27Pflegegeld trotz Langzeiturlaub in der Türkei – der gewöhnliche Aufenthalt auf dem Prüfstand
Pflegegeld trotz Langzeiturlaub in der Türkei – der gewöhnliche Aufenthalt auf dem Prüfstand
Auch bei einem Auslandsaufenthalt von 125 Tagen kann im Einzelfall noch von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich ausgegangen werden, wenn in dieser Zeit kein gewöhnlicher Aufenthalt im Ausland etabliert wurde und der Bezug zu Österreich während dieses Zeitraums aufrecht bleibt.
Regelmäßige Auslandsaufenthalte reichen für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland nicht aus. Es bedarf zusätzlicher Elemente, die auf eine längere und beständige Beziehung zwischen Aufenthaltsort und Person schließen lassen.
Hinsichtlich der Aufrechterhaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ist für den Anspruch auf Pflegegeld ein weniger strenger Maßstab als für den Bezug einer Ausgleichszulage anzulegen.
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kl für die Zeit eines Urlaubsaufenthalts in der Türkei von etwas mehr als vier Monaten weiterhin Anspruch auf Pflegegeld hat.
[2] Der 1981 geborene Kl ist österreichischer Staatsbürger und lebt gemeinsam mit seinen Eltern in einer behindertengerecht eingerichteten Wohnung in Wien. Er bezieht von der Bekl Pflegegeld der Stufe 7, das im Jahr 2021 (infolge einer Anrechnung von 60 €) 1.685,10 € monatlich betrug.
[3] Von 6.6.2021 bis 10.10.2021 hielt sich der Kl gemeinsam mit seinen Eltern – wie schon in der Vergangenheit – in deren behindertengerecht eingerichteten Wohnung in der Türkei auf, um dort den Sommer zu verbringen. Schon bei der Abreise war klar, dass er spätestens im Herbst 2021 wieder nach Wien zurückkehren werde. Die Erwachsenenvertreterin des Kl verständigte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) (erst) am 7.7.2021 über den Auslandsaufenthalt. Diese stellte daraufhin die Auszahlung des Pflegegeldes mit 1.9.2021 vorläufig ein. Mit Bescheid vom 10.11.2021 anerkannte sie den Anspruch des Kl auf Pflegegeld der Stufe 7 wieder ab 1.11.2021.
[4] Mit Bescheiden vom 21.10.2021 und 17.11.2021 sprach die Bekl insgesamt aus, dass das Pflegegeld für die Zeit von 1.7.2021 bis 31.10.2021 entzogen wird, der Überbezug (für die Monate Juli und August 2021) von 3.370,20 € auf die von ihr zu erbringenden Geldleistungen aufzurechnen ist und in Raten von 800 € monatlich vom Pflegegeld abgezogen wird.
[5] Mit seiner Klage begehrt der Kl die Gewährung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß über den Monat Juni 2021 hinaus sowie implizit die Feststellung, nicht zum Rückersatz verpflichtet zu sein. Er habe mit seinen Eltern nur einen längeren (Sommer-)Urlaub in der Türkei verbracht, seinen gewöhnlichen Aufenthalt aber nicht dorthin verlegt. Der Mittelpunkt seiner Lebensführung sei stets Wien gewesen, was sich neben seiner von Anfang an geplanten Rückkehr im Herbst 2021 vor allem darin dokumentiere, dass weder der Mietvertrag der Wohnung in Wien gekündigt noch das Pflegeequipment (Pflegebett, Patientenlifter usw) verkauft oder mitgenommen worden seien. Die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung lägen daher nicht vor.
[6] Die Bekl hielt dem entgegen, dass lediglich vorübergehende bzw kurzfristige Auslandsaufenthalte den Anspruch auf Pflegegeld nicht beeinträchtigen. Bei einem durchgehenden Auslandsaufenthalt von 125 Tagen könne hingegen nicht mehr von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich gesprochen werden, sodass das Pflegegeld zu entziehen sei. Da der Auslandsaufenthalt nicht innerhalb der Frist des § 10 BPGG angezeigt worden sei, sei der Kl auch zum Rückersatz (der in den Monaten Juli und August 2021) bezogenen Leistungen verpflichtet.
[7] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Weder sei durch den Urlaubsaufenthalt ein beständiger Aufenthalt in der Türkei begründet worden noch habe der Kl seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich aufgegeben.
[8] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Bekl Folge, wies das Klagebegehren ab und sprach aus, dass das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Juni 2021 bis 31.10.2021 entzogen und der Überbezug von 3.370,20 € in monatlichen Raten von 800 € vom künftig zu leistenden Pflegegeld abgezogen wird. Bei kurzfristigen bzw vorübergehenden Auslandsaufenthalten bleibe der gewöhnliche Aufenthalt in Österreich bestehen, nicht aber im Fall eines Langzeiturlaubs, wie ihn hier der Kl in der Türkei verbracht habe. Damit seien die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld nicht mehr vorgelegen und dieses für die Dauer des Auslandsaufenthalts zu entziehen. Der Kl sei überdies zum Rückersatz der zu Unrecht empfangenen Leistungen verpflichtet, weil der Urlaub und dessen geplante Dauer seiner Erwachsenenvertreterin bekannt gewesen seien, sie dies der Bekl aber trotzdem nicht innerhalb von vier Wochen bekannt gegeben habe. Da anzunehmen sei, dass der Kl nicht über die Mittel zum sofortigen Ersatz verfüge, sei eine Ratenzahlung anzuordnen.
[9] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil keine Rsp des OGH zur Frage vorliege, ob ein Pflegegeldbezieher mehrere, zeitlich getrennt zu beurteilende gewöhnliche Aufenthaltsorte haben könne, sodass die Anspruchsvoraussetzung des § 3 Abs 1 BPGG bei Verlassen des Bundesgebiets wegfalle.
[10] Dagegen richtet sich die Revision des Kl, mit der er die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils anstrebt [...].
[12] Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
[13] 1. Im Verfahren ist nicht strittig, dass die Entziehung des Pflegegeldes nur in Betracht kommt, wenn eine Voraussetzung für seine Gewährung wegfällt. Außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs342 der VO (EG) 883/2004 ist das (ua) der Fall, wenn der bisher Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Inland hat (§ 3 Abs 1 und § 3a Abs 1 BPGG [...]).
[14] 2.1. Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist nach der ständigen sozialrechtlichen Rsp iSd § 66 Abs 2 JN zu verstehen (RS0106709; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 3.68 ua). Ab wann und wie lange von einem „gewöhnlichen Aufenthalt“ gesprochen werden kann, ist allein aus der Definition des § 66 Abs 2 JN nicht zu beantworten. Nach der Rsp kommt es dabei darauf an, ob jemand einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehung macht (RS0074198 [T14]). Das richtet sich vor allem nach der Dauer des Aufenthalts und seiner Beständigkeit sowie anderen, objektiv überprüfbaren Umständen persönlicher oder beruflicher Art, die eine dauerhafte Beziehung zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen und darauf hindeuten, dass sie nicht nur vorübergehend, sondern längere Zeit an einem Ort bleiben wird (RS0085478 [insb T3]). Der rein faktische Aufenthalt genügt dafür nicht (RS0106711 [T4] ua); ob der Aufenthalt erlaubt ist oder welche Motivation ihm zugrunde liegt, ist ebenfalls nicht relevant (10 ObS 191/13f). Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, ist Ergebnis einer Gesamtschau bzw Würdigung aller genannten Kriterien (10 ObS 129/04z; 10 ObS 28/99m SSV-NF 13/21; 10 ObS 197/98p SSV-NF 12/91 ua) und kann daher immer nur anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RS0106709 [T2]; RS0106712 [T5]).
[15] 2.2. Darauf aufbauend entspricht es der stRsp, dass nur vorübergehende bzw kurzfristige Auslandsaufenthalte den Anspruch auf Pflegegeld nicht beeinträchtigen. Nach oben hin findet ein Auslandsaufenthalt jedenfalls dann seine Grenze, wenn er eine Dauer erreicht hat, die geeignet ist, einen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland zu begründen (RS0106712). Die Judikatur nimmt dabei einen kritischen Zeitraum von vier Wochen bis sechs Monaten an: Abwesenheiten bis zu vier Wochen sind – ohne Rücksicht auf ihre Gründe – jedenfalls als unschädlich anzusehen (RS0106712 [T1, T3]), wohingegen bei einem Auslandsaufenthalt von mehr als der Hälfte des Jahres die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland anzunehmen ist und daher nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass der gewöhnliche Aufenthalt noch im Inland liegt (RS0119112 [T1]; RS0106712 [T7]). Innerhalb dieses Rahmens kann daher unter Bedachtnahme auf den Zweck der Abwesenheit (vgl RS0106712 [T4]) auch ein längerer Auslandsaufenthalt ohne Auswirkung auf das Pflegegeld sein, solange der Ausnahmecharakter des Aufenthalts im Ausland gewahrt ist und nach den Gesamtumständen noch von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland auszugehen ist (10 ObS 2207/96y SSV-NF 10/83). Soweit in der älteren Rsp auf eine Frist von zwei Monaten abgestellt wurde (10 ObS 401/97m SSVNF 11/153 ua), beruhte das auf der insoweit nicht mehr in Kraft stehenden Regelung des § 89 Abs 2 ASVG (idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2015/2), die zudem ohnedies bloß der Orientierung diente (10 ObS 129/04z mwN; vgl Pfeil in SV-Komm § 292 ASVG Rz 9).
[16] 3. Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht richtig dargestellt. Es hat sie aber nicht entsprechend auf den Anlassfall übertragen, weil seine Entscheidung nicht auf einer Würdigung aller iSd § 66 JN maßgeblicher Kriterien, sondern letztlich nur auf einem Rückgriff auf die Dauer des Auslandsaufenthalts fußt, was aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit zu korrigieren ist.
17] 3.1. Der OGH hat bereits ausgesprochen, dass eine Person auch mehrere gewöhnliche Aufenthaltsorte haben kann und als Beispiel dafür einen Pflegebedürftigen angeführt, der jeden Winter mehrere Monate „Langzeiturlaub“ in wärmeren Gegenden macht (10 ObS 2207/96y SSV-NF 10/83; vgl auch RS0046577 [T3]). Dem folgt auch die jüngere Lehre (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 3.68 ua).
[18] Das setzt allerdings voraus, dass solche Urlaube in regelmäßigen, zeitlich klar erkennbaren Abständen („jeden Winter“) erfolgen und der Urlaubsort in dieser Zeit auch im dargestellten Sinn den Lebensmittelpunkt bildet (vgl Simotta in Fasching/Konecny3 § 66 JN Rz 32). Solcherart periodisch wiederkehrende Urlaube lassen sich zwar aus den Feststellungen nicht eindeutig ableiten, weil nur feststeht, dass der Kl und seine Eltern „auch in der Vergangenheit
“ im Sommer für mehrere Monate in die Türkei gefahren sind. Der Frage, ob das Erstgericht mit dieser Feststellung jährliche Urlaube – wofür einiges spricht – gemeint hat, muss hier aber nicht nachgegangen werden. Selbst wenn der Kl regelmäßig Urlaub in der Türkei gemacht haben sollte, enthält der festgestellte Sachverhalt keine Hinweise, die den erforderlichen weiteren Schluss, dass in der Türkei auch ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden wäre, zulassen. Denn von der notwendigen längeren und vor allem beständigen Beziehung zwischen einer Person und einem Aufenthaltsort kann allein durch regelmäßige Aufenthalte bei Verwandten, wie etwa in Form von jährlichen Besuchen zur Weihnachtszeit, noch nicht ausgegangen werden, auch wenn sie zwischen einem und drei Monaten dauern. Hat der Betreffende seinen ordentlichen Wohnsitz woanders, haben solche (Verwandten-)Besuche den Charakter eines bloßen Urlaubs, die einen gewöhnlichen Aufenthalt für sich allein (noch) nicht begründen (10 ObS 305/89 SSV-NF 3/17; RS0085478 [T2]). Dies gilt auch, wenn Urlaube mit Verwandten in deren Wohnung verbracht werden.
[19] 3.2. Wie schon das Erstgericht zu Recht betont hat, ergibt sich aus den Feststellungen überdies nicht, dass der Kl während des Aufenthalts in der Türkei seine persönlichen Verbindungen zu Österreich aufgegeben, er sozusagen „seine Zelte völlig abgebrochen“ hätte (vgl 10 ObS 197/98p SSV-NF 12/91).
[20] 3.3. Es ist richtig, dass der OGH wiederholt die Ansicht von Pfeil (Ausgleichszulagenanspruch und Auslandsaufenthalt,
[218]) gebilligt hat, wonach ein Auslandsaufenthalt von vier Monaten für die Annahme eines kontinuierlichen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland selbst dann 343 zu lange ist, wenn alle Umstände für eine Rückkehr nach Österreich sprechen (10 ObS 197/98p SSV-NF 12/91; 10 ObS 28/99m SSV-NF 13/21; 10 ObS 129/04z; 10 ObS 34/11i SSV-NF 25/43 ua). Alle diese Entscheidungen ergingen aber nicht zum Pflegegeldrecht, an das im Vergleich zur Ausgleichszulage nicht so strenge Maßstäbe anzulegen sind (so auch Pfeil, Ausgleichszulagenanspruch und Auslandsaufenthalt, DRdA 1998, 214 [217 f]; in diesem Sinn auch Greifeneder, COVID-19-Pandemie – Verlust des Pflegegeldes durch verlängerten Auslandsaufenthalt? ÖZPR 2020/79, 141 [142]). Dies ist insb im konkreten Fall angezeigt, weil die vom Berufungsgericht und der Bekl als primär ausschlaggebend erachtete (vergleichsweise) lange Dauer des Auslandsaufenthalts in – bei der Pflegestufe 7 erwartbaren – besonders ungünstigen Umständen (Transport, Betreuung etc), die gemeinsame kürzere Urlaube mit den vertrauten Personen zumindest erheblich erschweren, wenn nicht verunmöglichen, ihre Rechtfertigung findet. Der Kl kann insofern nicht mit („durchschnittlichen“) Ausgleichszulagenbeziehern verglichen werden.[21] 3.4. Wägt man alle Kriterien ab, ist ungeachtet des langen Auslandsaufenthalts von 125 Tagen im Einzelfall noch von einem kontinuierlichen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich auszugehen. Maßgeblich dafür ist, dass nach den vorliegenden Besonderheiten nur von einem längeren Urlaub auszugehen ist, der festgestellte Sachverhalt die Annahme eines weiteren gewöhnlichen Aufenthalts nicht trägt und der Kl seinen Bezug zu Österreich nie abgebrochen hat.
[22] 4. Zusammenfassend liegen die Voraussetzungen für eine Entziehung des Pflegegeldes nicht vor, sodass der Kl für die Monate Juli 2021 bis Oktober 2021 Anspruch auf das (der Höhe nach unstrittige) Pflegegeld hat. Angesichts dessen ist er auch nicht zur Duldung der Aufrechnung der für die Zeit von 1.7.2021 bis 31.8.2021 erhaltenen Beträge verpflichtet. [...]
Bereits in der Stammfassung des Bundespflegegeldgesetz (BPGG) wurde in § 3 Abs 1 BPGG normiert, dass Personen ohne gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich vom Bezug von Pflegegeld ausgeschlossen sind. Genau dieser „gewöhnliche Aufenthalt
“ war in der zu erörternden E des OGH strittig: Der Kl verbrachte mehr als vier Monate durchgängig in der Türkei. Die PVA sah den gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich durch die lange Verweildauer im Ausland als aufgehoben an und negierte folgerichtig den Anspruch auf Pflegegeld für diesen Zeitraum.
Der Kl begehrte das vorenthaltene Pflegegeld, der OGH gab ihm recht. Dabei ließ der festgestellte Sachverhalt dem OGH die Möglichkeit offen, der berechtigten Frage des Berufungsgerichts, ob Personen mehrere, zeitlich gestaffelte gewöhnliche Aufenthalte haben können, in der Sache selbst auszuweichen. Darüber hinaus legte er bei der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts für den Anspruch auf Pflegegeld einen weniger strengeren Maßstab als für den Bezug einer Ausgleichszulage an. Ein doppelt glücklicher Zugang für den Kl – aber der Reihe nach.
Der Gesetzgeber unterließ es im BPGG zu definieren, was unter einem „gewöhnlichen Aufenthalt“ zu verstehen ist. Auch die Materialien schweigen hierzu (ErläutRV 776 BlgNR 28. GP 25). Wie der OGH selbst festhält, wird deshalb sowohl in seiner stRsp als auch in der Lehre auf die Erwägungen zu § 66 JN abgestellt (RIS-Justiz RS0106709; Greifeneder/ Liebhart, Pflegegeld5 [2023] Rz 3.68). Zentral ist demnach einerseits die faktische Anwesenheit an einem bestimmten Ort und nicht der Wille oder die Erlaubtheit an einem Ort zu verweilen (Simotta in Fasching/Konecny [Hrsg], Zivilprozessgesetze3 [2013] § 66 JN Rz 21; Kustor/Prossinger in Kodek/Oberhammer [Hrsg], ZPO-ON [2023] § 66 JN Rz 14).
Andererseits bedarf der Aufenthalt darüber hinaus auch einer gewissen Dauer und Beständigkeit sowie hinzutretender Umstände persönlicher oder beruflicher Art, damit er auch „gewöhnlich
“ und nicht bloß „jeweilig
“ iSd § 67 JN ist (Simotta in Fasching/Konecny [Hrsg], Zivilprozessgesetze3 § 66 JN Rz 25 ff; RIS-Justiz RS0085478).
Der OGH zieht bislang zurecht in dieser Frage keine fixe zeitliche Unter- bzw Obergrenze, liefert allerdings gewisse Orientierungshilfen: Kurze Auslandsaufenthalte bis zu vier Wochen werden als unschädlich erachtet (unter Bezugnahme auf die vierwöchige Frist in § 10 BPGG bereits OGH 20.8.1996, 10 ObS 2207/96y); ab sechs Monaten wird die Etablierung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts angenommen (OGH 20.8.1996, 10 ObS 2207/96y bzw RIS-Justiz RS0106712; vgl die parallele stRsp zum Anspruch auf Ausgleichszulage: OGH 21.6.2004, 10 ObS 83/04k, zuletzt OGH 19.10.2021, 10 ObS 145/21b).
Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen vier Wochen und sechs Monaten reiht sich der Kl mit seiner etwas über vier Monate andauernden Abwesenheit ein.
Der OGH führt idZ weiters aus, dass eine Person auch mehrere gewöhnliche Aufenthalte haben kann (so auch schon in seiner bisherigen Rsp, vgl OGH 20.8.1996, 10 ObS 2207/96y; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 3.75). Dabei wird in mehreren OGH-Judikaten auf ein Beispiel von Pfeil aus dem Jahr 1996 referenziert (Pfeil, Bundespflegegeldgesetz und landesgesetzliche Pflegegeldregelungen [1996] 47), wonach bei einem Pflegebedürftigen, der jeden Winter mehrere Monate „Langzeiturlaub“ in wärmeren Regionen macht, von mehreren gewöhnlichen Aufenthalten auszugehen ist. Dafür muss der Aufenthalt an den Orten regelmäßig wechseln und 344 es bedarf einer längeren und beständigeren Beziehung zu den jeweiligen Aufenthaltsorten iSd § 66 Abs 2 JN. Derart kann eine Person zwar mehrere gewöhnliche Aufenthalte haben, diese wechseln sich jedoch zeitlich gestaffelt ab, so dass zu jedem konkreten Zeitpunkt nur ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt (so auch Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 3.75; in diesem Sinne auch der für den vorliegenden Sachverhalt nicht zuständige EuGH bei der Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts iSd EuEheVO, vgl EuGHC-289/20, IB gegen FA, ECLI:EU:C:2021:955 Rz 51).
Obwohl der OGH auch in der vorliegenden E diese Möglichkeit explizit erwähnt, führt er die Prüfung in der Sache selbst nicht durch: Die Feststellungen des Erstgerichts würden den Schluss nahelegen, dass diese Langzeiturlaube in die Türkei jährlich erfolgen; dies sei jedoch nicht eindeutig und auch gar nicht relevant, da sich kein weiterer Anhaltspunkt für eine ausreichend persönliche Beziehung des Kl zur Türkei ergebe (vgl Rz 18).
Das ist insofern bemerkenswert, als regelmäßige viermonatige Urlaube an demselben Ort mE nur schwerlich mit – für die Aufrechterhaltung des gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich unschädlichen – Kurzaufenthalten verglichen werden können. Auch das prinzipiell schlüssige Argument des OGH, dass aufgrund der schweren Behinderung des Kl kürzere Urlaube erschwert seien (vgl Rz 20), verfängt in diesem Fall nur bedingt: Zwischen kürzeren Urlauben und der (selbst vom OGH vermuteten) regelmäßigen Abwesenheit für über ein Drittel des Jahres liegen mE doch einige Abstufungen. Darüber hinaus ergibt sich auch aus dem Sachverhalt ein starkes Indiz für eine – über einen simplen Urlaub hinausgehende – Bindung des Kl an seinen Aufenthaltsort im Ausland. Die Wohnung in der Türkei wurde behindertengerecht eingerichtet (vgl Rz 3), was wohl idR mit erheblichen Kosten einhergeht und eine ausgiebige, regelmäßig wiederkehrende Nutzung der Wohnung als temporären Lebensmittelpunkt nahelegt. Dies mag zwingende Voraussetzung für den Auslandsaufenthalt des Kl sein, zeigt gleichsam aber auch, dass es sich hierbei wohl nicht nur um gelegentliche Besuche handelt, bei denen der Kl als Gast bei seiner Familie zu Besuch ist (vgl OGH 26.9.1989, 10 ObS 305/89). Wie schon das Berufungsgericht mit den Ausführungen zur Zulassung der Revision andeutet, liegen insofern durchaus starke Indizien vor, um von zeitlich gestaffelten wechselnden gewöhnlichen Aufenthalten auszugehen. Diesfalls wäre dem Kl während des gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei der Bezug des Pflegegelds zu versagen gewesen.
Da allerdings die Beweislast für den Wegfall der Anspruchsvoraussetzung den zuständigen Sozialversicherungsträger trifft (Greifeneder, COVID-19-Pandemie – Verlust des Pflegegeldes durch verlängerten Auslandsaufenthalt? ÖZPR 2020/79, 141 [142 f]) und der diesbezüglich festgestellte Sachverhalt für eine umfassende Beurteilung des temporären Verlusts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts in Österreich sehr dünn ist, ist die E des OGH im Ergebnis nicht zu kritisieren.
Besonders auffällig ist noch, dass der OGH judiziert, dass für die Aufrechterhaltung des gewöhnlichen Aufenthalts beim Bezug von Pflegegeld ein weniger strenger Maßstab als bei der Ausgleichszulage gelten soll. Dabei beruft er sich auf umfangreiche und schlüssige Ausführungen von Pfeil zur Ausgleichszulage aus dem Jahr 1998 (Pfeil, Der praktische Fall – Ausgleichszulagenanspruch und Auslandsaufenthalt,
). Pfeil argumentierte unter Bezugnahme auf den am 1.1.2015 außer Kraft getretenen § 89 Abs 2 ASVG (idF vor BGBl I 2015/2: „Das Ruhen von Renten(Pensions) ansprüchen (...) tritt nicht ein, wenn (...) der Auslandsaufenthalt in einem Kalenderjahr nicht zwei Monate überschreitet.“), dass wenn ein Ruhen der Hauptleistung erst nach zweimonatigem Auslandsaufenthalt eintrete, dies auch eine maßgebliche „Auslegungshilfe“ für den notwendigen gewöhnlichen Aufenthalt für die Ausgleichszulage sei (Pfeil, [217 f]). Darauf fußend entwarf er das wiederholt vom OGH in Entscheidungen aufgegriffene Beispiel eines Pensionsbeziehers, der für vier Monate für die Pflege eines Angehörigen ins Ausland geht. Für diese – im Lichte dieser Erwägungen zu lange – Auslandsaufenthaltsdauer gehe er seines gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich und damit auch des Anspruchs auf Ausgleichszulage verlustig. Dieser Ansicht folgte der OGH wiederholt (vgl Rz 20 mwN).In der vorliegenden E sah er diese Judikaturlinie jedoch nicht für den Bezug von Pflegegeld einschlägig, weil für dieses im Vergleich zur Ausgleichszulage weniger strenge Maßstäbe gelten würden, was auch Pfeil so vertrat (Pfeil,
[218]). Diese Sichtweise war bei Verfassen seines Beitrags vor 26 Jahren auch zutreffend, die nunmehrige – nicht kontextualisierte – Bezugnahme des OGH vermag hingegen durch eine Fülle an Gesetzesänderungen mE nicht (mehr) zu überzeugen:(i) Mit Außerkrafttreten von § 89 Abs 2 ASVG aF ist die zweimonatige Frist als Auslegungshilfe weggefallen (diese Einschränkung wurde in den Materialien zur Aufhebung als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet; vgl AB 417 BlgNR 25. GP 5); schon allein dieser Umstand lässt es fraglich erscheinen, ob die im Beispiel erwähnte viermonatige Abwesenheit nunmehr zwingend bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Ausgleichszulage der Aufrechterhaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts entgegensteht (aA wohl Pfeil, der auch nach Wegfall dieser Regelung im Jahr 2015 noch eine an § 89 Abs 2 ASVG aF angelehnte Beweislastverteilung vertritt und insofern der Zweimonatsfrist wohl weiterhin Bedeutung beimisst; vgl Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm [2019] § 292 ASVG Rz 10).
(ii) Die Einführung des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland als Voraussetzung für die Ausgleichszulage erfolgte 1996; das BPGG aus 1993 diente offensichtlich als Vorlage, was aus systematischen Überlegungen einen Gleichklang bei der Interpretation zumindest indiziert (BGBl I 1996/411; den 345 Zusammenhang auch erörternd Pfeil,
[216]).(iii) Diesen Gleichklang negierte Pfeil unter Hinweis auf die „Risikoverteilung“ bei Verabsäumen der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen (§ 294 Abs 1 iVm Abs 5 ASVG idF vor BGBl I 2000/67) und den strengen Sanktionen bei Nichtmitwirkung bei der Ausgleichszulage (§ 294 Abs 3 erster Satz und Abs 4 sowie § 298 Abs 2 Z 2 ASVG) sowie dem unterschiedlichen Zweck des Pflegegeldes (Pfeil,
[218]).Dazu ist hinzuzufügen, dass die von ihm 1998 erwähnten Bestimmungen hinsichtlich der „Risikoverteilung“ fast zur Gänze aufgehoben wurden (es verbleibt nur mehr § 294 Abs 1 lit c ASVG). Was die strengen Sanktionen bei Nichtmitwirkung betrifft, so findet sich in § 26 Abs 1 Z 3 BPGG eine zu § 298 Abs 2 Z 2 ASVG zumindest vergleichbare Regelung. Und § 294 Abs 3 ASVG sieht nunmehr einen Ausschluss der Pauschalanrechnung vor und nicht mehr eine Sanktion bei Nichtmitwirkung. Einzig die Einkommensfiktion in § 294 Abs 4 ASVG bei Nichtbekanntgabe des Nettoeinkommens der im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten bleibt zu damals aufrecht und findet sich mangels vergleichbarer Anrechnung nicht bei den Regelungen zum Pflegegeld.
(iv) Schlussendlich verbleibt noch das Argument des unterschiedlichen Zwecks des Pflegegeldes verglichen mit der Ausgleichszulage. Dazu führt Pfeil zutreffend für das Pflegegeld die „Erweiterung der Wahl- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten
“ und die „Sicherung eines bestimmten Bedarfs
“ (Pfeil,
Hinzu kommt, dass die gerade ermittelten Zwecke mE auch gar nicht von Relevanz bei der konkreten Interpretation sind. Fraglich ist nämlich nicht der Zweck der Leistung per se, sondern warum der Gesetzgeber auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland abgestellt hat. Nur die Erörterung dieser Frage gibt Auskunft, ob an einen solchen Aufenthalt tatsächlich unterschiedliche Maßstäbe zu legen sind. Während die Materialien zum gewöhnlichen Aufenthalt in § 3 Abs 1 BPGG schweigen, wird in den Erläuterungen zum Übergangsrecht (insb § 46 BPGG) festgehalten, dass das „Pflegegeld vom Export in das Gebiet anderer Staaten
“ mit der Beschlussfassung des BPGG ausgenommen werden soll (ErläutRV 776 BlgNR 28. GP 32). Dieser Logik folgte auch die Einführung des gewöhnlichen Aufenthalts für den Anspruch auf Ausgleichszulage: Damit sollte die zunehmende Praxis hintangehalten werden, dass durch das Abstellen auf den lediglichen Inlandsaufenthalt der „bloße Aufenthalt im Inland an einem Tag anspruchsbegründend für den ganzen Monat
“ anzusehen war (ErläutRV 214 BlgNR 20. GP 44). Der Gesetzgeber wollte durch die Normierung des gewöhnlichen Aufenthalts daher eine stärkere Bindung zum Inland bezwecken, was gepaart mit den in den Materialien erhofften Einsparungen (ErläutRV 214 BlgNR 20. GP 44) nur als eine zum Pflegegeld gleichgelagerte Intention interpretiert werden kann, den Export der Ausgleichszulage in andere Länder zu bremsen.
Der Zweck hinter der Einführung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatbestandsmerkmal folgt zum einen daher beim Pflegegeld und bei der Ausgleichszulage den gleichen Gesichtspunkten und zum anderen sind die verbleibenden Gründe für eine unterschiedliche Behandlung durch Gesetzesänderungen in den letzten 26 Jahren weitestgehend aufgelöst. Die Anforderungen an den gewöhnlichen Aufenthalt sind daher mE beim Anspruch auf Pflegegeld sowie auf Ausgleichszulage im Gleichklang zu interpretieren.
Die Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland soll (abseits des Geltungsbereichs der VO (EG) 883/2004 [Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit]) den Export des Pflegegeldes ins Ausland hintanhalten. Der OGH hatte hierzu einen Grenzfall zu klären, da ein Langzeiturlaub über vier Monate in die Türkei ein beträchtliches Spannungsverhältnis zum gewöhnlichen Aufenthalt im Inland eröffnet. Er zog sich dabei auf den Standpunkt zurück, dass der festgestellte Sachverhalt die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei für die Dauer des Aufenthalts (und den damit einhergehenden temporären Verlust des gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich) mangels eines hinreichenden persönlichen Bezugs nicht trägt. Weitere Feststellungen hinsichtlich der Regelmäßigkeit dieser Langzeitaufenthalte, zur Ausgestaltung der Aufenthalte in der Türkei und den privaten Bindungen vor Ort hätten die E leicht anders ausgehen lassen können – zumindest lässt sich dies aus den spärlichen dahingehenden Feststellungen erahnen.
Auf einem spannenden Nebenschauplatz musste der OGH auch unterschiedliche Maßstäbe an die Anforderungen hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthalts bei Bezug von Pflegegeld und einer Ausgleichszulage anlegen, um nicht in Widerspruch mit seiner bisherigen Judikatur zu geraten. In dieser hat er wiederholt Zeiträume von vier Monaten für die Aufrechterhaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts bei Bezug einer Ausgleichszulage als schädlich erachtet. Es scheint jedoch, dass die Argumente für unterschiedliche Maßstäbe in diesen beiden Bereichen in den letzten Jahrzehnten eher schwächer wurden und mE auch nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Was für den gewöhnlichen Aufenthalt beim Bezug von Pflegegeld gilt, hat auch für den Bezug einer Ausgleichszulage zu gelten, da die Bestimmungen wortident sind, die eine Regelung der anderen in dieser Hinsicht als Vorlage diente und der telos für die Normierung dieses Tatbestandsmerkmals in beiden Fällen gleich ist. 346