48Auswirkungen des Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsbehelf
Auswirkungen des Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsbehelf
Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge steht einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein AG nicht verpflichtet ist, die ordentliche Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags schriftlich zu begründen, obwohl im Hinblick auf die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags eine solche Verpflichtung besteht.
Das nationale Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden hat, ist, wenn es das anwendbare nationale Recht nicht im Einklang mit diesem Paragrafen auslegen kann, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieses Artikels zu sorgen, indem es soweit erforderlich jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.
[...]
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 K. L. und X schlossen für den Zeitraum vom 1.11.2019 bis zum 31.7.2022 einen befristeten Teilzeitarbeitsvertrag.
18 Am 15.7.2020 übermittelte X K. L., dem Kl des Ausgangsverfahrens, unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat, eine Erklärung über die Kündigung dieses Arbeitsvertrags. Die Kündigung wurde somit am 31.8.2020 wirksam, wobei K. L. keine Kündigungsgründe mitgeteilt wurden.
20 [...] Zum anderen führte er aus, dass das Arbeitsgesetzbuch die AG zwar nicht verpflichte, im Fall der Auflösung befristeter Arbeitsverträge die Kündigungsgründe anzugeben, dass das Fehlen einer solchen Angabe aber gegen den im Unionsrecht und im polnischen Recht verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoße, da für die Auflösung unbefristeter Arbeitsverträge eine solche Pflicht bestehe.
21 X machte hingegen geltend, dass die Kündigung des Kl des Ausgangsverfahrens im Einklang mit den geltenden Bestimmungen des polnischen Arbeitsrechts erfolgt sei, was dieser nicht bestreite.
[...]
26 Das vorlegende Gericht führt in diesem Zusammenhang aus, dass der Sad Najwyzszy (Oberstes Gericht, Polen) in einem Urteil aus dem Jahr 2019 hingegen Zweifel an der ordnungsgemäßen 515 Umsetzung von Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung in polnisches Recht und folglich an der Vereinbarkeit der maßgeblichen Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs mit dem Unionsrecht geäußert habe. Allerdings habe das Oberste Gericht darauf hingewiesen, dass ein Einzelner, der nicht dem Staat zuzurechnen sei – wie ein privater AG –, nicht für eine Rechtswidrigkeit in Form einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der RL 1999/70 in innerstaatliches Recht haftbar gemacht werden könne. Das Oberste Gericht habe daher Art 30 § 4 des Arbeitsgesetzbuchs in der dem genannten Urteil zugrunde liegenden Rechtssache nicht unbeachtet lassen können, da selbst eine klare, präzise und unbedingte Bestimmung einer RL, die dazu bestimmt sei, dem Einzelnen Rechte zu verleihen oder Pflichten aufzuerlegen, im Rahmen eines zwischen Einzelnen anhängigen Rechtsstreits nicht zur Anwendung kommen könne.
27 In diesem Zusammenhang seien insb die Urteile vom 22.1.2019, (Cresco InvestigationC-193/17, EU:C:2019:43), und vom 19.4.2016, DI (C-441/14, EU:C:2016:278), zu berücksichtigen. Die Kriterien, anhand deren keine Unterscheidung zwischen AN getroffen werden dürfe und die Gegenstand dieser beiden Urteile gewesen seien, nämlich die Religion in der Rechtssache, in der das Urteil vom 22.1.2019, Cresco Investigation (C-193/17, EU:C:2019:43), ergangen sei, und das Alter in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19.4.2016, vom 19.4.2016, DI (C-441/14, EU:C:2016:278), ergangen sei, würden in Art 21 der Charta ausdrücklich genannt; das Beschäftigungsverhältnis im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags zähle hingegen nicht zu den in dieser Bestimmung enthaltenen Kriterien. Nach Art 21 Abs 1 der Charta seien Diskriminierungen zwar verboten, die Liste der dort genannten Kriterien sei aber nicht abschließend, wie es sich aus der Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in dieser Bestimmung ergebe.
28 Schließlich ist das vorlegende Gericht der Ansicht, wenn der Gerichtshof die Rahmenvereinbarung dahin auslege, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehe, ohne die unmittelbare horizontale Wirkung der Regelung der Europäischen Union zu klären, um deren Auslegung ersucht werde, würden im polnischen Rechtssystem zwei getrennte Regelungen für die Auflösung befristeter Arbeitsverträge gelten, und zwar abhängig davon, ob der AG dem Staat zuzurechnen sei oder nicht.
29 Vor diesem Hintergrund hat der Sad Rejonowy dla Krakowa-Nowej Huty w Krakowie (Rayongericht für Krakau Nowa Huta in Krakau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art 1 der RL 1999/70 und die Paragrafen 1 und 4 der Rahmenvereinbarung dahin auszulegen, dass sie einer Regelung des nationalen Rechts entgegenstehen, die eine Verpflichtung des AG zur schriftlichen Begründung einer Kündigung nur bei unbefristeten Arbeitsverträgen vorsieht und damit die Rechtmäßigkeit des Kündigungsgrundes bei unbefristeten Verträgen der gerichtlichen Kontrolle unterwirft, zugleich aber bei befristeten Arbeitsverträgen eine solche Verpflichtung des AG (dh zur Angabe des Kündigungsgrundes) nicht vorsieht (so dass nur die Frage, ob die Kündigung mit den Vorschriften über die Kündigung von Verträgen vereinbar ist, der gerichtlichen Kontrolle unterliegt)?
Können sich die Parteien in Gerichtsverfahren, in denen auf beiden Seiten des Rechtsstreits private Parteien auftreten, auf Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung und den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung (Art 21 der Charta) berufen, und haben die genannten Bestimmungen somit horizontale Wirkung?
Zu den Vorlagefragen [...]
33 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass die Rahmenvereinbarung auf alle AN anwendbar ist, die entgeltliche Arbeitsleistungen im Rahmen eines mit ihrem AG bestehenden befristeten Arbeitsverhältnisses erbringen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 30.6.2022, Comunidad de Castilla y León, C-192/21, EU:C:2022:513, Rn 26 und die dort angeführte Rsp).
34 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Kl des Ausgangsverfahrens in Bezug auf sein Arbeitsverhältnis mit X als ein im Rahmen eines befristeten Vertrags angestellter AN iS von Paragraf 2 Nr 1 iVm Paragraf 3 Nr 1 der Rahmenvereinbarung angesehen wurde, so dass der Ausgangsrechtsstreit in den Anwendungsbereich dieser Rahmenvereinbarung fällt.
35 Als Zweites betrifft das in Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung vorgesehene Verbot, befristet beschäftigte AN gegenüber Dauerbeschäftigten schlechter zu behandeln, die Beschäftigungsbedingungen der AN. Somit ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, soweit sie die Kündigung eines Arbeitsvertrags regelt, unter den Begriff „Beschäftigungsbedingungen“ iS von Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung fällt.
36 Aus dem Wortlaut und dem Ziel dieses Paragrafen ergibt sich, dass er nicht die Wahl selbst, befristete Arbeitsverträge anstelle von unbefristeten Arbeitsverträgen abzuschließen, betrifft, sondern die Beschäftigungsbedingungen der AN, die einen Vertrag der ersten Art abgeschlossen haben, gegenüber denen der AN, die aufgrund eines Vertrags der zweiten Art beschäftigt sind (Urteil vom 8.10.2020, Universitatea „Lucian Blaga“ Sibiu ua, C-644/19, EU:C:2020:810, Rn 39 sowie die dort angeführte Rsp).
37 Insoweit besteht das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Maßnahme unter den Begriff „Beschäftigungsbedingungen“ iS von Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung fällt, gerade im Kriterium der Beschäftigung, dh in dem zwischen einem AN und seinem AG begründeten Arbeitsverhältnis (Beschluss vom 18.5.2022, Ministero dell‘istruzione [Elektronische Karte], C-450/21, EU:C:2022:411, Rn 33 und die dort angeführte Rsp).
38 Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass insb der einem AN im Fall einer ungerechtfertigten Entlassung 516 gewährte Schutz unter diesen Begriff fällt (Urteil vom 17.3.2021, Consulmarketing, C-652/19, EU:C:2021:208, Rn 52 und die dort angeführte Rsp), ebenso wie die Regeln für die Bestimmung der Frist für die Kündigung befristeter Arbeitsverträge sowie Regeln über die Entschädigung, die dem AN aufgrund der Auflösung des Arbeitsvertrags zwischen ihm und seinem AG zusteht, da eine solche Entschädigung aufgrund des zwischen ihnen entstandenen Arbeitsverhältnisses geleistet wird (Urteil vom 25.7.2018, Vernaza Ayovi, C-96/17, EU:C:2018:603, Rn 28 und die dort angeführte Rsp).
39 Eine Auslegung von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung, wonach die Bedingungen für die Auflösung eines befristeten Arbeitsvertrags nicht unter den Begriff „Beschäftigungsbedingungen“ fielen, liefe nämlich darauf hinaus, den Geltungsbereich des den befristet beschäftigten AN gewährten Schutzes vor schlechterer Behandlung entgegen dem Ziel dieser Vorschrift einzuschränken (vgl in diesem Sinne Urteil vom 25.7.2018, Vernaza Ayovi, C-96/17, EU:C:2018:603, Rn 29 und die dort angeführte Rsp).
40 Im Licht dieser Rsp fällt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende also unter den Begriff „Beschäftigungsbedingungen“ iS von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung. Sie regelt nämlich den rechtlichen Rahmen der Auflösung eines Arbeitsvertrags im Fall der Kündigung, da dieser rechtliche Rahmen aufgrund des Arbeitsverhältnisses zwischen dem AN und seinem AG besteht.
41 Als Drittes besteht eines der Ziele der Rahmenvereinbarung nach ihrem Paragrafen 1 Buchst a darin, durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse zu verbessern. Desgleichen heißt es im dritten Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung, dass sie „den Willen der Sozialpartner deutlich [macht], einen allgemeinen Rahmen zu schaffen, der durch den Schutz vor Diskriminierung die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern in befristeten Arbeitsverhältnissen sichert
“. Im 14. Erwägungsgrund der RL 1999/70 wird dazu festgestellt, dass die Rahmenvereinbarung insb die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse durch Festlegung von Mindestvorschriften verbessern soll, die geeignet sind, die Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zu gewährleisten (Urteil vom 17.3.2021, Consulmarketing, C-652/19, EU:C:2021:208, Rn 48 und die dort angeführte Rsp).
42 Die Rahmenvereinbarung, insb ihr Paragraf 4, bezweckt, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung auf befristet beschäftigte AN anzuwenden, um zu verhindern, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis von einem AG benutzt wird, um diesen AN Rechte vorzuenthalten, die Dauerbeschäftigten zuerkannt werden (Urteil vom 3.6.2021, Servicio Aragonés de Salud, C-942/19, EU:C:2021:440, Rn 34 und die dort angeführte Rsp).
43 Außerdem ist das in Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung aufgestellte Diskriminierungsverbot nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts gehört (Urteil vom 19.10.2023, Lufthansa CityLine, C-660/20, EU:C:2023:789, Rn 37 und die dort angeführte Rsp).
44 In Anbetracht dieser Ziele muss Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung als Ausdruck eines Grundsatzes des Sozialrechts der Union verstanden werden, der nicht restriktiv ausgelegt werden darf (vgl in diesem Sinne Urteil vom 19.10.2023, Lufthansa CityLine, C-660/20, EU:C:2023:789, Rn 38 und die dort angeführte Rsp).
45 Im Einklang mit dem Ziel, die Ungleichbehandlung von befristet beschäftigten AN und Dauerbeschäftigten zu beseitigen, dürfen nach Nr 1 dieses Paragrafen, der unmittelbare Wirkung entfaltet, befristet beschäftigte AN in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil für sie ein befristeter Arbeitsvertrag oder ein befristetes Arbeitsverhältnis gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus „sachlichen Gründen“ gerechtfertigt (vgl in diesem Sinne Urteile vom 8.9.2011, Rosado Santana, C-177/10, EU:C:2011:557, Rn 56 und 64, sowie vom 5.6.2018, Montero Mateos, C-677/16, EU:C:2018:393, Rn 42).
46 Genauer gesagt ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, was den rechtlichen Rahmen der Auflösung betrifft, zu einer Ungleichbehandlung führt, die eine schlechtere Behandlung befristet beschäftigter AN gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten darstellt, um dann gegebenenfalls zu ermitteln, ob eine solche Ungleichbehandlung durch „sachliche Gründe“ gerechtfertigt werden kann.
47 Was erstens die Vergleichbarkeit der betreffenden Situationen betrifft, ist zur Beurteilung der Frage, ob die Betroffenen die gleiche oder eine ähnliche Arbeit iSd Rahmenvereinbarung verrichten, im Einklang mit Paragraf 3 Nr 2 und Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung zu prüfen, ob sie unter Zugrundelegung einer Gesamtheit von Faktoren wie Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen als in einer vergleichbaren Situation befindlich angesehen werden können (Urteile vom 5.6.2018,Grupo Norte Facility, C-574/16, EU:C:2018:390, Rn 48 und die dort angeführte Rsp, sowie vom 5.6.2018, Montero Mateos, C-677/16, EU:C:2018:393, Rn 51 und die dort angeführte Rsp).
48 In Anbetracht des allgemeinen Charakters der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung, die festlegt, welche Informationen die AN, deren Arbeitsvertrag aufgelöst wird, zu den diesbezüglichen Gründen erhalten, gilt diese Regelung offenbar für mittels befristeter Arbeitsverträge angestellte AN, die mit mittels unbefristeter Arbeitsverträge angestellten AN vergleichbar sind.
49 [...]
50 Was zweitens das Vorliegen einer schlechteren Behandlung befristet beschäftigter AN im Vergleich zu Dauerbeschäftigten betrifft, steht fest, dass der AG bei einer ordentlichen Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags nicht verpflichtet ist, den 517 AN von vornherein schriftlich über den oder die Gründe für die Kündigung zu informieren; handelt es sich um die ordentliche Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags, besteht jedoch eine solche Pflicht.
51 In diesem Zusammenhang ist zum einen das Vorliegen einer schlechteren Behandlung iS von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung objektiv zu beurteilen. In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden wird einem befristet beschäftigten AN, dessen Arbeitsvertrag ordentlich gekündigt wird, angesichts dessen, dass er im Gegensatz zu einem Dauerbeschäftigten, dessen Arbeitsvertrag gekündigt wird, nicht über den oder die Kündigungsgründe informiert wird, eine Information vorenthalten, die für die Beurteilung, ob die Kündigung ungerechtfertigt ist und ein Gericht angerufen werden soll, von Bedeutung ist. Die beiden Gruppen von AN werden iS dieser Bestimmung also unterschiedlich behandelt.
52 Zum anderen führen sowohl das vorlegende Gericht als auch die polnische Regierung aus, dass die fehlende Begründungspflicht nicht die Möglichkeit des betreffenden AN beschneide, das zuständige Arbeitsgericht anzurufen, damit dieses prüfe, ob die betreffende Kündigung möglicherweise diskriminierend sei oder aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der sozioökonomischen Zweckbestimmung des betreffenden Rechts oder mit den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens iS von Art 8 des Arbeitsgesetzbuchs einen Rechtsmissbrauch darstelle.
53 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine solche Situation für einen befristet beschäftigten AN negative Folgen haben kann, da diesem AN, selbst wenn die gerichtliche Kontrolle der Stichhaltigkeit der Gründe für die Auflösung seines Arbeitsvertrags sichergestellt und somit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz des Betroffenen gewährleistet wäre, im Vorfeld eine Information vorenthalten wird, die für die Entscheidung, ob gerichtlich gegen die Kündigung des Arbeitsvertrags vorgegangen wird, ausschlaggebend sein kann.
54 Wenn der betreffende AN also Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Kündigungsgrundes hat, hat er – sofern der AG den Kündigungsgrund nicht freiwillig mitteilt – keine andere Wahl, als die Kündigung beim zuständigen Arbeitsgericht anzufechten. Nur im Weg dieser Klage kann der AN erreichen, dass das Gericht seinen AG anweist, den oder die Kündigungsgründe preiszugeben. Die Erfolgsaussichten dieser Klage kann er vorab jedoch nicht beurteilen. Gemäß den Erläuterungen der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung ist dieser AN verpflichtet, in seiner Klage das Vorbringen, mit dem dargetan werden soll, dass seine Kündigung diskriminierend oder missbräuchlich erfolgt sei, prima facie zu untermauern, obwohl ihm die Gründe für die Kündigung nicht bekannt sind. Außerdem können, auch wenn die Erhebung einer solchen Klage durch einen befristet beschäftigten AN vor dem Arbeitsgericht gemäß den Ausführungen der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung gebührenfrei ist, die Vorbereitung und das Verfahren zur Prüfung dieser Klage dem AN Ausgaben oder sogar Kosten verursachen, die er im Fall des Scheiterns der Klage zu tragen hat.
55 Schließlich ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass ein befristeter Vertrag am Ende der darin vorgesehenen Frist keine Wirkungen für die Zukunft mehr entfaltet, wobei sein Ende wie im vorliegenden Fall insb durch das Erreichen eines konkreten Datums bestimmt werden kann. Somit ist den Parteien eines befristeten Arbeitsvertrags schon bei seinem Abschluss bekannt, wann er endet. Sein Ende begrenzt die Dauer des Arbeitsverhältnisses, ohne dass die Parteien ihrem dahin gehenden Willen nach Abschluss des Arbeitsvertrags noch Ausdruck verleihen müssten (Urteil vom 5.6.2018, Grupo Norte Facility, C-574/16, EU:C:2018:390, Rn 57). Die vorzeitige Auflösung eines solchen Arbeitsvertrags auf Initiative des AG, die auf dem Eintritt von Umständen beruht, die bei Vertragsschluss nicht vorhergesehen wurden und nun also den normalen Ablauf des Arbeitsverhältnisses stören, ist in diesem Sinne aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit geeignet, einen befristet beschäftigten AN zumindest ebenso zu beeinträchtigen wie die Auflösung eines unbefristeten Arbeitsvertrags den betroffenen AN beeinträchtigt.
56 Daraus folgt, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen eine Ungleichbehandlung begründet, die dazu führt, dass befristet beschäftigte AN gegenüber Dauerbeschäftigten schlechter behandelt werden, da Dauerbeschäftigte nicht von der in Rede stehenden Einschränkung in Bezug auf die Information über die Kündigungsgründe betroffen sind.
57 Drittens ist vorbehaltlich der durch das vorlegende Gericht vorzunehmenden Prüfung (siehe oben, Rn 49) noch zu bestimmen, ob die Ungleichbehandlung von befristet beschäftigten AN und vergleichbaren Dauerbeschäftigten, die Gegenstand der Zweifel des vorlegenden Gerichts ist, durch „sachliche Gründe“ iS von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung gerechtfertigt werden kann.
58 Nach stRsp ist der Begriff „sachliche Gründe“ iS von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung nicht so zu verstehen, dass eine unterschiedliche Behandlung von befristet beschäftigten AN und Dauerbeschäftigten damit gerechtfertigt werden kann, dass sie in einer allgemeinen und abstrakten innerstaatlichen Norm wie einem Gesetz oder einem Tarifvertrag vorgesehen ist (vgl in diesem Sinne Urteil vom 19.10.2023, Lufthansa CityLine, C-660/20, EU:C:2023:789, Rn 57 und die dort angeführte Rsp).
59 Vielmehr verlangt dieser Begriff, dass die festgestellte unterschiedliche Behandlung durch das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände gerechtfertigt ist, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichnen, um prüfen zu können, ob die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und 518 erforderlich ist. Solche Umstände können sich insb aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung befristete Arbeitsverträge geschlossen wurden, und ihren Wesensmerkmalen oder gegebenenfalls aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben (Urteil vom 19.10.2023, Lufthansa CityLine, C-660/20, EU:C:2023:789, Rn 58 und die dort angeführte Rsp).
60 Die polnische Regierung, die sich auf die Argumentation des Trybunal Konstytucyjny (VfGH) in dem oben in den Rn 23 bis 25 genannten Urteil stützt, beruft sich auf den Unterschied zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Funktion eines befristeten Arbeitsvertrags und jener eines unbefristeten Arbeitsvertrags.
61 Die im polnischen Recht hinsichtlich des Begründungserfordernisses getroffene Unterscheidung danach, ob es sich um die Kündigung eines unbefristeten Vertrags oder um jene eines befristeten Vertrags handle, diene der Verfolgung des legitimen Ziels einer „nationalen Sozialpolitik, die auf eine produktive Vollbeschäftigung abziel[e]
“. Die Verfolgung dieses Ziels erfordere eine große Flexibilität des Arbeitsmarkts. Der befristete Arbeitsvertrag trage zu dieser Flexibilität bei, indem zum einen mehr Personen eine Chance auf Beschäftigung geboten und gleichzeitig ein angemessener Schutz der betroffenen AN vorgesehen werde sowie zum anderen AG im Fall einer Ausweitung ihrer Tätigkeit ihren Bedarf decken könnten, ohne jedoch dauerhaft an den betreffenden AN gebunden zu sein.
62 Befristet beschäftigten AN hinsichtlich der ordentlichen Kündigung eines Arbeitsvertrags dasselbe Schutzniveau zu gewährleisten wie Dauerbeschäftigten würde also die Verwirklichung dieses Ziels gefährden. Dies sei vom Trybunal Konstytucyjny (VfGH) bestätigt worden, als es festgestellt habe, dass solche unterschiedlichen Regelungen im Hinblick auf die Art 2 und 32 der Verfassung, in denen der Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats bzw der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot der Diskriminierung im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben aus irgendeinem Grund verankert seien, zulässig seien.
63 Es ist jedoch festzustellen, dass die Gesichtspunkte, auf die sich die polnische Regierung zur Rechtfertigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung stützt, keine genau bezeichneten, konkreten Umstände sind, die die betreffende Beschäftigungsbedingung kennzeichnen, wie nach der oben in den Rn 58 und 59 wiedergegebenen Rsp erforderlich, sondern eher einem Kriterium gleichkommen, das allgemein und abstrakt ausschließlich auf die Dauer der Beschäftigung selbst abstellt. Diese Gesichtspunkte ermöglichen es daher nicht, sicherzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ungleichbehandlung iSd genannten Rsp einem echten Bedarf entspricht.
64 In dieser Hinsicht die bloße temporäre Natur eines Beschäftigungsverhältnisses zur Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung von befristet beschäftigten AN und Dauerbeschäftigten ausreichen zu lassen, würde nämlich die Ziele der Rahmenvereinbarung ihrer Substanz berauben und liefe auf die Perpetuierung einer für befristet beschäftigte AN ungünstigen Situation hinaus (vgl in diesem Sinne Urteil vom 16.7.2020, Governo della Repubblica italiana [Status der italienischen Friedensrichter], C-658/18, EU:C:2020:572, Rn 152 und die dort angeführte Rsp).
65 Jedenfalls muss nach der oben in den Rn 58 und 59 wiedergegebenen Rsp eine solche unterschiedliche Behandlung, abgesehen davon, dass sie einem echten Bedarf entsprechen muss, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sein. Außerdem muss dieses Ziel im Einklang mit den Anforderungen der Rsp in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden (Urteil vom 19.10.2023, Lufthansa CityLine, C-660/20, EU:C:2023:789, Rn 62 und die dort angeführte Rsp).
66 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung ist im Hinblick auf das von der polnischen Regierung genannte Ziel nicht erforderlich.
67 Selbst wenn die AG verpflichtet wären, die Gründe für die vorzeitige Auflösung eines befristeten Vertrags anzugeben, würden sie dadurch nämlich nicht der mit dieser Form des Arbeitsvertrags verbundenen Flexibilität beraubt, die zur Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt beitragen kann. Insoweit bezieht sich die betreffende Beschäftigungsbedingung nicht auf die Möglichkeit eines AG, einen befristeten Arbeitsvertrag ordentlich zu kündigen, sondern auf die schriftliche Mitteilung der Kündigungsgründe an den AN, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Bedingung geeignet ist, die fragliche Flexibilität spürbar zu beeinträchtigen.
68 Was die Frage betrifft, ob ein nationales Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten verpflichtet ist, eine nationale Bestimmung, die gegen Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung verstößt, unangewendet zu lassen, ist darauf hinzuweisen, dass es nationalen Gerichten, die über einen solchen Rechtsstreit zu entscheiden haben, in dem sich zeigt, dass die fragliche nationale Regelung gegen das Unionsrecht verstößt, obliegt, den Rechtsschutz sicherzustellen, der sich für den Einzelnen aus den unionsrechtlichen Bestimmungen ergibt, und deren volle Wirkung zu gewährleisten (Urteil vom 7.8.2018, Smith, C-122/17, EU:C:2018:631, Rn 37 und die dort angeführte Rsp).
69 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer RL vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte innerstaatliche Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand von Wortlaut und Zweck der RL auslegen muss, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der RL verfolgten Ziel vereinbar ist (Urteil vom 18.1.2022, Thelen Technopark Berlin, C-261/20, EU:C:2022:33, Rn 27 und die dort angeführte Rsp).
70 Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung 519 des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer RL heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem dieses innerstaatlichen Rechts dienen (Urteil vom 18.1.2022, Thelen Technopark Berlin, C-261/20, EU:C:2022:33, Rn 28 und die dort angeführte Rsp).
71 [...]
72 Wenn eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden kann, gebietet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, jede Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt, die im Widerspruch zu unionsrechtlichen Bestimmungen mit unmittelbarer Wirkung steht.
73 Jedenfalls kann nach stRsp eine RL nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die RL als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist. Gem Art 288 Abs 3 AEUV besteht nämlich die Verbindlichkeit einer RL, aufgrund deren eine Berufung auf sie möglich ist, nur in Bezug auf „jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird
“. Die Union ist nur dort befugt, mit unmittelbarer Wirkung allgemein und abstrakt Verpflichtungen zulasten der Einzelnen anzuordnen, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist. Daher gestattet eine Bestimmung einer RL, selbst wenn sie klar, genau und unbedingt ist, es dem nationalen Gericht nicht, eine dieser Bestimmung entgegenstehende Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts auszuschließen, wenn aufgrund dessen einer Privatperson eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt würde (Urteile vom 24.6.2019, Poplawski, C-573/17, EU:C:2019:530, Rn 65 bis 67, sowie vom 18.1.2022, Thelen Technopark Berlin, C-261/20, EU:C:2022:33, Rn 32 und die dort angeführte Rsp).
74 Ein nationales Gericht ist also nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Davon unbeschadet kann dieses Gericht sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde die Anwendung jeder Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 18.1.2022, Thelen Technopark Berlin, C-261/20, EU:C:2022:33, Rn 33).
75 Der Gerichtshof hat die unmittelbare Wirkung von Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung zwar anerkannt, indem er entschieden hat, dass sich diese Bestimmung als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau darstellt, um von einem Einzelnen vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat im weiten Sinne in Anspruch genommen zu werden (vgl in diesem Sinne Urteile vom 15.4.2008, Impact, C-268/06, EU:C:2008:223, Rn 68, und vom 12.12.2013, Carratù, C 361/12, EU:C:2013:830, Rn 28; vgl auch Urteil vom 10.10.2017, Farrell, C-413/15, EU:C:2017:745, Rn 33 bis 35 und die dort angeführte Rsp).
76 Dennoch kann das Unionsrecht, da sich im vorliegenden Fall im Ausgangsrechtsstreit Privatpersonen gegenüberstehen, das nationale Gericht nicht dazu verpflichten, Art 30 § 4 des Arbeitsgesetzbuchs allein aufgrund der Feststellung unangewendet zu lassen, dass diese Bestimmung gegen Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung verstößt.
77 Davon abgesehen führt ein Mitgliedstaat, wenn er eine Regelung erlässt, durch die die insb in Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung normierten Beschäftigungsbedingungen präzisiert und konkretisiert werden, iS von Art 51 Abs 1 der Charta Unionsrecht durch und muss somit die Achtung insb des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gem Art 47 der Charta gewährleisten (vgl entsprechend Urteil vom 6.10.2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C-245/19 und C-246/19, EU:C:2020:795, Rn 45 und 46 sowie die dort angeführte Rsp).
78 Aus den oben in den Rn 47 bis 56 gemachten Ausführungen ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, nach der ein befristet beschäftigter AN, dessen Arbeitsvertrag ordentlich gekündigt wird, anders als ein Dauerbeschäftigter nicht von vornherein schriftlich über den oder die Gründe für diese Kündigung unterrichtet wird, den Zugang dieses befristet beschäftigten AN zu einem durch Art 47 der Charta gewährleisteten Rechtsbehelf beschränkt. Dem AN wird auf diese Weise nämlich eine Information vorenthalten, die für die Beurteilung von Bedeutung ist, ob die Kündigung ungerechtfertigt ist, sowie gegebenenfalls für die Vorbereitung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs.
79 Angesichts dieser Erwägungen ist festzustellen, dass die oben in Rn 56 festgestellte Ungleichbehandlung durch das anwendbare nationale Recht das in Art 47 der Charta verankerte Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt, da dem befristet beschäftigten AN die dem Dauerbeschäftigten eingeräumte Möglichkeit vorenthalten wird, vorab zu beurteilen, ob er gerichtlich gegen die Kündigung seines Arbeitsvertrags vorgehen sollte, und gegebenenfalls eine Klage zu erheben, mit der die Kündigungsgründe präzise angefochten werden. Im Übrigen sind die von der polnischen Regierung vorgetragenen Gesichtspunkte in Anbetracht der oben in den Rn 60 bis 67 gemachten Ausführungen nicht geeignet, eine solche Einschränkung dieses Rechts in Anwendung von Art 52 Abs 1 der Charta zu rechtfertigen.
80 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass Art 47 der Charta aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (vgl in diesem Sinne Urteil vom 17.4.2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn 78).
81 Folglich wäre das nationale Gericht in dem oben in Rn 76 genannten Fall verpflichtet, im Hin-520 blick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das den Zugang zur Justiz umfasst, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art 47 der Charta iVm Paragraf 4 Nr 1 der Rahmenvereinbarung erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und daher Art 30 § 4 des Arbeitsgesetzbuchs so weit unangewendet zu lassen, als es erforderlich ist, um für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen der Charta zu sorgen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 17.4.2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn 79, und vom 8.3.2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C-205/20, EU:C:2022:168, Rn 57).
82 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein AG nicht verpflichtet ist, die ordentliche Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags schriftlich zu begründen, obwohl im Hinblick auf die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags eine solche Verpflichtung besteht. Das nationale Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden hat, ist, wenn es das anwendbare nationale Recht nicht im Einklang mit diesem Paragrafen auslegen kann, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art 47 der Charta erwachsenden gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieses Artikels zu sorgen, indem es soweit erforderlich jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. [...]
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18.3.1999, die im Anhang der RL 1999/70/EG des Rates vom 28.6.1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist, ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein AG nicht verpflichtet ist, die ordentliche Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags schriftlich zu begründen, obwohl im Hinblick auf die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags eine solche Verpflichtung besteht. Das nationale Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden hat, ist, wenn es das anwendbare nationale Recht nicht im Einklang mit diesem Paragrafen auslegen kann, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieses Artikels zu sorgen, indem es soweit erforderlich jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.
Vorliegende E des EuGH zum polnischen Recht enthält klare Aussagen über die Anforderungen an normierte abweichende Beschäftigungsbedingungen für AN mit befristeten Arbeitsverträgen zu jenen mit Dauerarbeitsverträgen, damit diese eine Unionsrechtskonformität erfüllen. Hier zeigt der EuGH auf, dass lediglich allgemeine Referenzen auf vermeintliche Zusammenhänge von Vollbeschäftigung zu möglichst flexiblen Beendigungsmöglichkeiten für AG keine taugliche Begründung für eine Rechtfertigung dieser unterschiedlichen Behandlung abgeben kann. Das Gericht spricht hier deutlich davon, dass eine Begründungspflicht einer Kündigung sicher nicht geeignet ist, die wirtschaftliche Flexibilität von Unternehmen einzuschränken (Rz 67) und in der Folge Vollbeschäftigung verhindert würde. Damit ist einer solchen Argumentation auch in Zukunft der sachliche Boden für eine richtlinienkonforme Differenzierung entzogen worden. Diese Aspekte wurden bereits im bis dato erschienenen Schrifttum dargestellt (zB RIW 2024, 294 ff; ZfRV 2024/52) bzw zusätzlich auf die Offensichtlichkeit der Schlechterstellung hingewiesen (Kovács, Das Ende der grundlosen Kündigung? ASoK 2024, 130); eine weitere Vertiefung in diesem Beitrag erübrigt sich daher.
Zentrales Thema dieser Besprechung soll aber die Auswirkungen von Art 47 GRC, dem Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf, sein, da immer öfter nationale Gerichte zumindest prima vista unionsrechtswidrige nationale Rechtslagen bei Rechtsstreitigkeiten zwischen privaten Personen weiterhin anwenden, weil die Gerichte im Richtlinienbereich nicht verpflichtet sind, die betroffenen nationalen Regelungen in solchen Fällen – wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist – unangewendet zu lassen (vgl die Ausführungen des EuGH Rz 73 f). Dies hat aus Rechtsschutzsicht insofern ein unbefriedigendes Ergebnis zur Folge, dass Betroffenen eine effektive Durchsetzung von Ansprüchen in dieser Situation oftmals verwehrt bleibt, da sie als letzte Möglichkeit einer Rechtsdurchsetzung auf die Geltendmachung von Staatshaftung dringen müssen, was aber voraussetzt, dass ein Schadenersatzanspruch überhaupt noch gegen den Staat geltend gemacht werden kann. Ansonsten bliebe nur die Möglichkeit, bei der EU-Kommission (ohne Rechtsanspruch auf ein solches) ein Vertragsverletzungsverfahren anzuregen, was aber an der fehlenden Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit nichts zu ändern vermag.
Wie Erika Kovács in ihrem Beitrag ausführt (ASoK 2024, 134 [130]), ist die Bezugnahme des EuGH auf Art 47 GRC in seiner E nicht unbedingt vorhersehbar gewesen. In der Nachschau zeigt sich aber, dass der EuGH bereits mehrmals in Zusammenhang mit ihm vorgelegten arbeitsrechtlichen Streitigkeiten auf Art 47 GRC referierte. Bemerkenswert war der Rückgriff auf diese Norm in der Rs King (EuGH 29.11.2017, C-214/16, ECLI:EU:C:2017:914). Herr King machte, da er rechtswidrig einen Vertrag als selbständiger Provisionär anstatt als AN hatte, einen finanziellen Ersatz für 24,5 Wochen Urlaub für seine gesamte Beschäftigungszeit von 1.6.1999 521 bis 6.10.2012 geltend. Im bekannteren Teil der E (Spruchteil 2) ging es darum, dass eine nationale (in diesem Fall englische) Norm, die eine finanzielle Geltendmachung von mehreren Bezugsräumen Urlaubs, der aufgrund einer Weigerung des AG nicht konsumiert werden konnte, verwehrt, unionsrechtswidrig ist (vgl Rs King Rz 62 ff). In seiner ersten Vorlagefrage thematisierte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division), ob es mit dem Unionsrecht (insb Art 47 GRC) vereinbar sei, dass ein AN erst Urlaub konsumieren muss, um dann in einem nachfolgenden Rechtsstreit den Anspruch auf Bezahlung klären zu können. Der Gerichtshof hielt fest, dass über Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten die einschlägige AZ-RL (2003/88/EG) zwar keinerlei Bestimmungen enthält, aber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf iSd Bestimmung der GRC gewährleistet sein muss (Rs King Rz 41). Der EuGH erkannte, dass die Notwendigkeit entweder zunächst (unbezahlten) Urlaub zu vereinbaren, um dann das Urlaubsentgelt einklagen zu können bzw die Unmöglichkeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine finanzielle Vergütung für nicht konsumierten Urlaub zu verlangen, nicht den Anforderungen von Art 47 GRC entspricht (Rs King Rz 44-47). Da der Anspruch auf Urlaub grundsätzlich in Art 31 Abs 2 GRC geregelt ist, musste der EuGH in dieser E die unmittelbare Anwendung der Bestimmungen der AZ-RL zwischen privaten Rechtssubjekten nicht weiter prüfen, sondern konnte von einer solchen ausgehen.
In der Rs Egenberger (EuGH 17.4.2018, C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257) ging es ua darum, ob und inwieweit die im deutschen Grundgesetz verankerte Autonomie der Kirchen eine Nachprüfung von deren arbeitsrechtlichen Entscheidungen durch staatliche Gerichte unzulässig machen kann: Hier war zu entscheiden, ob eine Diskriminierung wegen Konfessionslosigkeit durch einen kirchlichen AG vorlag, da Frau Egenberger aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit nicht zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund ihrer Bewerbung auf eine von der evangelischen Kirche ausgeschriebene Stelle eingeladen wurde. Der Gerichtshof hielt dazu ausdrücklich fest, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht für den Fall der Unmöglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts im Rahmen seiner Befugnisse verpflichtet ist, den aus den Art 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden Rechtsschutz des Einzelnen zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. Auch in diesem Fall war eine unmittelbare Anwendung von den Bestimmungen der Gleichbehandlungsrahmen-RL (2000/78/EG) kein Problem, da sich der EuGH auf Art 21 GRC (Grundsatz der Nichtdiskriminierung) berufen konnte (vgl die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwaltes Szpunar vom 15.7.2021(1), 261/20, Thelen Technopark Berlin, ECLI:EU:C:2021:620, Rz 27).
Anders nun der gegenständliche Fall: Das Gleichbehandlungsgebot von § 4 Befristungs-RL (1999/70/ EG) ist in der GRC nicht abgebildet, wie wohl der EuGH die Norm als „Grundsatz des Sozialrechts der Union“ bezeichnete (EuGH 13.9.2007, C-307/05, Yolanda Del Cerro Alonso, ECLI:EU:C:2007:509, Rz 37 f).Für eine unmittelbare Anwendung dieser Norm hat aber diese Kategorisierung des EuGH keine Auswirkung (vgl Krebber in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht5 [2024] § 4 RL 1999/70/EG Rz 7). Krebber schreibt diese Bezeichnung einem „Ausdruck der allgemeinen Haltung des unionsrechtlichen Arbeitsrechts zu atypischen Arbeitsverhältnissen“ zu (Krebber in Franzen/Gallner/Oetker [Hrsg], Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht5 § 4 RL 1999/70/EG Rz 7). Als gesicherte Judikaturlinie des EuGH (dieser verweist selbst auf seine Ausführungen in der E Rs Thelen Technopark, Rz 32 ff unter Verweis auf weitere Entscheidungen) kann nun gelten, dass Richtlinienbestimmungen – auch wenn diese ausreichend bestimmt sind, damit für Einzelne Rechtsansprüche ableitbar sind – lediglich die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung der RL binden, nicht aber die an einem ausschließlich privaten Rechtsstreit Beteiligten (vgl Biervert in Becker/Hatje/Schoo/Schwarze [Hrsg], EU-Kommentar4 [2018] Art 288 AEUV Rz 30). Folgerichtig kommt der EuGH in gegenständlicher E daher zum Schluss, dass das Unionsrecht das nationale Gericht in gegenständlichem Fall nicht dazu verpflichtet, die nationale (hier: polnische) Regelung unangewendet zu lassen (siehe Rz 76).
Aufgrund des weiteren Fortgangs der E hätte es an dieser Stelle für mehr Klarheit gesorgt, wenn der EuGH statt dem Begriff des Unionsrechts jenen des Richtlinienrechts verwendet hätte. Denn schließlich kommt er nur über das Erfordernis des effektiven Rechtsbehelfs des Art 47 GRC – also ebenfalls Unionsrecht – zum Ergebnis, dass das nationale Gericht, die nationale Norm unangewendet lassen muss. Im Effekt führt der EuGH so eine unmittelbare Normwirkung hinreichend genauer – quasi „self executing“ (Biervert, EU-Kommentar Art 288 AEUV Rz 29) – Richtlinienbestimmungen „durch die Hintertüre“ ein. Dies ist im Ergebnis umso bemerkenswerter, da sich der Text von Art 47 GRC Satz eins darauf bezieht, dass durch die Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sein müssen, um den Anspruch auf einen effektiven Rechtsbehelf „auszulösen“. Die Unionsrechtsverletzung aufgrund fehlender oder falscher Richtlinienumsetzung liegt aber auf Seiten des Staates und nicht in der Rechts-(streit-)beziehung der ausschließlich privaten Streitparteien, soweit diese nicht selbst durch Unionsrecht gebunden sind. Dies liegt aber in gegenständlichem Fall, in dem eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich war – und wie auch der EuGH festgehalten hat – nicht vor (vgl dazu Voet van Vormizeelek in Becker/Hatje/Schoo/Schwarze [Hrsg], EU-Kommentar4 Art 47 GRC Rz 7): Die Richtlinienbestimmungen räumen zwar einen feststellbaren Anspruch ein, dieser entfaltet aber – wie oben dargestellt – inter partes keine 522 Rechtswirksamkeit. So wie der EuGH aber Art 47 GRC anwendet, reicht die nicht gehörige Umsetzung einer Richtlinienbestimmung, die somit nur zu einem fiktiven Anspruchsverlust des privaten Einzelnen führen kann, als Rechtsverletzung iSd Charta-Bestimmung aus, um deren Anwendungsbereich zu eröffnen. Dieser Umweg führt nun dazu, die langjährig entwickelte, zunehmend einschränkende Dogmatik bezüglich der Normwirkungen von Richtlinien „zu umgehen“. Die Verpflichtung der Gerichte/Behörden, widerstehendes nationales Recht unangewendet zu lassen und so effektive Geltung zu verschaffen, wird somit lediglich auf eine andere grundrechtliche, bestandfestere Rechtsbasis gestellt.
Diese starke Ausdehnung des Grundsatzes des effektiven Rechtsbehelfs findet sich nicht nur bei arbeitsrechtlichen Entscheidungen, sondern auch in jenen des Umweltrechts. So ist § 42 AVG, der den Ausschluss der Parteistellung regelt, aufgrund der ungerechtfertigten Beschränkung des Anspruchs auf einen effektiven Rechtsbehelf von Umweltorganisationen unionsrechtswidrig und unangewendet zu lassen (EuGH 20.12.2017, C-664/14, Protect Natur gg BH Gmünd, ECLI:EU:C:2017:987, Rz 99-101). Unionsrechtliche Grundlage war hier die RL 2000/60/EG – Maßnahmen im Bereich der Wasserpolitik. Im Endeffekt diente in diesem Verfahren Art 47 GRC zur Hebung der Effizienz von jenen Richtlinienbestimmungen, die Verfahrensbeteiligungsrechte normierten, gegenüber einer nationalen Verfahrensbestimmung, die im Rahmen einer Verfahrenskonzentration andere Intentionen verfolgt (siehe Hengstschläger/Leeb, AVG § 42 Rz 1 [Stand 1.4.2021, rdb.at]).
Für die Betrachtung der Auswirkungen auf die österreichische Rechtsordnung mögen exemplarisch folgende zwei Beispiele dienen:
In der E OGH 21.11.2022, 8 ObA 58/22w, die sich mit der Unionskonformität des Kettenbefristungssystems des § 27 Theaterarbeitsgesetzes (TAG) auseinandersetzte (vgl dazu die E-Besprechung von Kozak, Ist das Kettenbefristungssystem des Theaterarbeitsgesetzes [unions-]rechtskonform? DRdA 2023/40), kam der Befristungs-RL eine entscheidende Rolle zu. Neben den Ausführungen des Höchstgerichts, dass § 5 Nr 1 der Befristungs-RL nicht hinreichend genau formuliert sei, um einen Anspruch Einzelner zu begründen (Rz 41), referierte der OGH auch auf die mangelnde unmittelbare Wirkung der Befristungs-RL zwischen privaten Streitparteien (vgl Rz 44). Geht man nun aber davon aus, dass eine Kontrolle – vergleichbar dem allgemeinen Kündigungsschutz gem § 105 ArbVG – bei dem TAG unterworfenen AN aufgrund der aktuellen und ständigen Judikatur nicht möglich ist und berücksichtigt die aktuelle Rsp des EuGH in vorliegender E, kann argumentiert werden, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz der Befristungs-RL in § 4 Befristungs-RL verletzt ist (zur Diskriminierung gegenüber Dauerbeschäftigten gegenteiliger Auffassung aufgrund einer Abwägung mit einer höheren Bestandfestigkeit des Bühnendienstverhältnisses: Kovács, Die Nichtverlängerungserklärung verstößt nicht gegen die Grundrechtecharte der EU, DRdA 2024, 335 f [340]). Vorliegender E des EuGH folgend müsste dann (wenn man eine Diskriminierung iSd Befristungs-RL als gegeben ansieht) aufgrund der Beachtung der Rechtswirkungen von Art 47 GRC § 27 TAG von den österreichischen Gerichten in Zukunft unangewendet gelassen werden, da dieser Unionsrecht verletzt. Es müsste daher eine Abkehr von der aktuellen Judikaturlinie erfolgen.
In (verspäteter) Umsetzung der Work-Life-Balance-RL (WLB-RL; RL [EU 2019/1158]) wurden aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben eine schriftliche Begründungspflicht von Kündigungen auf Verlangen der AN normiert (zB § 15 AVRAG; vgl Lindner/Prankl, Erste Gedanken zur neuen Pflicht zur Begründung von Kündigungen, ARD 6884/4/2024, 2). Die ErwGr 43 und 44 der WLB-RL sehen neben der Schaffung wirksamer und abschreckender Sanktionen bei Rechtsbruch iSd Ansprüche der WLB-RL die Schaffung eines angemessenen Rechtsschutzes vor. Die Ansprüche selbst sind in Art 12 Abs 2 WLB-RL geregelt. Österreich setzte diese Begründungspflicht mit dem Zusatz, dass eine Nichterfüllung derselben nicht zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung führt, um (vgl § 15 AVRAG oder § 15 Abs 7 MSchG letzter Satz). Sanktionen der Verletzung der Begründungspflicht sind daher positivrechtlich nicht vorgesehen. Jenseits der Interpretationsversuche im Schrifttum, welche Auswirkung einer verweigerten Begründung auf einen eventuellen weiteren Prozessverlauf hat (vgl Lindner/Prankl, ARD 6884/4/2024, 3 ff mwN), um der umgesetzten Rechtslage doch so etwas wie eine Sanktionierung abgewinnen zu können, wird es in Zukunft darauf ankommen, in welchem Umfang der Begründungsanspruch als ausreichend konkret vom EuGH angesehen wird, und wann idF der Anwendungsbereich von Art 47 GRC eröffnet ist. Es liegt also in der Würdigung des Gerichtshofes, ob die gesetzliche Anordnung der Folgenlosigkeit des Rechtsbruchs – immerhin kann diese Norm in ihrer Auswirkung auch formell-rechtlich so interpretiert werden, dass das Gericht eine Verweigerung der Begründung nicht im Rahmen der freien Beweiswürdigung berücksichtigen darf – trotzdem einen ausreichend effektiven Rechtsschutz bietet. Wenn der EuGH einer solchen Ansicht nicht folgt, dann wären nationale Gerichte in Anwendung von § 47 GRC verpflichtet, diesen Normteil, der die unbedingte Rechtswirksamkeit der Kündigung trotz Verletzung der Begründungspflicht enthält, aufgrund der Unionsrechtswidrigkeit nicht anzuwenden. 523
Das Bemühen des EuGH, ausreichend bestimmtes Richtlinienrecht trotz gegenteiliger oder fehlender nationaler Umsetzung effektive Anwendung jenseits von Vertragsverletzungsverfahren und Staatshaftungsansprüchen zu verschaffen, ist anzuerkennen. Dogmatisch überzeugt der Endpunkt einer schon längeren andauernden Entwicklung jedoch nicht wirklich.
Das Unbehagen österreichischer Gerichte, in Zukunft den nationalen Gesetzgeber aktiv korrigieren zu müssen, ist auch im Rahmen einer Berücksichtigung des österreichischen Systems der Gewaltentrennung verständlich, aber im Rahmen der effektiven und notwendigen Geltungsverschaffung von Ansprüchen aus dem Unionsrecht wohl zu akzeptieren.