KurzerDas Gebot fairen Verhandelns im Arbeitsrecht – Konkretisierung einer neuen Rechtsfigur und Wegweiser zu einem allgemeinen Widerrufsrecht für arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge

Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, 259 Seiten, € 79,–

TIMHUSEMANN (MANNHEIM)

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Wenn man eine Nacht darüber geschlafen und/oder den Rat von Experten gehört hat, würde man manche Entscheidungen anders treffen. Für die Verträge des Vortages gilt aber: pacta sunt servanda. Dieser Grundsatz entfaltet auch bei arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen seine Wirkung. Viele dieser Verträge werden aber in Situationen geschlossen, in denen die Entscheidungsfreiheit des AN zwar eingeschränkt ist, ihm aber andererseits kein Anfechtungs- oder ein anderes Lösungsrecht vom Vertrag zusteht. Um diesen Situationen gerecht zu begegnen, hat das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG), in seiner E vom 7.2.2019 im zweiten Leitsatz formuliert: „Ein Aufhebungsvertrag ist jedoch unwirksam, wenn er unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen ist“ (BAG 7.2.2019, 6 AZR 75/18).

Was beinhaltet das Gebot des fairen Verhandelns und wie ließe sich gegebenenfalls sonst auf die bei arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen häufig problematische Verhandlungssituation reagieren?

Es sind diese Fragen, denen sich die Verfasserin in ihrer Doktorarbeit stellt. Nach einer Einführung und der knappen Analyse weiterer Lösungsmöglichkeiten stellt die Autorin das dritte Kapitel unter die Überschrift „Das Gebot fairen Verhandelns im Wandel der Zeit“ (S 51). Hier arbeitet sie zutreffend die Bedeutung des Judikats vom 7.2.2019 heraus. Das nachfolgende vierte Kapitel widmet sich den Fragen nach der dogmatischen Anknüpfung des Gebotes, dessen Inhalt und der Rechtsfolge eines Verstoßes sowie einer notwendigen zeitlichen Begrenzung (S 63).559

In der Begründung sowie im Ergebnis nachvollziehbar verortet die Verfasserin das Gebot bei der vorvertraglichen Rücksichtnahmepflicht und stellt mit Kamanabrou (RdA 2020, 201, 206) zutreffend fest, dass die wahre Problematik nicht die rechtliche Verortung, sondern die inhaltliche Unschärfe darstellt (S 90). Diese inhaltliche Unschärfe verbleibt auch nach der Analyse der Verfasserin. Das ist ihr nicht vorzuwerfen, betont die Rsp doch die Bedeutung des Einzelfalls. Im Gegenteil, die Verfasserin hat es sich nicht leicht gemacht, sondern ausgewertet, was auszuwerten war: Die uneinheitliche Instanzrechtsprechung einerseits und die vielstimmige Literatur andererseits. Das gilt auch für die Analyse der Rechtsfolge, in deren Rahmen sie die vom BAG vertretene Automatik ablehnt, nach der ein Aufhebungsvertrag ohne weiteren Zwischenschritt nichtig sei, wenn er gegen das Gebot verstoße (S 162). Bei der zeitlichen Grenze der Rechtsausübung plädiert die Verfasserin für eine analoge Anwendung der Fristen, die für die Anfechtung wegen Drohung oder Täuschung vorgesehen sind (S 172).

Hervorhebenswert ist das sechste Kapitel, das sich dem aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis stammenden Institut der undue influence, dh der „ungebührlichen Beeinflussung“, widmet. Der Autorin gelingt hier eine sehr inhaltsreiche und gut zu lesende Darstellung und Auseinandersetzung, in der sie das Institut – zurecht – gewissermaßen entzaubert. Denn die Wertung und insb die Vermutungen, die zentraler Inhalt der undue influence sind, lassen sich nicht auf die Situation des Gebots der fairen Verhandlungen übertragen (S 211). Das siebte Kapitel schließt mit dem Formulierungsvorschlag für ein gesetzliches Widerrufsrecht bei Aufhebungsverträgen.

Ob es aber überhaupt eines Tätigwerdens des Gesetzgebers bedarf (ebenso dafür Jung, ZFA 2024, 24, 47 ff), erscheint zweifelhaft, wenn man die Ausführungen der Verfasserin um zwei Überlegungen ergänzt.

Die Diskussion um das Gebot der fairen Verhandlung basiert nicht mehr allein auf der E des BAG vom 5.2.2022, sondern auch auf derjenigen vom 24.2.2022 (6 AZR 333/221). Die Verfasserin sieht die E, räumt ihr allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung ein. Nach einigen sehr weiten Interpretationen in der Instanzrechtsprechung, zu denen auch das von der Verfasserin zu Recht kritisierte Urteil des LAG Mecklenburg- Vorpommern gehörte, hat sich das BAG am 24.2.2022 um eine Beschränkung des Gebots bemüht. Dort heißt es: „Dabei [beim Gebot] geht es nicht um das Erfordernis der Schaffung einer für den Vertragspartner besonders angenehmen Verhandlungssituation, sondern um das Gebot eines Mindestmaßes an Fairness im Vorfeld des Vertragsschlusses.“ Das Urteil enthielt darüber hinaus eine praxisrelevante Ergänzung des Gebotstatbestandes. Im Rahmen des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts hatte der Rechtsanwalt der AG im Rahmen der Verhandlungen erklärt, „dass dann, wenn sie [die Arbeitnehmerin] durch die Tür gehe, auch wenn sie nur die Toilette aufsuchen wolle, der Abschluss des Aufhebungsvertrags nicht mehr in Betracht komme“. Die AN war unangekündigt zu einem Gespräch gebeten worden. Das BAG hat sich an dieser Vorgehensweise nicht gestört. Es entspräche dem gesetzlichen Leitbild, wonach ein unter Anwesenden unterbreitetes Angebot grundsätzlich nur sofort angenommen werden könne (§ 147 Abs 1 Satz 1 BGB). Diese Überlegung dürfte auch in Österreich verfangen (§ 862 S 2 ABGB).

Obgleich das Rechtsinstitut der undue influence als solches wenig hilfreich ist, so liefert das dazu ergangene Urteil des California District Court of Appeal in Sachen Odorizzi vs Bloomfield School District vom 3.11.1966 (246 Cal.App.2d 123, 54 Cal.Rptr. 533) einen Kriterienkatalog, den man auch für das Gebot der fairen Verhandlung nutzbar machen kann.

Der Kriterienkatalog lautet, angepasst an die in Rede stehende Situation:

  • Vertragsverhandlungen zu einem ungewöhnlichen oder unangemessenen Zeitpunkt,

  • Vertragsverhandlungen an einem ungewöhnlichen Ort,

  • beharrliche Forderung des AG, das Geschäft sofort abzuschließen,

  • extreme Betonung der nachteiligen Folgen einer Verzögerung,

  • Einsatz mehrerer Überredungskünstler („persuader“) durch den AG gegenüber dem allein verhandelnden AN,

  • Fehlen von Beratern beim AN,

  • Fehlende Möglichkeit der Konsultation von Beratern oder Rechtsanwälten für den AN.

Wenn man zu diesem Katalog noch die fehlenden Sprachkenntnisse oder eine extreme psychische Schwäche bzw intellektuelle Unterlegenheit hinzuzählt, dann lässt sich die Argumentation etwas strukturieren. Es bleibt aber eine Betrachtung des Einzelfalls notwendig, denn schon 1966 war dem kalifornischen Gericht klar, dass stets mehrere Umstände vorliegen müssen, um eine ungebührliche Beeinflussung annehmen zu können. Insoweit ist die klare Lösung, die von der Autorin vorgeschlagen wird, überlegen.

Es bleibt allen denjenigen, die sich mit dem Gebot des fairen Verhandelns auseinandersetzen wollen, das hier in Rede stehende Werk ans Herz zu legen.