14

Berechnung des Differenzbetrags iSd § 6 Abs 3 KBGG bei unterschiedlich langen Bezugszeiträumen

FELICIAKAIN (WIEN)
Art 10, Art 68 VO 883/2004
  1. § 6 Abs 3 KBGG sowie Art 68 Koordinierungs- VO sollen die Überkompensation von Familienleistungen verhindern.

  2. § 6 Abs 3 KBGG ist eine Gesamtbetrachtungsweise der zusammentreffenden Leistungen zugrunde zu legen.

  3. Auch, wenn sich die Leistungen in beiden Staaten nur teilweise überschneiden, sind bei der Durchführung des § 6 Abs 3 KBGG die Gesamthöhen miteinander zu vergleichen.

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage der Berechnung der Ausgleichszahlung nach § 6 Abs 3 KBGG bzw des Unterschiedsbetrags iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004, wenn der Bezugszeitraum der (vergleichbaren) in- und ausländischen Leistungen unterschiedlich lang ist.

[2] Die Kl lebt mit ihrem Ehegatten und den gemeinsamen Söhnen M*, geboren * 2018, und D*, geboren * 2020, in der Tschechischen Republik (künftig kurz: Tschechien). Vor der Geburt von M* war die Kl ab 1.4.2016 als Angestellte einer GmbH in Österreich unselbständig beschäftigt; von 25.2.2018 bis 17.6.2018 bezog sie (österreichisches) Wochengeld von 47,15 € täglich. Im Anschluss befand sich die Kl bis 2.4.2020 in Karenz. Am 13.3.2020 vereinbarte die Kl mit ihrem DG von 2.4.2020 bis zum 4. Geburtstag von M* Elternteilzeit. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich (wegen der Schwangerschaft mit D*) bereits wieder in Mutterschutz; die vereinbarte Elternteilzeit (nach Ende der Karenz) trat sie nicht an. Der Ehegatte der Kl ist in Tschechien erwerbstätig.

[3] Am 12.4.2018 beantragte die Kl für M* pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante „730 Tage ab Geburt des Kindes“ für die höchstmögliche Bezugsdauer (2.4.2018 bis 31.3.2020), das sie für die Zeit von 18.6.2018 (nach Ende des Wochengeldbezugs) bis 29.2.2020 in Form einer Ausgleichszahlung von insgesamt 2.456,90 € (622 Tage zu je 3,95 €) auch erhielt. Bei der Berechnung der Ausgleichszahlung ging die bekl Österreichische Gesundheitskasse vom unstrittigen Anspruch auf (österreichisches) Kinderbetreuungsgeld von insgesamt 11.061,82 € (653 Tage zu je 16,94 €) sowie davon aus, dass die Kl in Tschechien Anspruch auf Elterngeld („rodicovský príspevek“) von 8.484,05 € hat.

[4] Durch eine Mitteilung der tschechischen Behörden erfuhr die Bekl, dass die Kl in der Zeit von 1.7.2018 bis 30.4.2020 tatsächlich 9.486,71 € an (tschechischem) Elterngeld bezogen hatte. Aufgrund der darauf aufbauenden Neuberechnung der Ausgleichszahlung behielt die Bekl den für März 2020 ermittelten Betrag von 74,71 € ein.

[5] Anspruch auf (tschechisches) Elterngeld hat jeder Elternteil, der das jüngste Kind der Familie selbst in Vollzeit angemessen erzieht und betreut, und dieses nicht älter als vier Jahre ist. Der Elternteil kann die Höhe des Elterngeldes und damit auch den Bezugszeitraum wählen, wenn mindestens ein Familienmitglied bei der Krankenkasse eingeschrieben ist.

[6] Mit Bescheid vom 31.8.2020 sprach die Bekl aus, dass der Anspruch der Kl auf Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum von „25. Februar 2018“ bis 17.6.2018 gem § 6 Abs 1 KBGG in voller Höhe sowie im Zeitraum von 18.6.2018 bis 31.3.2020 gem § 6 Abs 3 KBGG in Höhe von 9.486,71 € ruht und verpflichtete die Kl zum Rückersatz eines zu Unrecht bezogenen Betrags von 957,88 €. Da von diesem bereits 74,71 € einbehalten worden seien, hafte ein Betrag von 883,17 € unberichtigt aus.

[7] Mit ihrer Klage begehrt die Kl die Feststellung, dass sie nicht zum Rückersatz von 957,88 € bzw 883,17 € verpflichtet, die Bekl dagegen schuldig sei, ihr die zu Unrecht einbehaltenen 74,71 € zurück zu erstatten.

[...]

[14] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

[15] 1. Die Parteien ziehen nicht in Zweifel, dass die Kl Grenzgängerin iSd Art 1 lit f der VO (EG) 883/2004 und daher der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist. Unstrittig ist auch, dass Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3197 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 sowie der DVO (EG) 987/2009 (RS0122905 [T3]; 10 ObS 36/21y ua), Österreich nach Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO (EG) 883/2004 subsidiär leistungszuständig (vgl EuGH, C-543/03, Dodl und Oberhollenzer [Rn 64]) und das von der Mutter bezogene tschechische Elterngeld eine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung iSd § 6 Abs 3 KBGG bzw Art 10 VO (EG) 883/2004 ist (RS0125752 [T3]; vgl auch 10 ObS 147/21x SSV-NF 35/73; EuGHC-347/12, Wiering).

[16] 2. Auf Basis dieser Grundsätze geht die Kl – wie in der Berufung – zwar davon aus, dass die Bekl ihr „nur“ eine Ausgleichszahlung (den Unterschiedsbetrag nach Art 68 Abs 2 VO [EG] 883/2004) zu leisten habe. Sie verweist jedoch darauf, dass sie zwischen 18. und 30.6.2018 nur Kinderbetreuungsgeld, aber kein Elterngeld und im April 2020 nur Elterngeld und kein Kinderbetreuungsgeld bezogen habe. Sie vertritt den Standpunkt, für diese Zeiträume habe mangels zeitlicher Kongruenz keine Anrechnung iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 bzw § 6 Abs 3 KBGG zu erfolgen. Vielmehr sei eine – nicht näher dargelegte – Methode heranzuziehen, bei der ausschließlich der konkrete Überschneidungszeitraum der beiden Leistungen (hier also die Zeit zwischen 1.7.2018 und 31.3.2020) einander gegenübergestellt und nur insoweit ein Unterschiedsbetrag gem Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 ermittelt werde. Das würde dazu führen, dass kein Rückforderungsanspruch bestehe.

[17] 3. Dem ist nicht zu folgen.

[18] 3.1. Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, legt Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Prioritätsregeln in Form einer Kaskade fest: Die Rangfolge bestimmt sich nach dem Grund, aus dem die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen (10 ObS 148/14h SSVNF 29/59 [ErwGr 3.3.]; 10 ObS 120/19y SSVNF 33/70 [ErwGr 3.2.] ua). Darauf aufbauend enthält Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 sodann Antikumulierungsvorschriften für den Fall, dass (gleichartige) Ansprüche zusammentreffen: Der nach Abs 1 prioritär zuständige Mitgliedstaat hat die Leistung zu erbringen, wohingegen jene des nachrangig zuständigen Staats bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen ist. Ist die Leistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, hat er – wenn sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt – ergänzend die Differenz (den Unterschiedsbetrag) zu leisten. Damit wird der Familie im Ergebnis die der Höhe nach günstigste Leistung garantiert (Günstigkeitsprinzip; 10 ObS 42/19b SSV-NF 33/29 [ErwGr 3.]; Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 7; Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 2 Rz 63; Burger-Ehrnhofer, KBGG und FamZeitbG3 § 2 KBGG Rz 55; vgl auch Juhasz, „Gleichartigkeit“ der Familienleistungen im EU-Kontext und die daraus resultierende Säumnisproblematik, DRdA-infas 2020, 191 [192]).

[19] 3.2. Der Kl ist zuzustimmen, dass sich die vom Berufungsgericht zitierte Rsp primär auf die (hier nicht strittige) Vergleichbarkeit von Familienleistungen bezieht. Richtig ist auch, dass Beschlüsse der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit für die Gerichte nicht verbindlich sind (vgl EuGHC-270/12, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat [Rn 63 mwN]) und im Schrifttum schon wiederholt auf ungelöste Fragen bei Berechnung des Unterschiedsbetrags hingewiesen wurde. Angesprochen werden dabei Probleme beim Zusammentreffen von Geld- mit Sachleistungen, bei der Währungsumrechnung sowie die Fragen, ob der Unterschiedsbetrag für jedes Kind gesondert oder pro Familie zu berechnen ist oder ob alle oder nur vergleichbare Leistungen zu berücksichtigen sind (vgl Felten in Spiegel, Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 9 ff; Marhold in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8, VO [EG] 883/2004 Rz 9 ff; Becker in Reinhard/Becker/Devetzi/Klein/Otting/Weber, EU-Sozialrecht [9. Lfg IX/21] VO 883/04 – K Art 68 Rz 26 ff; Spiegel, Familienleistungen aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal, Die Familie im Sozialrecht [2009] 126 ff). Zwar wird teilweise auch die hier interessierende Frage der zeitlichen Kongruenz als Problemfeld genannt (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 2 Rz 63). Näher haben sich damit bislang aber nur Spiegel und Felten beschäftigt:

[20] Spiegel (in Mazal, Die Familie im Sozialrecht, 129 ff) verweist darauf, dass der Umstand, dass nach § 6 Abs 3 KBGG – ungeachtet einer vorläufigen Leistung nach Art 68 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 iVm Art 7 DVO (EG) 987/2009 – der Unterschiedsbetrag grundsätzlich erst am Ende des ausländischen Leistungsbezugs festzustellen ist, auf die Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Leistung hinauslaufe. Das hält er zumindest dann für unionsrechtskonform, wenn – wie beim Kinderbetreuungsgeld – ein echtes Wahlrecht dahin besteht, die Leistung während eines kurzen Zeitraums mit höheren oder eines längeren Zeitraums mit niedrigeren periodischen Zahlungen zu beziehen, weil andernfalls die Gefahr einer Optimierung der insgesamt erhaltenen Leistungen drohe. Für den Fall, dass kein Wahlrecht besteht und sich die Anspruchszeiträume nicht decken, verneint er die Möglichkeit der Aufrechnung des Gesamtbezugszeitraums (Spiegel, Familienleistungen, 131). Dem schließt sich Felten (in Spiegel, Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 7) an und verweist darauf, dass Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 nur die Höhe der günstigsten Familienleistung garantiere. Dem Problem, dass die Wahl der Bezugsdauer zu Lasten des nachrangigen Staates ausgeübt wird, um von diesem möglichst lange hohe (Teil-) Leistungen zu beziehen, sei auf nationaler Ebene, etwa durch Berechnung des Unterschiedsbetrags im Nachhinein, zu begegnen.

[21] 3.3. Der OGH hatte sich mit unterschiedlich langen Bezugszeiträumen vergleichbarer Familienleistungen nur einmal zu befassen. Zu 10 ObS 6/10w (SSV-NF 24/9) schloss er sich für den Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 und VO198 (EWG) 574/72 der dargestellten Ansicht von Spiegel an und führte aus, § 6 Abs 3 KBGG ordne die Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Familienleistung an. Da die Antikumulierungsregel des Art 10 Abs 1 lit b Z i VO (EWG) 574/72 gerade unangemessene Vorteile bzw einen Überbezug von Leistungen verhindern solle, widerspreche das zumindest dann nicht dem Unionsrecht, wenn bei beiden Leistungen ein Wahlrecht hinsichtlich der Bezugsdauer bestehe. Vor dem Hintergrund, dass die dortige Kl die ausländische Leistung im selben Zeitraum hätte beziehen können wie das Kinderbetreuungsgeld (bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes), billigte der OGH die Ansicht des Berufungsgerichts, dass sich der zur Vermeidung von Doppelleistungen anzustellende Vergleich auf die gesamten Bezugszeiträume der Familienleistungen erstrecke und nicht auf Zeiträume im Ausmaß von (einzelnen) Tagen, Wochen oder Monaten beschränkt sei.

[22] 3.4. Von diesen Grundsätzen abzugehen, besteht im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 kein Anlass, zumal dadurch im Vergleich zur VO (EWG) 1408/71 keine relevante Änderung der Rechtslage eingetreten ist.

[23] So wie zu 10 ObS 6/10w (SSV-NF 24/9) kann auch hier die Bezugsdauer sowohl des Kinderbetreuungsgeldes als auch des Elterngeldes vom Bezieher gewählt werden. Durch eine entsprechende Wahl könnten daher in Summe Leistungen bezogen werden, die über das durch Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 garantierte Ausmaß allenfalls weit hinausgehen, und zu einer durch die Koordinierung der Familienleistungen nicht angestrebten Überkompensation von Familienlasten führen (vgl EuGHC-543/03, Dodl und Oberhollenzer [Rn 51 und 54; zur VO (EWG) 1408/71]). Wenn § 6 Abs 3 KBGG dem durch Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Leistung vorbeugt, verstößt das jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht gegen Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004, weil damit bewirkt wird, dass die höchste Leistung erhalten bleibt, aber kein (teilweiser) Verlust von Ansprüchen, die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gewähren, eintritt. Eine Benachteiligung aufgrund der Inanspruchnahme der AN-Freizügigkeit – wie sie die Kl ansatzweise behauptet – liegt darin nicht.

[24] 3.5. Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 „denselben Zeitraum“ anspricht. Denn Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 regelt in erster Linie die Rangfolge der vor- und nachrangig zuständigen Staaten, was evidentermaßen nur bei aktuellen (vgl Art 59 DVO [EG] 987/2009) Anspruchskonflikten, dh dann notwendig ist, wenn zur selben Zeit Leistungen in verschiedenen Staaten zu gewähren sind. Die hier relevanten Antikumulierungsregeln finden sich hingegen ausschließlich in Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Diesem ist eine Anordnung dahin, dass bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags (der Ausgleichszahlung) nur Leistungen zu berücksichtigen sind, die im selben Zeitraum bezogen werden, nicht zu entnehmen. Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 schließt es somit nicht aus, auch dann einen Unterschiedsbetrag auf Basis der jeweiligen Gesamtbeträge zu ermitteln, wenn – wie hier – gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar nicht oder sich nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden. Angesichts des Wortlauts und des Zwecks des Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 sowie der bisherigen Rsp des OGH zur VO (EWG) 1408/71 besteht in der vorliegenden Konstellation daher kein Grund für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens.

[25] 4. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage sind die Vorinstanzen daher zu Recht davon ausgegangen, dass bei Berechnung der Ausgleichszahlung (des Unterschiedsbetrags) das von der Kl insgesamt und nicht nur das im zeitlich kongruenten Zeitraum bezogene Elterngeld zu berücksichtigen ist. Dass sie auf den Kinderbetreuungsgeldanspruch trotzdem nur das bis 30.4.2020 bezogene Elterngeld angerechnet haben, obwohl die Kl dieses tatsächlich bis inklusive Juni 2020 bezogen hat (vgl Beilage ./3 bzw ON 47), trägt dem Standpunkt der Bekl Rechnung und ist für die Kl auch nicht nachteilig.

[26] 5. Gegen die Berechnung des endgültigen Unterschiedsbetrags (der Ausgleichszahlung) nach Tagsätzen wendet sich die Kl nicht. Dass sie im Fall eines Überbezugs zu dessen Rückersatz verpflichtet ist, bestreitet die Kl in der Revision ebenfalls nicht mehr. Sie kommt auch auf die Aufrechnung nach § 31 Abs 4 KBGG nicht mehr zurück. Diese Fragen sind daher nicht mehr zu prüfen.

[27] 6. Im Ergebnis entsprechen die Entscheidungen der Vorinstanzen daher der Rechtslage, sodass der Revision nicht Folge zu geben ist.

[...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung
1.1.
Sachverhalt

Die Kl lebte mit ihrem Ehegatten und den zwei gemeinsamen Söhnen in der Tschechischen Republik. Vor der Geburt ihres ersten Sohnes war die Kl in Österreich unselbstständig beschäftigt. Die Kl hatte unstrittig sowohl Anspruch auf tschechisches Elterngeld als auch auf das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld in Form der Ausgleichszahlung iSd § 6 Abs 3 KBGG. Bei beiden Leistungen besteht ein Wahlrecht betreffend den genauen Bezugszeitraum. Verfahrensgegenständlich war die Frage der Berechnung der Ausgleichszahlung. Strittig war, ob die Gesamtleistungen miteinander verglichen werden müssen oder nur jene Zahlungen, die im gleichen Bezugszeitraum bezogen wurden (OGH 16.5.2023, 10 ObS 117/22m).

1.2.
Problemaufriss

§ 6 Abs 3 KBGG determiniert, dass der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, unabhängig davon, ob199 pauschales oder einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bezogen wird, ruht, insofern eine ausländische Familienleistung bezogen wird. Ist die ausländische Leistung niedriger, wird der überschießende Teil in Form einer Ausgleichszahlung ausbezahlt. Im Einklang mit der Rsp des EuGH und des OGH sind entgegen dem Wortlaut des § 6 Abs 3 KBGG nur vergleichbare, ausländische Leistungen anzurechnen (ausführlich mwN Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen [2023] 172). Nun kann es sein, dass sich die Bezugszeiträume beider Leistungen bloß teilweise überschneiden. Die Kl vertritt die Meinung, dass nur die im Überschneidungszeitraum ausbezahlten Beträge gegenzurechnen seien. Sie stützt sich dabei auf den Wortlaut des Art 68 Abs 1 VO 883/2004 (Koordinierungs-VO), welcher sich auf „denselben Zeitraum“ bezieht (OGH 16.5.2023, 10 ObS 117/22m). Diese Ansicht würde im Ergebnis zu einer höheren Leistung führen, weil nur Teile der jeweiligen Leistungen in den verschiedenen Staaten gegengerechnet werden würden. Art 68 Koordinierungs-VO regelt die Anrechnung gleichartiger Familienleistungen auf europäischer Ebene. Art 68 Abs 1 Koordinierungs-VO legt anhand bestimmter Kriterien die Reihenfolge der zuständigen Staaten fest. Art 68 Abs 2 Koordinierungs-VO determiniert, dass der nachrangig zuständige Staat gegebenenfalls einen Unterschiedsbetrag zu leisten hat (siehe weiterführend Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [2017] Art 68 VO 883/2004 Rz 7 ff; Marhold in Fuchs/Janda [Hrsg], Europäisches Sozialrecht8 [2022] Art 68 Koordinierungs-VO Rz 8 ff). § 6 Abs 3 KBGG entspricht diesem Regelungswerk dem Grunde nach bzw ist gegebenenfalls anhand dessen auszulegen (siehe Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen 172).

2.
Berechnung des Differenzbetrags bei unterschiedlichen Bezugszeiträumen
2.1.
Literatur

Sowohl Felten als auch Spiegel haben sich bereits mit der Berechnungsmethode des Differenzbetrags iSd § 6 Abs 3 KBGG bei unterschiedlich langen Bezugszeiträumen beschäftigt. Spiegel ist der Meinung, dass die Gesamtleistungen jedenfalls dann am Ende miteinander verglichen werden müssten, wenn der anspruchsberechtigten Person ein Wahlrecht bei der Anspruchsdauer zukommt. Dies sei beim Kinderbetreuungsgeld der Fall. Andernfalls könnte die Person durch die Ausübung des Wahlrechts die Gesamthöhe ihrer Leistung beeinflussen. Bestehe allerdings kein Wahlrecht, tendiert er dazu, nur die Beträge in jenen Zeiträumen gegenzurechnen, die sich auch tatsächlich überschneiden (Spiegel, Familienleistungen aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts, in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [130 f]. Felten erwähnt ebenfalls die Gefahr, dass das Wahlrecht zu Lasten des nachrangig zuständigen Staats ausgeübt werden. Dieser Problematik solle auf nationaler Ebene gelöst werden könne (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [2021] Art 68 VO 883/2004 Rz 7, 13).

2.2.
Rechtsprechung

Das erste Mal hatte der OGH die Problematik unterschiedlich langer Bezugszeiträume hinsichtlich des Differenzbetrags in der Rs 10 ObS 6/10w zu beurteilen. Streitgegenständlich war die Vorgänger-VO 1408/71, welche mit Art 68 Koordinierungs-VO vergleichbare Prioritäts- und Antikumulierungsregeln beinhaltet. Er sprach zunächst aus, dass § 6 Abs 3 KBGG eine Gesamtbetrachtung anordne. Auch im damaligen Sachverhalt hatte die Kl ein Wahlrecht betreffend den Bezugszeitraum in beiden Staaten. Unter Verweis auf die zuvor angeführten Erläuterungen Spiegels stünde diese Gesamtbetrachtung im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben (OGH 9.2.2010, 10 ObS 6/10w).

In der gegenständlichen Rs 10 ObS 117/22m führt der OGH seine Rechtsprechungslinie fort. Es gäbe keinen Grund, im Anwendungsbereich der Koordinierungs-VO 883/2004 von den bisherigen Ergebnissen abzuweichen. Wiederum käme der Kl ein Wahlrecht betreffend beider Leistungen zu. Durch die Ausübung dieses Wahlrechts bestünde die Gefahr einer Überkompensation. Den Vorgaben des Art 68 Koordinierungs-VO werde entsprochen, weil so dennoch die höchste Leistung erhalten bleibe und kein Verlust von Leistungen eintrete. Daher werde auch die AN-Freizügigkeit nicht berührt. Dass sich Art 68 Abs 1 Koordinierungs-VO auf „denselben Zeitraum“ beziehe, schade nicht, weil dieser nur die Prioritätsregeln beinhalte. Mit anderen Worten gehe es in Abs 1 um den Anwendungsbereich. Nur wenn zu irgendeinem Zeitpunkt gleichzeitig Leistungen bezogen werden, kommt es überhaupt zur Anrechnung iSd Art 68 Koordinierungs-VO. Wie der Unterschiedsbetrag genau zu berechnen sei, sei vielmehr den Antikumulierungsregeln des Art 68 Abs 2 Koordinierungs-VO zu entnehmen. Diese stünden der durch § 6 Abs 3 KBGG vorgegebenen Gesamtbetrachtungsweise nicht entgegen (OGH 16.5.2023, 10 ObS 117/22m).

2.3.
Analyse

Nachdem § 6 Abs 3 KBGG im Einklang mit Art 68 Koordinierungs-VO auszulegen ist, sind zunächst die europarechtlichen Vorgaben zu analysieren. Den Ausführungen des OGH mit Verweis auf die Meinungen von Spiegel und Felten ist zuzustimmen. Zweck des Regelungsregimes des Art 68 Koordinierungs-VO ist die Verhinderung von Doppelleistungen. Besteht nun ein Wahlrecht der anspruchsberechtigten Personen, kann dieses natürlich so ausgeübt werden, dass sich die beiden Leistungen möglichst wenig überschneiden. Obgleich damit die Grenze zum Rechtsmissbrauch nicht überschritten wird, entspricht ein solches Vorgehen nicht dem Telos der Antikumulierungsregelungen des Art 68 Koordinierungs-VO. In weiterer Folge werden bloß geringere Teile beider Leistungen aufgerechnet, was wiederum zu einer200 höheren Gesamtleistung führt. Dieses Vorgehen steht in einem Spannungsverhältnis zum Doppelleistungsverbot. Diesem Verbot wird am ehesten entsprochen, wenn die Gesamtbeträge verglichen und aufgerechnet werden. Das Doppelleistungsverbot ist überdies auch in Art 10 Koordinierungs-VO verankert. Dieser bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Zusammentreffend zweier Leistungen, die aus derselben Pflichtversicherungszeit resultieren. Angemerkt sei, dass Art 10 Koordinierungs-VO in einem Fall wie dem gegenständlichen nicht direkt anwendbar ist, weil es ja nicht um mehrere Leistungen aus derselben Pflichtversicherungszeit geht. Es handelt sich um eigene Ansprüche der beiden Elternteile und somit um Ansprüche aus verschiedenen Versicherungszeiten. Aus systematischer Sicht kann Art 10 Koordinierungs-VO dennoch zur Auslegung herangezogen werden. Diese Bestimmung stellt auf dieselbe Grundlage und nicht unbedingt auf den gleichzeitigen Bezug ab. Eine Interpretation des Art 68 Koordinierungs-VO anhand Art 10 Koordinierungs-VO spricht somit eher für einen Vergleich der Gesamtleistungen. Der OGH kommt daher zutreffend zum Ergebnis, dass § 6 Abs 3 KBGG im Einklang mit diesen Vorgaben ausgelegt werden kann (so bereits ausgeführt in Kain, Kinderbetreuungsgeld und Unionsrecht, DRdA 2024, 10 ff). Das Berufungsgericht kam zum selben Ergebnis wie der OGH und bezog sich in seinen Ausführungen überdies auch auf den Beschluss F3 der Verwaltungskommission. Eine klare Antwort kann dem Beschluss jedoch wohl nicht entnommen werden. Er bezieht sich dem Wortlaut nach auf „den Betrag der Familienleistungen nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften“, welcher mit „dem Betrag der Familienleistungen nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften“ verglichen werden soll (Z 1 des Beschlusses F3 der Verwaltungskommission). Insb legt er fest, dass die Berechnung pro Familienangehörigem zu erfolgen hat. Er spricht allerdings keinesfalls gegen die von den Gerichten getroffenen Entscheidungen.

2.4.
Weiterführende Gedanken

Wenngleich nicht verfahrensgegenständlich, ist fraglich, wie die gegenständliche Problematik zu behandeln ist, wenn kein Wahlrecht der anspruchsberechtigten Person betreffend die Bezugsdauer besteht. Wie bereits ausgeführt wurde, sprach sich Spiegel eher gegen eine Gesamtbetrachtung aus (Spiegel in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht 131 f). Auch in dieser Sachverhaltskonstellation müsste es bei der Durchführung des § 6 Abs 3 KBGG jedoch wohl zur Berücksichtigung der Gesamtleistung kommen. Die Ausübung des Wahlrechts derart, dass insgesamt eine höhere Leistung bezogen werden kann, ist nur ein Aspekt. Die anderen Argumente, in concreto jene hinsichtlich dem Entsprechen der in Art 10 und 68 Koordinierungs-VO determinierten Doppelleistungsverbote, gelten auch ohne Wahlrecht unverändert. Des Weiteren ist ErwG 2 des Beschlusses F3 der Verwaltungskommission zu entnehmen, dass bei der Durchführung des Art 68 Koordinierungs-VO ein einheitliches Verfahren festgelegt werden sollte. Dieser Anordnung wird nicht entsprochen, wenn beim Bestehen eines Wahlrechts die Gesamtbeträge verglichen werden, während ansonsten nur gleichzeitig bezogene Leistungen gegengerechnet werden. Eine solch unterschiedliche Behandlung wäre wohl auch aus Fairnessaspekten abzulehnen. Überdies wäre auch jene Sachverhaltskonstellation denkbar, dass das Wahlrecht so ausgeübt wird, dass gar keine Überschneidung der Leistungen vorliegt. Vor dem Hintergrund des Doppelleistungsverbots müsste man auch hier zum Ergebnis der Anrechnung des Gesamtbetrags kommen. Dies widerspricht jedoch dem Wortlaut des Art 68 Koordinierungs-VO. Die Bestimmung ist gem Art 68 Abs 1 Koordinierungs-VO nur anwendbar, wenn Leistungen für denselben Zeitraum zu gewähren sind. Liegt keine Überschneidung vor, ist der Anwendungsbereich nicht gegeben. Daher kann es in weiterer Folge auch zu keiner Anrechnung und der Aussetzung bzw der Zahlung eines Unterschiedsbetrags kommen. Beide Leistungen müssten dann wohl in voller Höhe erbracht werden.

3.
Conclusio

Die gegenständliche E 10 ObS 117/22m beschäftigt sich mit der Frage von ungleichen Bezugszeiträumen bei der Berechnung des Differenzbetrags des § 6 Abs 3 KBGG. Der OGH kommt mit überzeugenden Argumenten zum Ergebnis, dass auch dann beide Gesamtleistungen verglichen werden müssen, wenn ein Wahlrecht hinsichtlich des Bezugszeitraums so ausgeübt wird, dass sich die Bezugszeiträume beider Leistungen bloß teilweise überschneiden. Diese Vorgehensweise muss wohl auch dann verfolgt werden, wenn kein Wahlrecht hinsichtlich der Bezugszeiträume besteht. Im Falle einer Ausübung des Wahlrechts derart, dass sich die Bezugszeiträume beider Leistungen gar nicht überschneiden, darf es vor dem Hintergrund der Koordinierungs-VO zu keiner Kürzung des Anspruchs kommen, weil der Anwendungsbereich des Art 68 Koordinierungs-VO dann nicht gegeben ist.201