HeineDer Vorbehalt menschlicher Entscheidungen im Arbeitsverhältnis. Zum Einsatz „Künstlicher Intelligenz“ in arbeitsrechtlichen Entscheidungsprozessen

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, XXII, 484 Seiten, kartoniert, € 123,30

MARTINGRUBER-RISAK (WIEN)

Das derzeit wohl „heißeste“ arbeitsrechtliche Thema ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Arbeitsverhältnis, wobei es vorrangig um zwei Themenbereiche geht. Einerseits um das Potenzial der Diskriminierung durch Algorithmen und andererseits um Fragen der Transparenz und der Zurechnung von durch die KI getroffenen Entscheidungen. Eine der Strategien, den negativen Folgen solcher automatisierten Entscheidungssysteme entgegenzuwirken, ist der Ansatz in Art 22 DSGVO, wonach betroffene Personen das Recht haben, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihnen gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt. Diesem sogenannten „Vorbehalt der menschlichen Entscheidung“ und dessen Relevanz für das Arbeitsverhältnis ist die vorliegende Arbeit gewidmet, die 2022 von der Universität Hannover als Dissertation angenommen wurde.

Die Arbeit behandelt das Thema, wie man es sich von einer guten deutschen Dissertation erwartet, in umfassender Weise und gliedert sich in vier Teile, wobei die ersten beiden sehr lesenswert die Grundlagen der Algorithmisierung und die potenziellen Einsatzfelder von Algorithmen bei der Treffung von AG-Entscheidungen behandeln. Das Herzstück der Arbeit ist freilich der dritte Teil, der sich mit der Zulässigkeit von algorithmisierten AG-Entscheidungen beschäftigt. Dieser ist überaus detailliert und kundig ausgefallen, wobei insb der Entkräftung des Vorwurfs der Ausschließlichkeit der automatisierten Entscheidung durch „menschliches Dazwischentreten“ breiter Raum gewidmet wird (S 257 ff). Damit in Verbindung steht das vom Verfasser aus Art 22 Abs 1 DSGVO zu Recht abgeleitete Verbot algorithmisierter Entscheidungsvorbereitung, ansonsten die abstrakte Gefahr einer Aushebelung von Art 22 DSGVO bestehen würde. Dieses Verbot besteht immer dann, wenn eine entscheidungsreife Vor-Entscheidung generiert wird, die ein effektives menschliches Dazwischentreten nicht erwarten lässt. Auch in diesem Fall kommt Art 22 DSGVO zur Anwendung, weshalb eine solche automatisierte Entscheidung nur dann zulässig ist, wenn ein Ausnahmetatbestand nach Abs 2 leg cit besteht. Von Bedeutung ist insb die Erforderlichkeit automatisierter Entscheidungen für den Abschluss oder die Erfüllung des Arbeitsvertrages. Ersteres wird bei einer automatisierten Auswahl aus einer außergewöhnlich hohen oder konstant sehr hohen Bewerber:innenzahl angenommen; zweiteres bei der Ausübung des Direktionsrechtes, wenn ein unternehmerisches Ziel nur unter Einsatz algorithmischer Weisungssysteme erreicht werden kann. Als Beispiel wird hier ein Paketzustelldienst genannt. Positiv hervorzuheben ist bei der vorliegenden Publikation ohnehin, dass sich in ihr zahlreiche, gesondert hervorgehobene Praxisbeispiele finden, die die Relevanz der mitunter doch recht abstrakten Ergebnisse augenscheinlich machen. Hier hätte sich eine verstärkte Bezugnahme auf die Plattformarbeit 561 angeboten, die derzeit das wohl am meisten von Algorithmen durchdrungene Wirtschaftssegment darstellt.

Besonders hervorzuheben ist der vierte Teil der Arbeit, der sich mit der praktischen Durchsetzung des Gebots des Vorbehalts der menschlichen Entscheidung befasst, wobei zuerst auf die in der DSGVO angelegte individuelle Absicherung eingegangen wird. Zu Recht sieht der Verfasser hier AN in einem Beweisnotstand und leitet aus dem effet utile der DSGVO die Notwendigkeit einer Beweiserleichterung ab. AN haben nur darzulegen, dass ihre personenbezogenen Daten automatisiert verarbeitet werden und dass eine sie betreffende erhebliche Entscheidung ergangen ist. Die AG haben dann darzutun, dass die Entscheidung nicht (unzulässigerweise) auf eine ausschließlich automatisierte Datenverarbeitung zurückgeht. Nichtsdestotrotz machen die Machtungleichgewichte im Arbeitsverhältnis eine zusätzliche kollektive Absicherung notwendig, die der Verfasser aus den sozialen und personellen Mitwirkungsrechten des BR nach dem (deutschen) BetrVG ableitet. Auch in Österreich bestehen entsprechende Mitwirkungsrechte, wobei insb die notwendige Mitbestimmung nach §§ 96, 96a ArbVG relevant ist. In diesem Teil hätte, wie in den vorangegangenen erfolgt, eine Zusammenfassung der Ergebnisse die Lesbarkeit und Nutzung insb auch für Praktiker:innen gesteigert.

Gerade weil für die österreichische Rechtslage eine derart umfassende Befassung mit dem Erfordernis des Vorbehalts menschlicher Entscheidungen im Arbeitsverhältnis noch aussteht, ist die Arbeit auch für Österreich von Bedeutung. Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit der DSGVO in der gesamten EU sind ohnehin viele Aussagen auch über Deutschland hinaus relevant. Freilich ist zu beachten, dass sich seit Abschluss der Arbeit auf EU-Ebene einiges getan hat. Zu erwähnen sind einerseits die Verabschiedung des KI-Gesetzes im Mai 2024 sowie andererseits die RL zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei der Plattformarbeit. Gerade letztere enthält in Art 7 ff Bestimmungen über algorithmisches Management einschließlich der Aufsicht über automatisierte Systeme über Menschen (Art 10). Das zeigt, dass der Themenbereich des Einsatzes von KI im Arbeitsverhältnis legistisch durchaus im Fluss ist und für die wissenschaftliche Befassung damit ein „bewegliches Ziel“ darstellt. Nichtsdestotrotz ist die Publikation wegen der grundlegenden und umfassenden Behandlung der Kernfragen des Vorbehalts menschlicher Entscheidung als wichtiges Referenzwerk anzusehen, das die Spezifika des Arbeitsverhältnisses angemessen berücksichtigt, und um das man in Zukunft bei der Befassung mit Rechtsfragen des algorithmischen Managements nicht umhinkommen wird.