemein bestehenden Ansteckungsgefahr signifikant höhere Infektionsrisiko 525 ist vielmehr der Grund für die Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1. Geschützt werden die Versicherten daher nicht, weil sie eine spezielle gefahrenträchtige Tätigkeit ausüben, sondern (bereits) deshalb, weil sie bei generell-abstrakter Betrachtung in einem gefahrenträchtigen Unternehmen beschäftigt sind. Dieses Konzept kommt nicht nur in dem vom Berufungsgericht angeführten Umstand zum Ausdruck, dass die „Lehrerpersonen“ jeder Schule, also auch einer BHS oder eines Oberstufengymnasiums geschützt sind, obwohl die Gefahr einer Ansteckung dort ungleich geringer ist als in Säuglingskrippen, Kindergärten oder Volksschulen. Es spiegelt sich auch in der Generalklausel der Nr 38 der Anlage 1 wider, die – anders als die deutsche BK 3101 – auf andere Unternehmen und nicht auf andere Tätigkeiten mit vergleichbarer Gefährdung abstellt. Ein eindeutig für die vom Berufungsgericht und im Ergebnis auch von Gerstl-Fladerer vorgenommene Differenzierung sprechender Gesetzeszweck ist vor diesem Hintergrund nicht zu erkennen. Ohne weitere (gegenteilige) Anhaltspunkte ergibt sich ein solcher auch nicht allein daraus, dass in den Materialien zur 23. ASVG-Novelle von „Lehrpersonen“ die Rede ist, sodass die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion der Nr 38 der Anlage 1 dahingehend, betreffend Schulen sollten nur die Lehrer erfasst werden, insgesamt nicht gegeben sind.

[27] Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass auf Basis des Gesetzeswortlauts grundsätzlich alle in einem geschützten Unternehmen Beschäftigten unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit Versicherungsschutz genießen.

[28] Dieses Ergebnis steht einer teleologischen Reduktion iSd Ausführungen von Tomandl – und letztlich auch iSd vormaligen Rsp des OLG Wien (oben 3.2.) – nicht generell entgegen. Nach der Auffassung von Tomandl ist nämlich nicht auf ein tatsächlich höheres oder niedrigeres Risiko der Tätigkeit abzustellen. Vielmehr sollen nur solche (ganz eindeutigen) Fälle vom Versicherungsschutz ausgenommen werden, bei denen der Betroffene dem Risiko einer Infektion gar nicht ausgesetzt ist, nicht aber Beschäftigte – wie externe Handwerker –, deren Tätigkeit es bedingt, dass sie mit der abstrakten Ansteckungsgefahr auch nur kurz in Berührung kommen. Ob eine teleologische Reduktion in dem von Tomandl angesprochenen „Randbereich“ angezeigt ist, muss im Fall der Kl aber nicht entschieden werden, weil die von ihr ausgeübte Tätigkeit nicht diesem Bereich zuzuordnen ist. Sie ist auch nicht mit einer jener Tätigkeiten vergleichbar, die das OLG Wien seinerzeit als nicht vom Versicherungsschutz erfasst angesehen hat:

[29] [...] Ihr Aufgabenbereich bestand [...] in der Präventionsarbeit an Schulen, bei der sie der besonderen Ansteckungsgefahr auch unmittelbar ausgesetzt war. Der direkte Kontakt mit den Schülern war der primäre Inhalt ihrer Tätigkeit und keine bloß zufällige Begleiterscheinung, wie das etwa bei dem vom Berufungsgericht angeführten Verwaltungspersonal eventuell der Fall sein kann. Aufgrund ihrer Tätigkeit in einem der in Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 genannten Unternehmen genießt sie daher entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts grundsätzlich Versicherungsschutz.

[30] Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist jedoch, dass ihre Erkrankung auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist (RS0084375 [T1]). Ob das der Fall ist, kann derzeit aber nicht beurteilt werden, weil die Frage der Kausalität noch nicht definitiv geklärt ist.

[32] Im fortzusetzenden Verfahren werden daher der Zeuge K* einzuvernehmen sowie das beantragte virologische Sachverständigengutachten einzuholen und auf dieser Grundlage entsprechende Feststellungen zur Kausalität, somit zur Frage zu treffen sein, ob die Erkrankung auf betriebliche Einwirkungen zurückzuführen ist. Sofern das Erstgericht dies bejahen sollte, wird der Kl jedenfalls die Möglichkeit zu geben sein, nicht nur ein Vorbringen zur Erkrankung an COVID-19, sondern auch zu den dadurch erlittenen, eine Versehrtenrente rechtfertigenden Folgen zu erstatten.

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Der OGH hat sich in gegenständlicher E zum mittlerweile fünften Mal mit Fragen rund um die Anerkennung von Covid-19-Infektionen als Berufskrankheit beschäftigt. In der OGH-E 10 ObS 108/22p vom 17.1.2023 wurde die außerordentliche Revision eines mit Covid-19 infizierten Montageleiters zurückgewiesen, da die Frage, ob der im Verfahren anwendbare Anscheinsbeweis erbracht wurde, eine irreversible Rechtsfrage darstellt (Bischofreiter, DRdA 2023, 407). In den Judikaten 10 ObS 149/22t vom 21.2.2023 und 10 ObS 1/23d vom 21.3.2023 entschied der OGH, dass bei der Tätigkeit als Unterrichtender an einem privaten Nachhilfeinstitut und bei einem Mitglied des Freiwilligen Bergrettungsdienstes, das sich bei einem Waldbrandeinsatz infizierte, keine vergleichbare Gefährdung vorliegt (Bischofreiter, DRdA 2023, 408). In der OGH-E10 ObS 80/23x vom 24.7.2023 wurde die Infektion einer Polizistin mangels Nachweises einer Ansteckung im Dienst abgelehnt (Bischofreiter, DRdA 2023, 410).

Im gegenständlichen Fall ging es erstmals um die Frage, ob sämtlichen Beschäftigten eines in der Berufskrankheitenliste (BK-Liste) angeführten Unternehmens die Möglichkeit der Anerkennung ihrer Covid-19-Infektion als Berufskrankheit offensteht. Es handelt sich um die erste iSd Versicherten positive höchstgerichtliche Entscheidung im Zusammenhang mit Covid-19 als Berufskrankheit.

2.
Schutzbereich der Infektionskrankheiten

In der BK-Liste (Anhang 1 des ASVG) finden sich unter der Nr 38 bzw seit Inkrafttreten des Berufskrankheiten-Modernisierungsgesetzes mit 1.3.2024 in der Nr 3.1 „Infektionskrankheiten“. Der Schutzbereich der Infektionskrankheiten ist in der Spalte 3 der BK-Liste auf bestimmte Unternehmen 526 eingeschränkt. Ausdrücklich genannt werden Bildungseinrichtungen, Laboratorien und Justizanstalten, Gesundheitseinrichtungen, wie Kranken- und Pflegeanstalten und öffentliche Apotheken. Erfasst werden aber auch Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung.

Schulen wurden mit BGBl 1969/17 in die Liste aufgenommen. Die Ergänzung wurde damit begründet, dass auch die in diesen Einrichtungen beschäftigten Personen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt seien. Konkret sei für das Personal von Kindergärten und Säuglingskrippen die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektionen besonders groß; ähnliche Überlegungen gälten für Lehrpersonen und Bedienstete in Justizanstalten (ErläutRV 1059 BlgNR 11. GP 29). In der unter Pkt 1 erwähnten E des OGH zur Infektion eines Unterrichtenden an einem privaten Nachhilfeinstitut wurde bereits klargestellt, dass das besondere Infektionsrisiko an Schulen aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen zum Zweck des Unterrichts resultiert.

Damit eine Infektion eines Versicherten als Berufskrankheit anerkannt wird, muss daher zunächst festgestellt werden, ob eine Tätigkeit in einem Listenunternehmen vorliegt. Ob die versicherte Person mit dem Träger des Unternehmens ein Dienstverhältnis begründet hat, ist nicht entscheidend, vielmehr ist ausreichend, dass eine berufliche Beschäftigung an der Örtlichkeit eines solchen Unternehmens vorlag (RS0084365).

Als zweiter Schritt wird geprüft, ob die Erkrankung auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist, wobei die Rsp die Beweisschwierigkeiten, mit denen Versicherte in Verfahren betreffend Ansprüche aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten oftmals konfrontiert sind, durch eine modifizierte Anwendung des Anscheinsbeweises abzufedern versucht. Es erfolgt eine Beweiserleichterung insofern, als die beweisbelastete Person (der Versicherte) nur einen Grundsachverhalt beweisen muss, aus dem sich mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung auf die Kausalität schließen lässt (RS0110571). Modifiziert ist der Anscheinsbeweis insofern, als zur Widerlegung des Anscheinsbeweises nicht – wie sonst im Zivilverfahren – der Beweis der ernsten Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs, sondern die konkrete, zumindest gleich hohe Wahrscheinlichkeit vom Versicherungsträger bewiesen werden muss. Ein typischer Kausalverlauf liegt daher auch dann nicht vor, wenn von vornherein mehrere Ursachen in gleicher Weise in Betracht kommen (Müller in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm [2020] Vor §§ 174-177 Rz 56).

3.
Teleologische Reduktion der Berufskrankheitenliste?

Das Berufungsgericht hat seine ablehnende Entscheidung im vorliegenden Fall damit begründet, dass die Nr 38 der Anlage 1 insofern einschränkend auszulegen sei, als sie nur Beschäftigte in den dort aufgelisteten Unternehmen erfasse, die bei ihrer Tätigkeit einer gegenüber der Allgemeinheit besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt seien. Beispielsweise sei Verwaltungspersonal nicht dem erforderlichen besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt.

Wie der OGH bereits in der E zur Covid-Infektion eines privaten Nachhilfelehrers hinsichtlich der Generalklausel der BK-Liste ausführte, unterscheidet sich die österreichische Generalklausel von jener in der deutschen Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) dadurch, dass die österreichische Regelung auf Unternehmen abstellt, wohingegen die Generalklausel der BKV auf Tätigkeiten abstellt. Der OGH schlussfolgert daraus richtigerweise, dass zur Beurteilung der Frage, ob ein Unternehmen mit vergleichbarer Gefährdung vorliegt, die Gefährdung im Unternehmen entscheidend ist, und zwar unabhängig von der konkreten Tätigkeit des Versicherten. Zudem stellt der OGH klar, dass Schulen in die BK-Liste aufgenommen wurden, da ihrer Typizität nach für die dort Beschäftigten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten besteht (OGH 21.2.2023, 10 ObS 149/22t).

Die Ausführungen des OGH in gegenständlicher E stehen im Einklang hiermit: ISd gebotenen Schritte der Gesetzesauslegung stellt der OGH fest, dass der reine Wortlaut der Berufskrankheit Nr 38 alle Beschäftigungen in den dort genannten Unternehmen erfasst. Eine Einschränkung dieses Schutzbereiches – wie vom Berufungsgericht erblickt – würde sich daher nur mit einer teleologischen Reduktion erzielen lassen. Der OGH führt mit Verweis auf die Entscheidung zum privaten Nachhilfelehrer richtigerweise aus, dass die besonders hohe Ansteckungsgefahr in gewissen Unternehmen im Vergleich zur allgemein bestehenden Ansteckungsgefahr der Grund für die Aufnahme dieser Unternehmen in die BK-Liste war. Es ist dem OGH daher darin zuzustimmen, dass eine Aufweichung des Schutzbereiches diesen Gesetzeszweck konterkarieren würde und der Schutz folglich unabhängig von der konkreten Tätigkeit besteht.

Gestützt auf Ausführungen von Tomandl stellt der OGH allerdings in den Raum, dass Tätigkeiten in einem Listenunternehmen, die dem Risiko einer Infektion gar nicht ausgesetzt sind, womöglich nicht unter die Berufskrankheit Nr 38 bzw 3.1 zu subsumieren sind (Tomandl in Tomandl/Felten [Hrsg], System des österreichischen Sozialversicherungsrechts Pkt 2.3.2. [275]). Tomandl führt in diesem Zusammenhang aus, dass die gesetzliche Regelung insofern zu weit sei, als nicht alle in den geschützten Unternehmen Beschäftigten einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien. Laut ihm sei Verwaltungspersonal, das mit den Schülerinnen und Schülern nicht unmittelbar in Kontakt komme, nicht geschützt. Weshalb der OGH die Rechtsfrage, ob jede Tätigkeit in einem der in Nr 38 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen als Beschäftigung iSd § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren sei, nicht abschließend beurteilt, ist nicht nachvollziehbar, zumal dies die gegenständliche E auf eine Einzelfallentscheidung beschränkt und folglich Rechtsunsicherheit schafft. Zudem 527 wird bei Versicherten, die gar keinen Kontakt zu infizierten Personen hatten, die Anerkennung einer Infektion als Berufskrankheit wohl ohnehin auf der Kausalitätsebene scheitern, da der Anscheinsbeweis nicht dazu führen darf, Lücken in der Beweisführung durch bloße Vermutungen zu füllen (OGH 26.2.2013, 10 ObS 13/13d; OGH 9.2.2010, 10 ObS 5/10y, ua). Das deutsche Bundessozialgericht ist hier einen Schritt voraus, indem es judiziert, dass das gesamte in den geschützten Unternehmen tätige Personal – einschließlich des Hauspersonals und der Verwaltungsangestellten – von der vergleichbaren Berufskrankheit Nr 3101 erfasst ist.