KraayvangerDie Mitverantwortung des Arbeitgebers im Kündigungsschutz

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 399 Seiten, € 119,90

ERIKAKOVÁCS (WIEN)

Der Kündigungsschutz ist ein Kernbereich des Arbeitsrechts und obwohl in der deutschen Lehre schon sehr viel zu diesem Thema veröffentlicht wurde, gibt es immer wieder neue Regelungen oder Urteile, die Anlass zu einer Abhandlung geben. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf ein Thema, das in der österreichischen Lehre jedenfalls so gut wie nicht behandelt worden ist, nämlich auf die Auswirkungen des Mitverschuldens des AG auf die Kündigungsbefugnis. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit der*die AG für den kündigungsauslösenden Sachverhalt (mit-) verantwortlich ist und welche Auswirkungen diese Mitverantwortung auf den Kündigungsgrund hat. Insb bei personen- und betriebsbedingten Kündigungen lassen sich häufig Umstände finden, die als eine Form der arbeitgeberseitigen Mitverantwortung zu werten sind.

Das vorliegende Werk ist eine von Roland Schwarze betreute und von der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover angenommene Dissertation. Ziel der Arbeit ist es, ein System zu entwickeln, das den Kündigungsschutz an Zurechnungsgesichtspunkten ausrichtet.

Ausgangspunkt der Verfasserin ist, dass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses und der Rücktritt wegen nicht vertragsgemäßer Leistung nach § 323 BGB eine starke Parallele aufweisen, da beide eine Störung voraussetzen, die der Empfänger der Beendigungserklärung nicht notwendigerweise zu vertreten hat. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die interessante Feststellung, dass es im Schuldrecht mit § 323 VI BGB eine gesetzliche Regelung gibt, die vorgibt, wie sich das überwiegende Verschulden auf das Rücktrittsrecht auswirkt, während sich im Kündigungsrecht keine vergleichbare Regelung findet. Die überwiegende arbeitgeberseitige Verantwortlichkeit für den Kündigungsgrund kann aber nicht folgenlos bleiben. Die Untersuchung widmet sich daher der Frage, inwieweit das Kündigungsschutzrecht die Störungsursache wechselseitig, dh zu Gunsten und zu Lasten von AN und AG, berücksichtigt. Darüber hinaus werden zivilrechtliche Überlegungen, insb der Gedanke des Rechtsausschlusses, auf das Kündigungsrecht übertragen.

Im zweiten Teil der Arbeit wird zunächst die Verantwortung im Kündigungsschutzrecht, insb die Zurechnungsproblematik, erläutert, wobei Lisa Kraayvanger untersucht, wie hoch die Verantwortung des*der AN für die Störung sein muss, um eine Kündigung zu rechtfertigen. Da der*die AG die Pflicht hat, die Gesundheit und das Leben des*der AN sowie seine*ihre Persönlichkeit zu schützen und ihm*ihr verschiedene Informationen zur Verfügung zu stellen, kann sich aus der Verletzung dieser Pflichten auch seine*ihre Verantwortlichkeit für einen personenbedingten Kündigungsgrund ergeben. Der*die AG kann auch für verhaltens- oder betriebsbedingte Störungen des Arbeitsverhältnisses durch den*die AN (mit-)verantwortlich sein. Handelt der*die AG selbst rechtswidrig, hat dies die Rechtsfolge, dass das an sich pflichtwidrige Verhalten des*der AN keine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellt. Spannender sind jedoch die Fälle, die im Mittelpunkt dieser Abhandlung stehen, in denen das Verhalten des*der AG nicht als pflichtwidrig qualifiziert werden kann.

Der dritte Teil der Arbeit befasst sich mit der Frage, welche Folgen es für die Kündigungsbefugnis des Kündigenden hat, wenn er für die Entstehung des Kündigungsgrundes allein oder teilweise verantwortlich ist. Auch hier wird die Frage der personen-, 562 verhaltens- und betriebsbedingten Kündigungsgründe gesondert behandelt und jeweils durch Entscheidungen veranschaulicht, was die praktische Bedeutung und Tragweite der Probleme verdeutlicht.

Für österreichische Leser*innen ist die Frage interessant, inwiefern die Ausführungen auf die österreichische Rechtslage übertragbar sind. Aufgrund der Kündigungsfreiheit bedarf es in Österreich für eine wirksame Kündigung keines Kündigungsgrundes. Dennoch könnten die Ausführungen zu den Rechtfertigungsgründen für eine Kündigung von Relevanz sein, wobei die Verantwortung des*der AG für das Entstehen des eigentlichen Kündigungsgrundes nur punktuell berücksichtigt wird. Ein allgemeiner Grundsatz, wie die Judikatur die Mitverantwortung des*der AG an der Störung des Arbeitsverhältnisses für die Wirksamkeit der Kündigung zu berücksichtigen hat, existiert zwar nicht, jedoch bezieht die Judikatur das Mitverschulden des*der AG bei der Beurteilung eines Kündigungsrechtfertigungsgrundes in bestimmten Fallgruppen mit ein.

So wird zB bei der Entscheidung, ob ein Krankenstand einen ausreichenden Rechtfertigungsgrund darstellt, auch berücksichtigt, ob dieser durch einen Arbeitsunfall verursacht wurde. Der OGH betont, dass ein durch einen Arbeitsunfall verursachter Krankenstand von acht Monaten „üblicherweise auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr in Kauf genommen“ wird, sodass eine darauf gestützte Kündigung nicht sittenwidrig ist. „Selbst wenn die Beklagte ein (Mit-)Verschulden am Zustandekommen des Arbeitsunfalles treffen sollte, würde die Kündigung dadurch allein nicht sittenwidrig“, so der OGH (19.9.2002,8 ObA 25/02p, siehe auch Trost in Strasser/Jabornegg/Resch [Hrsg], ArbVG § 105 [Stand 1.9.2013, rdb.at] Rz 286). Der OGH hat in späteren Entscheidungen den achtmonatigen ununterbrochenen Krankenstand als Maßstab für die Beurteilung herangezogen, ob die Dauer des Krankenstandes ausreichend lang ist, um als personenbedingter Rechtfertigungsgrund gelten zu können (so etwa OGH 2.9.2008, 8 ObA 48/08d). Für die Dauer eines durch einen Arbeitsunfall verursachten Krankenstands wird daher ein längerer Zeitraum gefordert als für Krankenstände, an denen der*die AG kein Mitverschulden trifft.

Neben dem Arbeitsunfall kann der*die AG auf vielfältige Weise für den Krankenstand des*der AN mitverantwortlich sein. Im österreichischen Recht stellen sich zB folgende Fragen: Kann sich ein*e AN im Kündigungsschutzprozess darauf berufen, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der hohen Arbeitsbelastung und den Fehlzeiten besteht? Ist der*die AG im Rahmen seiner*ihrer Fürsorgepflicht verpflichtet, den*die AN vor Burn-out zu schützen? Spielt die Mitverantwortung des*der AG für die Fehlzeiten eine Rolle, wenn sich der*die AN durch das Verhalten des*der AG unangemessen behandelt fühlt, dieses Verhalten aber nicht den Tatbestand des Mobbings erfüllt? Frau Kraayvanger überträgt den Gedanken des § 323 VI BGB auf den Kündigungsschutz und spricht sich dafür aus, dass die arbeitgeberseitige Kündigung nicht gerechtfertigt ist, wenn die Erkrankung des*der AN durch ein unangemessenes Verhalten des*der AG verursacht wurde, das jedoch nicht den Tatbestand des Mobbings erfüllt. Sie spricht auch in den anderen aufgezählten Fällen (bezogen auf das deutsche Recht) von einem krankheitsverursachenden Organisationsverschulden des*der AG.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine hervorragende Monografie, die über das übliche wissenschaftliche Niveau von Dissertationen hinausgeht und durch die Übertragung zivilrechtlicher Überlegungen auf das Arbeitsrecht neue Erkenntnisse für den Kündigungsschutz liefert. Der Autorin ist es gelungen, eine Grundsatzfrage aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und aus der Analyse der Rsp allgemeine Grundsätze herauszuarbeiten. Trotz erheblicher Unterschiede in der Bedeutung der Kündigungsgründe in Deutschland und Österreich sind die Überlegungen der Autorin zum deutschen Recht auch für die Beurteilung des österreichischen Kündigungsschutzrechts relevant. Da in Österreich die Mitverantwortung des*der AG am Kündigungsgrund bisher noch nicht dogmatisch strukturiert aufgearbeitet wurde, kann das Buch auch für österreichische Leser*innen äußerst wertvolle Erkenntnisse liefern.