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Leistungsentzug aufgrund Nichtbefolgung einer Anordnung zur Nachuntersuchung

REINHARDMINDEROCK (LINZ)
  1. Eine Sanktionierung der Verletzung einer Untersuchungsobliegenheit gem § 99 Abs 2 ASVG setzt voraus, dass ein Wegfall der Leistungsvoraussetzungen ex ante betrachtet zumindest möglich und die angeordnete Untersuchung zu deren Feststellung (allenfalls in Kombination mit weiteren Untersuchungen) geeignet und erforderlich war.

  2. Dient eine Untersuchung nur der Überprüfung der Höhe der Leistungsberechtigung, ist das Weiterbestehen der Leistungsberechtigung in einem bestimmten Mindestausmaß aber unstrittig, so ist eine gänzliche Entziehung der Leistung unzulässig, wenn der Versicherte den angeordneten Termin zur Nachuntersuchung nicht wahrnimmt.

[...]

[2] Mit Bescheid vom 12.1.2017 anerkannte die bekl Pensionsversicherungsanstalt ab 1.1.2017 den Anspruch des [Kl] auf eine Berufsunfähigkeitspension für die weitere Dauer der Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 19.6.2018 bemaß sie das Pflegegeld ab 1.4.2018 neu und erkannte dem Kl ab diesem Zeitpunkt Pflegegeld der Stufe 3 zu.

[3] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 5.7.2019 entzog die Bekl, gestützt auf §§ 9, 26 BPGG, dem Kl mit Ablauf des Monats August 2019 das Pflegegeld. Obwohl auf die Folgen hingewiesen worden sei, sei eine Wiederbegutachtung mangels Mitwirkung des Kl nicht möglich gewesen. [...]

[4] Mit dem weiteren angefochtenen Bescheid vom 5.7.2019 entzog die Bekl, gestützt auf §§ 99, 271 und 366 ASVG, dem Kl mit Ablauf des Monats Juli 2019 die Berufsunfähigkeitspension. Der Kl sei ohne triftigen Grund trotz schriftlicher Aufforderung mit Hinweis auf die Folgen seines Verhaltens zu einer ärztlichen Untersuchung nicht erschienen.

[5] Mit seinen gegen diese Bescheide erhobenen und vom Erstgericht verbundenen Klagen begehrt185 der Kl, ihm Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 über den Ablauf des Monats August 2019 hinaus [...] und eine Berufsunfähigkeitspension über den Ablauf des Monats Juli 2019 hinaus zuzuerkennen [...].

[...]

[9] Zu dem von den Parteien im ersten Rechtsgang erstatteten Vorbringen, den getroffenen Feststellungen und den Begründungen der E des Erstgerichts und des Berufungsgerichts wird auf die Darstellung im Beschluss 10 ObS 21/21t des OGH verwiesen.

[...]

Im zweiten Rechtsgang steht folgender Sachverhalt fest:

[...]

[20] Ende 2018 langte bei der Bekl eine anonyme Anzeige ein, wonach der Kl seine von der Bekl bezogenen Leistungen zu Unrecht beziehe (Verdacht auf Sozialbetrug). [...]

[21] Am 7.1.2019 unterzog [der Kl] sich einer Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie im Kompetenzzentrum der Bekl. Dieser erkannte in seinem Gutachten keine wesentliche Besserung gegenüber dem Vorgutachten, hielt jedoch eine Besserung innerhalb von 12 Monaten für möglich. Mit chefärztlicher Stellungnahme vom 9.1.2019 wurde innerhalb der Bekl festgehalten, dass die Berufsunfähigkeit des Kl auf Dauer bestehe, eine Besserung des Gesundheitszustands ausgeschlossen und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen nicht zweckmäßig und zumutbar seien.

[22] Mit Schreiben vom 11.1.2019 lud die Bekl den Kl zu einer Untersuchung für den 25.2.2019 im Kompetenzzentrum Begutachtung ein. [Diese] Einladung [hatte] auszugsweise folgenden Wortlaut: „Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension: Sie haben unseren Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher leider nicht Folge geleistet. Ohne diese ärztliche Untersuchung müssten wir unsere Entscheidung aufgrund der derzeit vorliegenden Unterlagen treffen, die für eine Zuerkennung nicht ausreichen.“ Weiters wird mitgeteilt, dass Begutachtungen durch Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie sowie durch einen Psychologen/eine Psychologin vorgesehen seien.

[23] Mit Schreiben vom 18.1.2019 wurde der Kl für denselben Untersuchungstermin am 25.2.2019 in das Kompetenzzentrum der Bekl zur Begutachtung, „ob Pflegebedürftigkeit im seinerzeitigen Ausmaß vorliegt“, geladen.

[24] Am 29.1.2019 langte bei der Bekl ein Antrag des Kl auf Erhöhung des Pflegegeldes ein. Diesem waren zahlreiche weitere Befunde angeschlossen, in denen vorwiegend psychiatrische, aber auch internistische und orthopädische Diagnosen angeführt waren.

[25] Mit Eingabe vom 20.2.2019 wandte sich der Kl an das BVwG, um sich über das ärztliche Gutachten vom 7.1.2019 zu beschweren und [...] „die Berufsunfähigkeit auf Dauer“ zu beantragen. Diese E-Mail langte am selben Tag auch bei der Bekl ein.

[26] Am 25.2.2019 wurde der Kl im Kompetenzzentrum Begutachtung der Bekl von einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie untersucht. Obwohl in der Einladung auch Untersuchungen durch Fachärzte für Innere Medizin und Orthopädie angekündigt waren, fanden diese Untersuchungen am 25.2.2019 nicht statt, weil sie vom Chefarzt der Bekl storniert wurden. Die begutachtende Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie erachtete aber zwecks schlüssiger Einschätzung des Pflegebedarfs die Begutachtung durch einen Facharzt für Innere Medizin und einen Facharzt für Orthopädie für erforderlich und hielt dies auch in ihrem kurz danach erstatteten Gutachten fest. Aus dem eigenen Vorbringen der Bekl und dem inhaltlich nicht bestrittenen und daher vom OGH verwertbaren [...] ärztlichen Gutachten vom 12.3.2019 [...] ergibt sich, dass die begutachtende Ärztin allerdings bereits rein aus psychiatrisch-neurologischer Sicht einen Pflegebedarf entsprechend der Pflegegeldstufe 1 ermittelte.

[27] Nach dem weiteren unbestrittenen Vorbringen der Bekl erstellte der chefärztliche Dienst der Bekl auf Basis dieses Gutachtens eine Stellungnahme vom 12.3.2019, die eine wesentliche Besserung im Vergleich zum Gewährungsgutachten vom 13.6.2018 festhielt [...]. Darin wurde festgehalten: „Sollte die jetzige Pflegegeldstufe dennoch vorübergehend aufrecht erhalten bleiben, wären bei Nachuntersuchung in drei Monaten folgende Gutachter [...] zu beauftragen: FA für Psychiatrie [...], FA für Innere Medizin [...], FA für Orthopädie [...], FA für Augenheilkunde [...].

[28] Am 25.3.2019 langte bei der Bekl ein Schreiben einer den Kl vertretenden Rechtsanwältin ein, die Schmerzengeldansprüche gegen die Bekl geltend machte. Diesem Schreiben war ein Privatgutachten eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 19.3.2019 angeschlossen, in dem ein sehr schlechter psychischer Zustand des Kl beschrieben war.

[29] Daraufhin lud die Bekl den Kl mit Schreiben vom 29.3.2019 zu einer ärztlichen Untersuchung in das Kompetenzzentrum Begutachtung für den 20.5.2019 ein und leitete dieses Schreiben mit den Worten ein: „Sie haben unseren Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher leider nicht Folge geleistet. Ohne diese ärztliche Untersuchung müssten wir unsere Entscheidung aufgrund der derzeit vorliegenden Unterlagen treffen, die für eine Zuerkennung nicht ausreichen.

[30] Mit Schreiben vom 9.4.2019 korrigierte die Bekl dieses Schreiben wie folgt: „Korrektur unseres Schreibens vom 29.3.2019: Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld: Sehr geehrter Herr [Kl]! Zwecks Erstellung eines medizinischen Gutachtens ersuchen wir Sie dringend – in Ihrem eigenen Interesse – zur ärztlichen Untersuchung am 20.05.2019, um 08:15 Uhr, in das Kompetenzzentrum Begutachtung ... zu kommen. [...] Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass (gem § 99 ASVG und § 29 [sic] BPGG) Ihre Leistung ganz oder teilweise aberkannt werden kann, wenn Sie sich einer Nachuntersuchung entziehen.

[31] Der Kl war am 20.5.2019 sowohl körperlich als auch psychisch in der Lage, mittels eines Krankentransports im Kompetenzzentrum der Bekl zu einer186 Nachuntersuchung zu erscheinen. Dies wäre auch mit keiner Gesundheitsgefährdung einhergegangen. Dies konnte er am 20.5.2019 auch erkennen; nachdem er aber nicht einsehen konnte, warum er innerhalb von fünf Monaten eine weitere Vorladung zwecks dritter Nachuntersuchung erhalten hatte, wollte er den Termin am 20.5.2019 nicht wahrnehmen.

[32] Für den 20.5.2019 waren aus dem neurologisch/psychiatrischen Fachgebiet eine psychologische Testung, eine (wiederholte) Beobachtung des Kl und gegebenenfalls die Vornahme psychologischer Messungen, wie der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und des Gesichtssinns, geplant. Aus dem internistischen Fachgebiet waren eine Anamnese, eine Erhebung des Gesamteindrucks (des Allgemeinzustands) und des Status (durch Inspektion, Abhören, Abtasten, Abklopfen des Kl), die Durchführung eines Elektrokardiogramms und einer Herzultraschallmessung geplant. Aus dem orthopädischen Fachgebiet waren eine Anamnese, eine Erhebung des Gesamteindrucks und Untersuchung des Hautbilds (Formveränderungen), der Wirbelsäule (Haltung und Form), der unteren und oberen Extremitäten (Muskeln, Sehnen, Nerven) und der Gelenke des Kl durch Inspektion, Abklopfen, Abtasten und Druck samt Beobachtung des Gangbildes der Beweglichkeit des Kl vorgesehen.

[33] Bei den geplanten Untersuchungen aus allen drei Fachgebieten handelt es sich um geeignete Methoden, um das Vorliegen und den Grad der gesundheitlichen Schädigungen des Kl, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Pflegebedürftigkeit zu erheben. Es handelt sich um dafür „konkret erforderliche Mittel und notwendige Maßnahmen“, die für den Kl mit keinen Gefahren, Schmerzen oder sonstigen Beeinträchtigungen verbunden sind. Lediglich die genaue orthopädische körperliche Untersuchung kann in seltenen Fällen – vor allem bei mangelnder Kooperation und dadurch hervorgerufenen Abwehrspannungen – zu vorübergehenden kurzfristigen Schmerzen oder Beeinträchtigungen führen. Untersuchungen der genannten Art ergeben die Grundlage für eine klinisch fundierte Diagnose und solide Einschätzung der Arbeitsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit.

[34] Zur Notwendigkeit der geplanten Untersuchungen aus den einzelnen Fachgebieten traf das Erstgericht folgende weitere Feststellungen: Die neuerliche Begutachtung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie war erforderlich, weil im Privatgutachten vom 19.3.2019, das dem Schreiben der rechtsfreundlichen Vertretung des Kl vom 25.3.2019 beigefügt war, zahlreiche Diagnosen angeführt waren, die durch Zusatzuntersuchungen hätten verifiziert werden müssen. Ohne die geplanten internistischen Untersuchungen hätte die Bekl nicht über den Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes vom 29.1.2019 entscheiden können; sie waren auch nötig, um einen aufgrund der anonymen Anzeige entstandenen Verdacht auf Simulation auszuschließen. Ohne die geplanten orthopädischen Untersuchungen hätte die Bekl nicht über den Erhöhungsantrag des Kl vom 29.1.2019 absprechen können.

[35] Mit rechtskräftigem Urteil vom 18.11.2021 [...] verpflichtete das Erstgericht [...] die Bekl, dem Kl ab 1.1.2021 Pflegegeld der Stufe 1 zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 3 über den 31.12.2020 hinaus wurde abgewiesen [...]. [...]

[36] Das Erstgericht wies die Klage auch im zweiten Rechtsgang ab.

[37] [...] Die Bekl habe das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Nachdem der Kl den Ladungen bewusst nicht Folge geleistet habe, liege eine leistungsschädliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit vor, die zur Klageabweisung führe.

[38] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge [...].

[...]

[42] Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht aus der im ersten Rechtsgang ergangenen E 10 ObS 21/21t des OGH unrichtige rechtliche Schlüsse gezogen hat. Sie ist auch teilweise berechtigt.

[43] 1.1. In der im ersten Rechtsgang ergangenen E 10 ObS 21/21t kam der OGH zu folgendem Zwischenergebnis: Hängt die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung ab (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG) und bekämpft der Anspruchsberechtigte die Entziehungsentscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht, so ist die (Vor-)Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeitsund Sozialgerichte unterworfen (Rz 43).

[44] 1.2. Zur Überprüfung der pflichtgemäßen Ermessensausübung wurde klargestellt, dass eine vom Sozialversicherungsträger nach § 366 Abs 1 ASVG sowie § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung iSd Art 8 EMRK verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein muss. Dazu wurde ausgeführt:

„[52] 5.7 In Bezug auf eine vom Sozialversicherungsträger gem § 366 ASVG bzw § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob diese tatsächlich geeignet ist, das in § 366 Abs 1 ASVG angesprochene Ziel (‚... um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind‘) zu erreichen, um auf diese Weise letztlich das durch die Sozialversicherung zu tragende Risiko zu verringern (10 ObS 213/00x SSV-NF 14/100 ua; Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 FN 825 mwH). Dies muss – schon wegen Art 8 EMRK – auch im Anwendungsbereich des § 99 Abs 2 ASVG ebenfalls gelten (Auer-Mayer, Mitverantwortung 402). [...] Wie bereits ausgeführt droht die Sanktion der Entziehung nur so lange, wie der Versicherte einer Untersuchungsobliegenheit nicht187 nachkommt (Auer-Mayer, Mitverantwortung 404 mwH zu § 99 Abs 2 ASVG; ausdrücklich nach dem Wortlaut des § 26 Abs 1 BPGG).[53] 5.8 Weiters wird zu beurteilen sein, ob die für den 20.5.2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung im konkreten Fall erforderlich war. Von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Feststellung des Gesundheitszustands (und dessen allfälliger Besserung) ist die gelindeste Methode zu wählen.[54] 5.9 Unter konkreter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wird schließlich zu prüfen sein, ob die angeordnete Untersuchung im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Versicherten und der Versichertengemeinschaft als adäquat anzusehen ist. Dabei geht es letztlich um die Prüfung der Zumutbarkeit der angeordneten Maßnahme für den Versicherten ([...] 10 ObS 58/11v SSV-NF 25/57; Auer-Mayer, Mitverantwortung, 173; Kneihs in SV Komm § 366 ASVG Rz 9).[55] 5.10 Im konkreten Fall wird bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auch zu berücksichtigen sein, dass die Untersuchung vom 20.5.2019 die dritte innerhalb eines halben Jahres anberaumte Nachuntersuchung war. Der Kl hat ihre Erforderlichkeit vor diesem Hintergrund bestritten. Die Bekl hat allerdings geltend gemacht, dass die Nachuntersuchung vom 20.5.2019 auch der Erstellung weiterer Gutachten aus anderen Fachgebieten als der Psychiatrie dienen sollte [...]. Dieses Vorbringen hat der Kl bestritten. Er weist auch in der Revision darauf hin, dass die Bekl die Entscheidung aufgrund bereits vorhandener Daten (im Sinn eines nach Art 8 EMRK gebotenen ‚gelinderen‘ Mittels im Verhältnis zur angeordneten Untersuchung; vgl Auer-Mayer, Mitverantwortung 173) treffen hätte können. Feststellungen dazu fehlen.“

[45] 2.1. Der Kl macht (ua) geltend, die Bekl hätte aufgrund der bereits vorhandenen Untersuchungsergebnisse vom 7.1.2019 und vom 25.2.2019 die Berufsunfähigkeitspension und das dem Kl gewährte Pflegegeld nicht entziehen, sondern „höchstens“ das Pflegegeld auf Stufe 1 herabsetzen dürfen.

Dazu wird ausgeführt:

[46] 2.2. Die in § 366 Abs 1 ASVG normierte Untersuchungsverpflichtung unterliegt schon nach dem Wortlaut der Bestimmung einer Zweckbindung: Eine Untersuchung darf nur angeordnet werden, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 397). Entspricht der Versicherte der Anordnung nicht, kann der Versicherungsträger nach § 366 Abs 2 ASVG der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen. Es handelt sich dabei um eine bloße Ermächtigung des Versicherungsträgers. Er darf sich mit dem ohne die strittige Untersuchung festgestellten Sachverhalt begnügen, ohne sich dem Vorwurf mangelnder Ermittlungen auszusetzen. Die Verweigerung der Untersuchung ermöglicht aber nicht, automatisch vom Nichtvorliegen der Anspruchsvoraussetzungen auszugehen (Auer-Mayer, Mitverantwortung 398). Ist daher das weitere Bestehen des Leistungsanspruchs als solches etwa aufgrund vorliegender Befunde auch ohne die Untersuchung feststellbar und nur die Höhe des Leistungsbezugs strittig und dient die Untersuchung etwa nur der Feststellung einer (noch) höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit, dann ist die Leistung auf dieser Basis trotz des Verstoßes gegen die Mitwirkungsobliegenheit (weiterhin) zu gewähren. Ist die Untersuchung allerdings aufgrund der vorliegenden Informationen auch dafür nicht erforderlich, so ist die Anordnung derselben von vornherein unzulässig (Auer-Mayer, Mitverantwortung 399 FN 1821).

[47] 2.3. Während § 366 ASVG die Verpflichtung zur Untersuchung anordnet und als Konsequenz der Verweigerung nur die Zugrundelegung des Sachverhalts zulässt, ermöglicht § 99 Abs 2 ASVG dem Sozialversicherungsträger, die Leistung auf Zeit ganz oder teilweise zu entziehen (Auer-Mayer, Mitverantwortung 401). Es handelt sich um ein Beugemittel, das den Versicherten dazu bringen soll, seiner Obliegenheit zur Nachuntersuchung nachzukommen (Auer-Mayer, Mitverantwortung 401, Schramm in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm [289. Lfg] § 99 ASVG Rz 13; umfassend Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG, DRdA 1983, 1 ff). Die Bestimmung zielt vor allem darauf ab, den weiteren Bezug von nicht mehr in der gewährten Höhe gebührenden und daher unter Umständen nach § 99 Abs 1 ASVG endgültig zu entziehenden Leistungen zu vermeiden (Auer-Mayer, Mitverantwortung 401).

[48] 2.4. Aus der Zusammenschau des Wortlauts, der systematischen Stellung der Norm und dem Hinweis in den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP 44) auf das Ziel der Verhinderung unberechtigter Leistungsbezüge wird abgeleitet, dass die Nichtduldung einer Untersuchung nach § 99 Abs 2 ASVG nur dann als Grundlage einer Entziehung in Betracht kommt, wenn die durch die Untersuchung zu gewinnenden Informationen für die Berechtigung der entzogenen Leistung konkret relevant sind. Eine Sanktionierung nach § 99 Abs 2 ASVG setzt demnach voraus, dass ein Wegfall der Leistungsvoraussetzungen ex ante betrachtet zumindest möglich und die angeordnete Untersuchung zu deren Feststellung (allenfalls in Kombination mit weiteren Untersuchungen) geeignet und erforderlich war (Auer-Mayer, Mitverantwortung 402 f). Daraus folgt, dass dann, wenn eine Untersuchung nur der Überprüfung der Höhe der Leistungsberechtigung dient, das Weiterbestehen der Leistungsberechtigung in einem bestimmten Mindestausmaß aber unstrittig ist, eine gänzliche Entziehung der Leistung unzulässig ist (Auer-Mayer, Mitverantwortung 406).

[49] 2.5. Nach dem festgestellten Sachverhalt fand die am 7.1.2019 zur Überprüfung des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension durchgeführte Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Neurologie/ Psychiatrie als Reaktion auf den gegen den Kl erhobenen Vorwurf des Sozialbetrugs statt, sodass die Überprüfung der erhobenen Vorwürfe bereits im Fokus dieser Untersuchung lag.

[50] Es steht fest, dass der gutachtende Arzt die Voraussetzungen für den Anspruch auf Berufsun-188fähigkeitspension bereits aufgrund der Ergebnisse seiner psychiatrischen Untersuchung vom 7.1.2019 als weiterhin vorhanden ansah und diese Einschätzung auch vom chefärztlichen Dienst der Bekl geteilt wurde. Der chefärztliche Dienst erachtete sogar die vom Gutachter für möglich gehaltene Besserung als ausgeschlossen.

[51] Die für den 20.5.2019 angesetzte neuerliche Untersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/ Psychiatrie war nach den Feststellungen nur erforderlich, um zusätzliche Diagnosen, die in dem nachträglich (am 19.3.2019) vorgelegten Privatgutachten angeführt waren, durch weitere Untersuchungen zu verifizieren.

[52] 2.6. Im Verfahren um eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bildet die vom Sachverständigen erhobene Diagnose nur die Grundlage für das von ihm zu erstellende Leistungskalkül (RS0084399). Auf Basis des Leistungskalküls ist festzustellen, in welchem Umfang der Versicherte im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist bzw welche Tätigkeiten er ausführen kann (RS0084399 [T6]). Ergibt sich aus den bereits verifizierten Diagnosen daher ein medizinisches Leistungskalkül, aufgrund dessen die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit erfüllt sind, so ist die Objektivierung zusätzlicher Diagnosen, die zu einer weiteren Einschränkung des Leistungskalküls führen könnten, für die Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen nicht mehr erforderlich.

[53] 2.7. Ein solcher Fall liegt hier vor.

[54] Für die verlässliche Objektivierung des am 7.1.2019 erhobenen Leistungskalküls des Kl betreffend seinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension war die für den 20.5.2019 angeordnete Nachuntersuchung, die nur der Verifizierung zusätzlicher Diagnosen gedient hätte, nicht erforderlich.

[55] 2.8. Dies gilt nicht nur für die für den 20.5.2019 geplante Nachuntersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie. Auch die geplanten Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie waren für die Erhebung der Entscheidungsgrundlagen des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension nicht erforderlich und daher nicht im bereits zu 10 ObS 21/21t dargelegten Sinn verhältnismäßig.

[56] Nach den Feststellungen waren diese Untersuchungen zwar „konkret erforderliches Mittel zur Beantwortung der für die Bekl relevanten Fragen der Arbeits(un)fähigkeit [...]“. Es ist aber offenkundig, dass diese Feststellungen nichts darüber aussagen, dass die Beantwortung der „Frage der Arbeits(un)fähigkeit“ aus internistischer und orthopädischer Sicht dann nicht notwendig ist, wenn sich das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen – wie im vorliegenden Fall – bereits aus der Untersuchung aus dem neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet ergibt.

[57] 2.9. Soweit das Erstgericht feststellte, dass die für den 20.5.2019 angesetzte Untersuchung aus dem Fachgebiet der Inneren Medizin „auch nötig [war], um einen aufgrund der anonymen Anzeige entstandenen Verdacht auf Simulation auszuschließen“, bezieht sich diese auf dem Gutachten des Sachverständigen für Innere Medizin fußende Feststellung offenkundig auf die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung, um ein „Simulieren“ im Hinblick auf medizinische Einschränkungen aus diesem Fachgebiet zu verhindern (vgl die Ausführungen im internistischen Sachverständigengutachten vom 16.2.2022 [...]: „Fachbezogen wäre eine Untersuchung durch einen Facharzt für Innere Medizin [...] nötig, um einen [...] Verdacht auf Simulation durch den Kläger auszuschließen“). Auf den internistischen Befund kommt es aber – wie dargelegt – für den Anspruch des Kl auf Berufsunfähigkeitspension nicht an.

[58] 2.10. Soweit die Bekl den Standpunkt vertritt, das an den VwGH gerichtete Schreiben mache die Prüfung des Anspruchs auf unbefristete Berufsunfähigkeitspension erforderlich, ist dieses Argument nicht nachvollziehbar, weil dem Kl bereits ab 1.1.2017 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension zuerkannt worden war und die Nachuntersuchung vom 7.1.2019 die Prognose des Weiterbestehens von Berufsunfähigkeit ergab. Dass der Kl mit seinem an den VwGH gerichteten Schreiben genau dieselbe Beurteilung anstrebte, zu der der chefärztliche Dienst der Bekl bereits gelangt war, begründet nicht die Notwendigkeit, eine neuerliche Untersuchung anzusetzen.

[59] 2.11. Daraus folgt, dass die Anordnung der Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Neurologie/Psychiatrie, der Inneren Medizin und der Orthopädie für den 20.5.2019 im Hinblick auf die Voraussetzungen des Anspruchs des Kl auf Berufsunfähigkeitspension als unverhältnismäßig zu qualifizieren ist.

[60] Daher kann auf den Umstand, dass der Kl sich diesen Untersuchungen nicht unterzog, kein Leistungsentzug („Versagung“) nach § 99 Abs 2 ASVG gegründet werden.

[61] Der Revision ist daher im Hinblick auf den Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension Folge zu geben. [...]

[62] 3.1. Auch für den Anspruch auf Pflegegeld ist im Gerichtsverfahren zu prüfen, ob die Anordnung der weiteren Nachuntersuchung für den 20.5.2019 verhältnismäßig iSd in der E 10 ObS 21/21t und der oben dargestellten Grundsätze erfolgte.

[63] 3.2. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die seitens der Bekl am 25.2.2019 durchgeführte Nachuntersuchung durch eine Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie eine verlässliche Entscheidungsgrundlage für den allein aus neurologisch-psychiatrischen Gesundheitsbeeinträchtigungen resultierenden Pflegebedarf schuf. Aufgrund des Ergebnisses dieser Untersuchung ergab sich nach den Feststellungen ein der Pflegestufe 1 entsprechender Pflegeaufwand. Die Anordnung einer neuerlichen Untersuchung aus dem neurologisch/psychiatrischen Fachgebiet oder aus anderen medizinischen Fachgebieten war für die Gewinnung verlässlicher Entscheidungsgrundlagen betreffend einen der Stufe 1 entsprechenden Pflegebedarf nicht erforderlich, sodass es insofern an der Ver-189hältnismäßigkeit der Anordnung der Nachuntersuchung fehlte.

[64] 3.3. Eine neuerliche Untersuchung aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie (nach der am 25.2.2019 durchgeführten Untersuchung) war allerdings erforderlich, um die in dem vom Kl vorgelegten Privatgutachten vom 19.3.2019 angeführten Diagnosen, aus denen er den Anspruch auf eine höhere Pflegegeldstufe ableitete, zu objektivieren.

[65] 3.4. Aufgrund der getroffenen Feststellungen zu den für den 20.5.2019 geplanten Untersuchungen aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie sind diese als verhältnismäßig, nämlich geeignet, erforderlich und adäquat im Hinblick auf das Ziel, einen über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarf zu objektivieren, zu beurteilen.

[66] Dies gilt gleichermaßen für die geplanten Untersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie. Auch letztere erweisen sich im Hinblick auf das Ziel der Objektivierung eines über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarfs als verhältnismäßig nach den dargestellten Grundsätzen.

[67] 3.5. Die insofern (bezogen auf einen über die Pflegestufe 1 hinausgehenden Pflegebedarf) gegebene Verhältnismäßigkeit der Untersuchungsanordnung für den 20.5.2019 wird – entgegen der Rechtsansicht des Kl – nicht dadurch beseitigt, dass es möglich gewesen wäre, Nachuntersuchungen aus den Fachgebieten der Inneren Medizin und der Orthopädie bereits am 7.1.2019 oder am 25.2.2019 durchzuführen, also an jenen Tagen, an denen er ohnehin das Kompetenzzentrum der Bekl zum Zweck von Nachuntersuchungen aufsuchte.

[68] Ausgehend von dem Umstand, dass dem Kl sowohl die Berufsunfähigkeitspension als auch das Pflegegeld der Stufe 3 aufgrund von psychiatrischen Gesundheitseinschränkungen gewährt worden waren, kann es der Bekl nicht als Ermessensüberschreitung angelastet werden, in Folge der anonymen Anzeige zunächst nur das (Weiter-)Bestehen der gesundheitlichen Einschränkungen aus diesem Fachgebiet zu überprüfen. Dass nicht sämtliche in Betracht kommenden Untersuchungen sofort für ein und denselben Untersuchungstermin angesetzt wurden, begründet für sich keine Unverhältnismäßigkeit der für den 20.5.2019 angesetzten Nachuntersuchungen.

[69] 3.6. Soweit der Kl Pflegegeld einer höheren Stufe als der Stufe 1 begehrt, muss er sich daher die schuldhafte Verletzung seiner Mitwirkungsobliegenheit vorwerfen lassen.

[70] Der außerordentlichen Revision gegen die Entziehung des Pflegegeldes war daher nur insofern Folge zu geben, als die Bekl zur Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 1 zu verpflichten war. Das Mehrbegehren, die Bekl zur Weitergewährung von Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zu verpflichten, war hingegen abzuweisen, da die Voraussetzungen des § 26 Abs 1 BPGG („wenn und solange“) hier nach den Verfahrensergebnissen zumindest bis zum Ablauf des 31.12.2020 [...] vorlagen.

[...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Das Ergebnis der vorliegenden E überzeugt. Stellt ein Facharzt im Rahmen einer Nachuntersuchung (7.1.2019) fest, dass die Voraussetzungen für die Weitergewährung einer Berufsunfähigkeitspension weiterhin vorliegen, so ist eine vier Monate später angeordnete weitere Nachuntersuchung, die das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen bloß durch weitere Diagnosen bestätigen oder bekräftigen könnte, unverhältnismäßig. Eine Entziehung der Berufsunfähigkeitspension aufgrund der Weigerung des Versicherten, sich dieser weiteren Untersuchung zu unterziehen, ist nicht zulässig.

Gleiches gilt für das Pflegegeld. Steht aufgrund einer Nachuntersuchung (25.2.2019) ein Pflegebedarf zumindest in Höhe der Pflegestufe 1 fest und verweigert der Versicherte drei Monate später eine weitere Untersuchung, die der Feststellung einer höheren (bisher gewährten) Pflegestufe dienen sollte, ist eine gänzliche Entziehung unzulässig. Offen war schließlich nur noch, ob ein höheres Pflegegeld als Stufe 1, nämlich wie bisher Stufe 3, zusteht.

Weil dem Ergebnis zuzustimmen ist, soll im Folgenden dessen Begründung näher beleuchtet werden. Bei aller Fokussierung auf die Verletzung von Duldungs- bzw Mitwirkungspflichten wird nämlich vernachlässigt, dass für das Ergebnis viel entscheidender die vorgelagerte Frage ist, ob überhaupt eine entsprechende Pflicht für den Versicherten bestanden hat.

2.
Mitwirkungs- bzw Duldungspflicht iSd § 366 Abs 1 ASVG
ANMERKUNG
2.1.

Allein aus den gesetzlichen Bestimmungen der § 366 Abs 1 und 2 sowie § 99 Abs 1 und 2 ASVG erschließt sich der Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bzw der Verletzung von Mitwirkungs- und Duldungspflichten und dem Entzug einer Leistung nicht. Ausgangspunkt ist aber, dass Versicherte die Pflicht haben, sich vom Versicherungsträger angeordneten Untersuchungen oder Beobachtungen zu unterziehen, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind (§ 366 Abs 1 ASVG; krit hinsichtlich einer „Allgemeinen Mitwirkungspflicht“ Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 542 ff). Dabei handelt es sich mangels der Möglichkeit, diese mit Zwang durchzusetzen, um Obliegenheiten, an deren Verletzung das Gesetz jedoch Rechtsfolgen knüpft. Dementsprechend ermächtigt § 366 Abs 2 ASVG den Versicherungsträger, seiner Entscheidung den Sachverhalt zugrunde zu legen, soweit dieser bereits festgestellt ist. Die Materialien zur Stammfassung des § 366 ASVG (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP 108 f) offenbaren den Zweck dieser Bestimmung, nämlich zu verhindern, dass das Ver-190fahren zur Überprüfung einer Leistung ins Stocken gerät, weil Versicherte ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkommen, dh zB die angeordneten Untersuchungstermine nicht wahrnehmen. Deshalb „kann“ der Versicherungsträger – „ohne sich dem Vorwurf eines mangelhaften Verfahrens auszusetzen“ – von der Ergänzung seiner Erhebungen Abstand nehmen, wobei er aber die Versäumung der Untersuchung nicht als Zeichen für das Nichtbestehen des Anspruches deuten darf (vgl Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 [Stand 1.10.2019; rdb.at] Rz 12). Rechtlich handelt es sich hierbei um eine besondere Beweiswürdigungsregelung.

Der Versicherungsträger kann jedoch auch – wie im vorliegenden Fall – versuchen, den maßgeblichen Sachverhalt (noch) weiter festzustellen. Schließlich setzt § 99 Abs 1 ASVG für eine dauernde Leistungsentziehung einen entsprechend festgestellten Sachverhalt voraus, der belegt, dass die Leistungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen. Zur Erreichung dieses Zweckes kann der Versicherungsträger die Leistungsbezieher zwar wie erwähnt nicht zur Untersuchung zwingen, jedoch gem § 99 Abs 2 ASVG die in Frage stehende Leistung auf Zeit ganz oder teilweise entziehen, wenn Versicherte nach Hinweis auf diese Folge die Anordnung zu einer Nachuntersuchung bzw Beobachtung nicht befolgen. Die Materialien (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP 44) zeigen deutlich, dass der Gesetzgeber mit § 99 Abs 2 ASVG das Verhindern des „weiteren Bezug[s] einer nicht mehr gebührenden Leistung“ intendierte. Versicherte, die etwas zu verheimlichen haben, sollen mit einem Beugemittel zur Befolgung der Anordnung verhalten werden und damit doch zur Klärung des Sachverhaltes im Hinblick auf § 99 Abs 1 ASVG beitragen.

2.2.
Verletzung einer Untersuchungsobliegenheit

Oben angeführte verfahrensrechtliche Instrumente – § 366 Abs 2 und § 99 Abs 2 ASVG – knüpfen jeweils an das Vorliegen einer entsprechenden Untersuchungsobliegenheit iSd § 366 Abs 1 ASVG an. Das Bestehen einer entsprechenden Obliegenheit ist also Voraussetzung dafür, dass sie zur Anwendung kommen können. Im Falle des § 99 Abs 2 ASVG stellt überdies erst § 366 Abs 1 ASVG die entsprechenden Parameter zur Verfügung, die eine zielgerichtete Anwendung der Bestimmung ermöglichen. Ohne Bezugnahme auf § 366 Abs 1 ASVG wäre § 99 Abs 2 ASVG für eine Anwendung unzureichend determiniert (vgl Kneihs, Untersuchungs- und Behandlungspflichten im Sozialversicherungsrecht, in FS Pfeil [2022] 459 [464 f]).

Ob nun konkret eine Untersuchungsobliegenheit besteht, ist aufgrund von § 366 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Dieser sieht schon nach seinem Wortlaut eine Zweckbindung für die Untersuchung vor (vgl Rn 46; ErläutRV 599 BlgNR 7. GP 108; Auer-Mayer, Mitverantwortung 397 f), die auch ein Erforderlichkeitskalkül, also einen Verhältnismäßigkeitsmaßstab enthält (vgl Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 [Stand 1.10.2019; rdb.at] Rz 9, der dies treffend mit der Zumutbarkeit gleichsetzt). Eine Untersuchung darf demnach nur angeordnet werden, wenn sie der Feststellung des Vorliegens und Grades der Gesundheitsschädigung dient, die Voraussetzung für den Anspruch auf die Leistung sind. Vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK muss die angeordnete Untersuchung zur Erreichung eines legitimen Ziels – Überprüfung des Bestehens der Leistungsvoraussetzungen – verhältnismäßig sein, also geeignet, erforderlich und adäquat (Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 [Stand 1.10.2019; rdb.at] Rz 9; ausführlich Auer-Mayer, Mitverantwortung 170 ff und in ihrer Anm zu OGH10 ObS 21/21tDRdA 2022, 235 [240 ff]). Festzuhalten ist daher, dass eine Untersuchungsobliegenheit erst dann besteht, wenn die Anordnung der Untersuchung verhältnismäßig war.

Im vorliegenden Fall ist dieser Aspekt entscheidungswesentlich. Weil bereits die erste Untersuchung am 7.1.2019 das weitere Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen für die Berufsunfähigkeitspension bestätigte, kann eine weitere Untersuchung zur Zielerreichung weder geeignet noch erforderlich sein. Ausführlich hat dies Auer-Mayer bereits hinsichtlich des ersten Rechtsganges (OGH 22.5.2021, 10 ObS 21/21t) herausgearbeitet (DRdA 2022, 235 [240 ff]). Folgerichtig kommt im zweiten Rechtsgang auch der OGH vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK zu diesem Ergebnis.

Das Ergebnis ist zur Verdeutlichung zu präzisieren: Hinsichtlich der Berufsunfähigkeitspension liegt keine Verletzung einer Mitwirkungspflicht (Obliegenheit) vor, weil schon keine Untersuchungsobliegenheit bestand und § 99 Abs 2 ASVG deshalb nicht anzuwenden war. Die Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension ist aufgrund des feststehenden maßgeblichen Sachverhalts auf rein materiellrechtlicher Ebene zu entscheiden gewesen. Ein Rückgriff auf verfahrensrechtliche Instrumente (§§ 99 Abs 2, 366 ASVG) wäre hingegen nur in einer Konstellation sachgerecht, in der die Feststellung der maßgeblichen Leistungsvoraussetzungen noch für die Entscheidung erforderlich ist, sich jedoch schwierig gestaltet (vgl dazu bereits Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG, DRdA 1983, 1).

Freilich liegt auch die Anwendung des § 99 Abs 2 ASVG selbst bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen (Hinweis auf die Folgen des Fehlverhaltens [RIS-Justiz RS0083949]; zumindest leichte Fahrlässigkeit [zB OGH10 ObS 50/17aDRdA-infas 2017, 239]) im Ermessen des Versicherungsträgers („kann“) und die Ausübung dieses Ermessens muss wiederum einer (eigenen) Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten (zB hinsichtlich Dauer und Ausmaß der Versagung im konkreten Fall). Die beiden Prüfungsschritte haben unterschiedliche Stoßrichtungen – Zulässigkeit der Anordnung der Nachuntersuchung gegenüber der Zulässigkeit des konkreten Beugemittels. So wird bei zweiterer Prüfung (§ 99 Abs 2 ASVG) bspw einzufließen haben, aus welchem konkreten Grund die Untersuchung unterblieben ist, zB einer Krankheit oder einer Gesundheitsgefährdung durch die konkret gewähl-191te Untersuchungsmethode. Diesfalls kann nämlich die Anordnung der Untersuchung grundsätzlich verhältnismäßig gewesen sein, die Anwendung des konkreten Beugemittels hingegen nicht. Im Rahmen dieses Prüfungsschrittes könnte auch berücksichtigt werden, ob der Versicherte aufgrund eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses ohne sein Verschulden verhindert war, den Untersuchungstermin wahrzunehmen. Allerdings sieht § 366 Abs 2 S 3 ASVG hierfür ausdrücklich die Aufhebung der Anordnung vor (dazu zutreffend krit Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 [Stand 1.10.2019; rdb.at] Rz 15 ff). Aber stets dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – Leistungsvoraussetzungen bereits feststehen, fehlt schon der Anordnung einer (weiteren) Nachuntersuchung insofern die Verhältnismäßigkeit.

3.
Mitwirkungs- bzw Duldungspflicht iSd § 26 BPGG

§ 26 BPGG habe nach dem OGH § 366 ASVG „zum Vorbild“ und diesen im Pflegegeldverfahren verdrängt (Rn 19 in OGH10 ObS 21/21tDRdA 2022, 235 [Auer-Mayer]). Genau genommen ermöglicht („kann“) § 26 Abs 1 BPGG unter der Überschrift „Mitwirkungspflicht“ aber in bestimmten Fällen eine Ablehnung, Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes, zB bei Nichtentsprechen einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer Untersuchung (Z 1) oder der Verweigerung einer für die Entscheidungsfindung unerlässlichen Untersuchung (Z 2). Voraussetzung ist auch hier, dass der Anspruchsberechtigte auf die Folgen seines Verhaltens nachweislich aufmerksam gemacht worden ist (§ 26 Abs 2 BPGG). § 26 BPGG ist sohin gewissermaßen eine Kombination von § 366 Abs 1 mit den Rechtsfolgen des § 99 Abs 2 ASVG. Indem es sich um eine „unerläßliche“ Untersuchung handeln muss, ist ähnlich wie aus § 366 Abs 1 ASVG damit auch aus § 26 Abs 1 BPGG eine Zweckbindung (iS eines Erforderlichkeitskalküls) der Anordnung der Untersuchung abzuleiten. Dem OGH ist deshalb zuzustimmen, dass oben angeführte Grundsätze auch gleichermaßen hier anzuwenden sind: Nur soweit schon die Anordnung einer Nachuntersuchung verhältnismäßig ist, besteht eine Untersuchungsobliegenheit. Und erst bei Bestehen einer solchen stellt sich überhaupt die Frage nach einer Sanktionierung (zB Entziehung) gem § 26 BPGG im Falle ihrer Verletzung.

Der Subsumtion des OGH ist insofern nichts hinzuzufügen. Soweit die Anordnung eines weiteren Untersuchungstermins der neuerlichen Abklärung der bereits feststehenden Pflegestufe 1 dient, ist sie nicht verhältnismäßig (Eignung, Erforderlichkeit), hingegen schon hinsichtlich der Erkundung noch nicht feststehender Leistungsvoraussetzungen, nämlich konkret jenen der bisher gewährten Pflegestufe 3. Nur diesbezüglich besteht eine Untersuchungsobliegenheit, an deren Verletzung entsprechende Rechtsfolgen gem § 26 Abs 1 BPGG anknüpfen können, wobei der Einsatz der konkreten Sanktion (Entziehung, Minderung, Ablehnung) im Ermessen des Versicherungsträgers liegt.

Freilich ist auch diese Ermessensentscheidung auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen, insb ist zu beurteilen, aus welchem („triftigen“) Grund die Untersuchung unterblieben ist (vgl Liebhart, Mitwirkungspflichten beim Pflegegeld, ÖZPR 2013, 138 [138 f]; LG Innsbruck 16 Cgs 153/16z SVSlg 68.114). Ist dem Anspruchswerber die Untersuchung zB aufgrund einer (akuten) Krankheit oder eines sonstigen unabwendbaren oder unvorhersehbaren Ereignisses nicht möglich gewesen, wird eine Sanktionierung nicht zulässig sein, wobei in derartigen Fällen auch regelmäßig kein Verschulden vorliegen wird. Gleiches muss gelten, wenn im Rahmen einer Untersuchung die – konkret gewählte – Untersuchungsmethode mit einem gesundheitlichen Risiko verbunden ist und der Anspruchswerber deshalb die (weitere) Untersuchung verweigert (vgl Liebhart, ÖZPR 2013, 138 [138 f]; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 [2023] Rz 8.142). Würde allerdings die angeordnete Untersuchung ex ante insgesamt ein Gesundheitsrisiko darstellen, wäre schon diese Anordnung nicht verhältnismäßig und entstünde erst gar keine Untersuchungsobliegenheit.

Im vorliegenden Erk lässt der OGH allerdings eine eigenständige Prüfung vermissen, ob die konkrete Sanktion – Entziehung des Pflegegeldes der Stufe 3 – verhältnismäßig iSd soeben dargelegten Verständnisses ist (vgl Rn 62 ff). Er führt bloß das Ergebnis aus, dass die Voraussetzungen des § 26 Abs 1 BPGG vorlagen (Rn 70), womit er zumindest implizit die Verhältnismäßigkeit bejaht. Dies ist gewiss auch richtig. Zur Ergänzung einer Begründung hierfür kann abschließend im Wesentlichen auf jene Sachverhaltsfeststellung verwiesen werden, dass die Weigerung zur Nachuntersuchung einzig deswegen erfolgte, weil der Kl „nicht einsehen konnte“, warum ein weiterer Termin angeordnet wurde (Rn 31), während stichhaltige Anhaltspunkte, die gegen die Verhältnismäßigkeit der konkreten Maßnahme sprechen würden, nicht vorlagen.192