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Beobachten und Protokollieren epileptischer Anfälle ist keine Pflegemaßnahme iSd BPGG

ElisabethHansemann

Die 2019 geborene Kl leidet an einer allgemeinen Entwicklungsretardation und einer Epilepsie. Unstrittig hat die Kl gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind einen behinderungsbedingten Pflegemehrbedarf von monatlich 113 Stunden, darin enthalten ein Erschwerniszuschlag von 50 Stunden pro Monat. Strittig ist die Berücksichtigung eines weiteren Zeitaufwandes für die Beobachtung und Protokollierung der epileptischen Anfälle der Kl als Pflegebedarf. Die Beobachtung und Protokollierung der Anfälle sind medizinisch geboten, da der behandelnde Arzt anhand der Aufzeichnungen die weitere Therapie am konkreten Verlauf und die konkrete Entwicklung der Anfälle anpassen kann. Der monatliche Zeitaufwand für die Beobachtung und Protokollierung beträgt zehn Stunden.

Mit Bescheid vom 23.9.2022 anerkannte die Bekl den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2. Das Erstgericht wies das Begehren der Kl auf Zuerkennung eines Pflegegeldes in höherem Ausmaß ab. Die Beobachtung der Anfälle sei am ehesten eine therapeutische Maßnahme und nicht als Pflegebedarf anzuerkennen. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl Folge und erkannte ab 1.9.2022 ein Pflegegeld der Stufe 3 zu. Bei der Anfallsbeobachtung handle es sich um eine Pflegemaßnahme, sie diene der Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Kl. Wenn sie nicht durchgeführt wird, hätte dies denselben Effekt, als begleite man die Kl nicht zum Arzt oder zur Therapie.

Die Revision der Bekl war zulässig und berechtigt.

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass das Beobachten und Protokollieren von epileptischen Anfällen weder eine medizinische noch eine therapeutische Maßnahme ist, wird von den Parteien im Revisionsverfahren nicht in Frage gestellt. Daraus folgt aber dem OGH zufolge nicht, dass es sich dabei um eine Hilfs- oder Betreuungsverrichtung iSd Bundespflegegeldgesetz (BPGG) iVm der Kinder- Einstufungsverordnung(-EinstV) handelt. Was unter Pflegebedarf bzw Betreuung und Hilfe zu verstehen ist, wird zwar nicht im Gesetz, wohl aber in den Einstufungsverordnungen definiert. Es muss sich hierbei um zumindest im weiteren Sinn lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art handeln. § 4 Abs 7 BPGG ermächtigt den Bundesminister für Soziales und Konsumentenschutz, nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfs durch Verordnung festzulegen.

Unter Hilfe sind gem § 4 Abs 1 Kinder-EinstV unaufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. § 4 Abs 2 Kinder-EinstV enthält einen taxativen Katalog an Hilfsverrichtungen. Das Protokollieren des Auftretens epileptischer Anfälle wird dort nicht genannt und ist daher keine Hilfsverrichtung iSd § 4 Abs 3 Kinder-EinstV. Unter Betreuung sind gem § 3 Abs 1 Kinder-EinstV alle notwendigen Verrichtungen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die das pflegebedürftige Kind der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Da das bloße Beobachten und Protokollieren von Anfällen keine körperliche Verrichtung ist, ohne die das pflegebedürftige Kind der Verwahrlosung ausgesetzt wäre, handelt es sich nicht um eine Betreuungsverrichtung.

Bei der Beobachtung und Protokollierung handelt es sich auch nicht um eine Maßnahme der Beaufsichtigung iSd § 4 Abs 1 EinstV iVm § 9 Kinder-EinstV, da darunter leg cit nur die Anleitung und Beaufsichtigung bei der Durchführung von Verrichtungen der Betreuung und Hilfe zu verstehen ist.

Im Übrigen sind Zeiten der bloßen Beaufsichtigung bei der Ermittlung des Betreuungs- und Hilfsaufwands des Pflegebedürftigen nicht zu veranschlagen, da sich der Aufwand für die bloße Beaufsichtigung seiner Art nach grundsätzlich von den in der EinstV genannten Betreuungs- und Hilfshandlungen unterscheidet. Die wegen einer Epilepsie notwendigen Zeiten der Beobachtung der pflegebedürftigen Person und die Protokollierung der Beobachtung sind daher nicht bei der Ermittlung des Betreuungs- und Hilfsbedarfs einzubeziehen.

Bereits in der E 10 ObS 277/98b vom 15.12.1998 hat der OGH darauf hingewiesen, dass dem Verordnungsgeber die Problematik der notwendigen Beaufsichtigung einer behinderten Person bekannt war. Dass er nur im Zusammenhang mit einem funktionsbezogenen Pflegebedarf die Berücksichtigung des Zeitaufwandes für die Beobachtung vorgesehen habe, spreche dafür, dass er im Übrigen die für eine notwendige Beaufsichtigung erforderliche Zeit nicht bei der Ermittlung des Betreuungs- und Hilfsaufwandes einbeziehen habe wollen. Daran ist festzuhalten, da der Gesetz- und Verordnungsgeber in Kenntnis der zitierten Rsp in den Novellierungen des BPGG und der EinstV sowie der Schaffung der Kinder-EinstV keine Änderung der Rechtslage vorgenommen hat. Die Abgeltung des erweiterten Pflegebedarfs schwerst behinderter Kinder sieht der Gesetzgeber im Weg des pauschalen Erschwerniszuschlages vor, der der Kl gewährt wird.

Der Revision war daher Folge zu geben und das angefochtene Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.115