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Beitragsmonate einer qualifizierten Tätigkeit als freie Dienstnehmerin gem § 4 Abs 4 ASVG für den Berufsschutz zu berücksichtigen

MonikaWeißensteiner

Für die Beurteilung des Berufsschutzes kommt es auf die vertragliche Grundlage von Tätigkeiten, die die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründet, nicht an. Maßgeblich ist nur, ob die jeweilige Tätigkeit (inhaltlich) eine qualifizierte Tätigkeit iSd § 273 Abs 1 oder § 255 Abs 1 ASVG ist.

SACHVERHALT

Die Kl hat den ersten Studienabschnitt des Lehramtsstudiums für Bildnerische Erziehung an höheren Schulen abgeschlossen und mehrere Lehrgänge im Bereich der Kinder- und Behindertenbetreuung sowie (Sozial-)Pädagogik absolviert. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag war sie als sozialpädagogische (Einzel-)Betreuerin tätig; von den 142 Beitragsmonaten war sie 29 Monate in einem Angestelltenverhältnis und 113 Monate als freie DN tätig – zuletzt in der Verwendungsgruppe 7. Aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen ist sie nicht mehr in der Lage, diese Tätigkeit oder eine Verweisungstätigkeit in der Verwendungsgruppe 6 oder 5 auszuüben. 101

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Bekl wies den Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mit Bescheid vom 15.7.2022 ab. Der dagegen eingebrachten Klage erwiderte die Bekl, dass kein Berufsschutz vorliege, weil die Kl überwiegend als freie DN tätig gewesen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl, mit der sie nur mehr die Gewährung von Rehabilitationsgeld und von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation anstrebte, Folge. Die Rechtssache wurde an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung zurückverwiesen. Der Gesetzgeber habe freie DN gem § 4 Abs 4 ASVG den DN gem § 4 Abs 2 ASVG gleichgestellt und spezielle Regelungen im Leistungsrecht als entbehrlich erachtet. Die Tätigkeit als freie DN sei daher für den Berufsschutz zu berücksichtigen.

Das OLG ließ den Rekurs wegen Fehlens von höchstgerichtlicher Rsp zu dieser Frage zu.

Der OGH hält den Rekurs der Bekl für zulässig, aber nicht für berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

1. Die Beklagte zieht nicht in Zweifel, dass die Klägerin stets dieselbe Erwerbstätigkeit (Sozialpädagogin) in unterschiedlichen Rechtsformen (freier Dienstvertrag; Dienstvertrag) ausgeübt hat. Sie stellt auch nicht in Frage, dass es sich dabei inhaltlich um eine Angestelltentätigkeit handelte (vgl RS0027992), die der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung der Angestellten unterlag (§ 14 Abs 1 Z 1 ASVG) und der Anspruch der Klägerin daher nach § 273 ASVG zu beurteilen ist. […]

Die Beklagte vertritt im Rekurs jedoch weiterhin den Standpunkt, dass die Klägerin diese Voraussetzung [Anm: des Berufsschutzes] nicht erfülle, weil sie überwiegend als freie Dienstnehmerin tätig gewesen sei. Die in § 273 Abs 1 ASVG geforderte Tätigkeit „als Angestellte/r“ liege nach § 1 Abs 1 und § 2 Abs 1 AngG nämlich nur bei Personen vor, die „angestellt sind“, was auf freie Dienstnehmer nicht zutreffe. Diese Ansicht werde auch durch § 4 Abs 4 ASVG gestützt, der keinen eigenständigen Regelungsinhalt mehr hätte, wenn für freie Dienstnehmer nicht nur das Beitrags-, sondern auch das Leistungsrecht der Dienstnehmer (§ 4 Abs 2 ASVG) gälte. […]

2. Dem ist nicht zu folgen, weil der Begriff des Angestellten nicht allein aus § 273 Abs 1 ASVG gewonnen werden kann.

2.1. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in seiner Entscheidung 10 ObS 330/88 darauf verwiesen, dass mit Blick auf § 14 Abs 1 Z 1 und 2 ASVG der Angestelltenbegriff im Sozialversicherungsrecht tätigkeitsbezogen ist, sich also nicht nach der Bezeichnung der Tätigkeit oder der Vereinbarung der Parteien des Beschäftigungsverhältnisses richtet (RS0083738; RS0083723; so auch Felten in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 14 ASVG Rz 3; Sonntag in Sonntag, ASVG14 § 14 Rz 1; vgl RS0084342 und RS0083709). Demgemäß prüft der Oberste Gerichtshof ausschließlich anhand des Inhalts der verrichteten Tätigkeit, welchem Versicherungszweig sie zuzuordnen ist (RS0084342 [T4, T6]; RS0083723 [T2]) und ob nach den insofern relevanten Bestimmungen Berufsschutz besteht (10 ObS 199/21v; 10 ObS 182/21v ua). Voraussetzung für den Berufsschutz als Angestellter ist somit nur, dass Tätigkeiten iSd § 1 Abs 1 AngG verrichtet wurden (RS0084837 [T4]; Födermayr in Mosler/Müller/Pfeil § 273 ASVG Rz 2; Sonntag in Sonntag § 273 Rz 1 ua).

2.2. Wenn die Beklagte daher selbst davon ausgeht, dass die von der Klägerin im Beobachtungszeitraum ausgeübte Tätigkeit als Sozialpädagogin nach § 14 Abs 1 Z 1 ASVG durchgehend der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung der Angestellten unterlegen sei, folgt daraus zwingend, dass dabei Beitragsmonate „als Angestellte“ erworben wurden, die bei der Prüfung des Berufsschutzes gemäß § 273 Abs 1 ASVG zu berücksichtigen sind (so auch Bergauer/Urbanek, Pensionsrechtliche Fragen bei flexiblen Arbeitsverhältnissen, ZAS 2004, 105 [Bsp 2]).

3. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin die Tätigkeit überwiegend im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses iSd § 4 Abs 4 ASVG ausgeübt hat.

3.1. Wie schon vom Berufungsgericht ausgeführt, hat der Gesetzgeber mit dem Strukturanpassungsgesetz 1996 (BGBl 1996/201) durch die Bestimmung des § 4 Abs 4 ASVG erstmals auch freie Dienstnehmer in die Sozialversicherung einbezogen. […] Ziel der Regelung war es, die zunehmende „Flucht aus der Sozialversicherung“ durch neue Vertragsformen, mit denen die meist schwächeren Dienstnehmer zu ihren Lasten in sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden, zu unterbinden und freie Dienstnehmer in die solidarische Beitrags- und Leistungsgemeinschaft einzubeziehen. […]

3.2. Wenn § 4 Abs 4 ASVG daher „im Sinn dieses Bundesgesetzes“ die dort definierten „dienstnehmerähnlichen“ freien Dienstnehmer den Dienstnehmern gleichstellt, lässt sich daraus keine bloß partielle, auf das Versicherungsverhältnis bzw das Beitragsrecht beschränkte Gleichstellung ableiten. Dagegen spricht neben dem klaren Wortlaut der Bestimmung, die eine Gleichstellung im Sinn des ASVG anordnet, ohne zwischen Beitragsrecht und Leistungsrecht zu unterscheiden, auch ihr erklärtes Ziel, die sozialversicherungsfreie Beschäftigung dienstnehmerähnlicher Personen zurückzudrängen und für ihre soziale Absicherung zu sorgen.

3.3. Demgemäß entspricht es nicht nur der Lehre, dass freie Dienstnehmer infolge § 4 Abs 4 ASVG […] im Beitrags- und Leistungsrecht wie „echte“ Dienstnehmer (§ 4 Abs 2 ASVG) behandelt werden (vgl Mosler in Mosler/Müller/Pfeil § 4 ASVG Rz 178; Tomandl, Sozialversicherung 2000, 45 und 51; Bergauer/Urbanek, ZAS 2004, 105 [111]; Mosler, Die sozialversicherungsrechtliche Stellung freier Dienstnehmer, DRdA 2005, 487 [488 und 498]; Schmid, Vertragstypen im Sozial- und Arbeitsrecht, 102 SozSi 1999, 304 ua). Auch der Oberste Gerichtshof hat obiter bereits darauf verwiesen, dass Tätigkeiten aufgrund freier Dienstverträge sowohl im Rahmen des § 255 Abs 4 ASVG (10 ObS 4/05v) als auch bei Beurteilung des Berufsschutzes herangezogen werden können (10 ObS 233/03t). Auch der Verwaltungsgerichtshof leitet aus der vergleichbaren Regelung des § 1 Abs 8 AlVG, mit dem die durch § 4 Abs 4 ASVG in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung erfolgte Gleichstellung freier Dienstnehmer auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung vorgenommen wurde […] ab, dass auf diese alle für die Dienstnehmer geltenden Regeln des Leistungsrechts anzuwenden sind (VwGHRo 2016/08/0005).

3.4. Warum § 4 Abs 4 ASVG durch die Gleichstellung im Leistungsrecht jeder eigenständige Anwendungsbereich genommen würde, legt die Beklagte nicht stichhältig dar. Denn seine primäre Funktion, Beschäftigte, die sich weder nach dem äußeren Erscheinungsbild ihrer Tätigkeit noch ihrer Schutzwürdigkeit von einem („echten“) Dienstnehmer unterscheiden, in die Pflichtversicherung nach dem ASVG einzubinden (ErläutRV 886 BlgNR 20. GP 101), wird dadurch nicht berührt.

3.5. Wenn das Berufungsgericht daher davon ausgeht, § 4 Abs 4 ASVG ordne die umfassende Gleichstellung freier Dienstnehmer an, was auch das Leistungsrecht erfasse, entspricht das der Rechtslage.

4. Daraus folgt, dass es für die Beurteilung des Berufsschutzes auf die vertragliche Grundlage von Tätigkeiten, die die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründe, nicht ankommt. Maßgeblich ist nur, ob die jeweilige Tätigkeit (inhaltlich) eine qualifizierte Tätigkeit iSd § 273 Abs 1 oder § 255 Abs 1 ASVG ist. Es wirkt sich daher auch im Anlassfall nicht auf den Berufsschutz der Klägerin aus, dass sie dieselbe Angestelltentätigkeit teilweise im Rahmen eines Dienstverhältnisses und teilweise als freie Dienstnehmerin ausgeübt hat. Da durch die Änderung der Rechtsform die Zugehörigkeit zur Pensionsversicherung der Angestellten nicht tangiert wurde (sondern sich nur aus dem zweiten statt aus dem ersten Halbsatz des § 14 Abs 1 Z 1 ASVG ergab), war sie auch durchgehend „als Angestellte“ iSd § 273 Abs 1 ASVG tätig. […]

ERLÄUTERUNG

In dieser E hatte sich der OGH (fast überraschend) zum ersten Mal mit der Frage auseinanderzusetzen, wie eine Tätigkeit als freie DN gem § 4 Abs 4 ASVG bei der Prüfung des Vorliegens von Berufsschutz zu bewerten ist. Berufsunfähigkeit gem § 273 ASVG liegt vor, wenn die Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte einer gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Voraussetzung ist, dass eine qualifizierte Tätigkeit in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten vor dem Stichtag ausgeübt wurde (seit dem Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111).

Unstrittig im vorliegenden Fall war, dass die Kl sowohl als Angestellte als auch als freie DN eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hat. Die Bekl argumentierte aber, dass die Tätigkeit als freie DN nicht zu berücksichtigen sei, weil es sich zwar inhaltlich um eine Angestelltentätigkeit handelte, die Kl aber nicht „als angestellte Person“ tätig gewesen sei.

Der OGH folgt dieser Rechtsauffassung der Bekl nicht und begründet ausführlich, dass es für die Beurteilung des Berufsschutzes nicht auf die vertragliche Grundlage von Tätigkeiten, die die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründen, ankommt. Der Begriff des „Angestellten“ kann nicht allein aus § 273 ASVG gewonnen werden. Der Begriff ist im Sozialversicherungsrecht tätigkeitsbezogen zu verstehen. Es entspricht der stRsp des OGH, dass es ausschließlich auf den Inhalt einer Tätigkeit ankommt, welchem Versicherungszweig sie zugeordnet wird und ob eventuell Berufsschutz besteht. Es ist daher nur entscheidend, dass eine Tätigkeit iSd § 1 Abs 1 AngG verrichtet wird. So haben ex contractu Angestellte keinen Berufsschutz als Angestellte. Die Tätigkeit der Kl als Sozialpädagogin im vorliegenden Fall unterlag (auch nach Auffassung der Bekl) der Pflichtversicherung in der PV gem § 14 Abs 1 Z 1 ASVG, der ua auf das AngG verweist. Sie hat somit Beitragsmonate als „Angestellte“ erworben.

In einem zweiten Schritt erläutert der OGH den Hintergrund der mit dem Strukturanpassungsgesetz 1996 bzw dem Sozialrechtsänderungsgesetz 1997 erfolgten Einbeziehung der freien DN in das ASVG. Sowohl der klare Wortlaut des § 4 Abs 4 ASVG als auch der Zweck der Bestimmung sprechen für eine völlige Gleichstellung mit den (echten) DN gem § 4 Abs 2 ASVG – ohne Differenzierung zwischen Beitrags- und Leistungsrecht. Der OGH verweist auf seine E vom 8.3.2005, 10 ObS 4/05v, zum Tätigkeitsschutz gem § 255 Abs 4 ASVG, wo er unter Berufung auf Bergauer/Urbanek entschieden hat, dass zweifellos auch Beitragsmonate gem § 4 Abs 4 ASVG für die 120 Monate „einer Tätigkeit“ zu berücksichtigen sind. Schon 2003 (OGH 7.10.2003, 10 ObS 233/03t) deutet der OGH in einem Halbsatz an, dass auch eine Tätigkeit gem § 4 Abs 4 ASVG für den Berufsschutz zu berücksichtigen sei.

Daher wirkt es sich auch im vorliegenden Fall nicht negativ auf den Berufsschutz der Kl aus, dass sie ihre qualifizierte Tätigkeit in der überwiegenden Zahl der Beitragsmonate als freie DN ausgeübt hat. Sie war durchgehend „als Angestellte“ iSd § 273 ASVG tätig und hat daher Berufsschutz.

Es bleibt bei der Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur Klärung, welche Maßnahmen der Rehabilitation in Frage kommen. 103