116

Fehlende Amtssignatur auf AMS-Bescheid – § 47 Abs 1 AlVG verfassungswidrig

BIRGITSDOUTZ

Dem VfGH-Erk vom 9.3.2023, G 295/2022, liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die beim VwGH revisionswerbende Partei beantragte beim Arbeitsmarktservice (AMS) mit näherer Begründung die Erlassung eines Feststellungsbescheides über ihren Anspruch auf Leistungen aus der AlV für den Zeitraum 1.6. bis 15.7.2020. Das AMS erließ daraufhin eine als Bescheid bezeichnete und mit 22.9.2020 datierte Erledigung, in deren Spruch festgestellt wurde, dass dem Revisionswerber das Arbeitslosengeld ab 16.7.2020 gebühre. Die Erledigung enthält eine Rechtsmittelbelehrung sowie eine Begründung, in der – nach Darstellung der Rechtslage – näher ausgeführt wird, dass der Revisionswerber „schriftlich ein Dienstverhältnis mit 01.06.2020 gemeldet“ habe und eine Wiedermeldung am 16.7.2020 erfolgt sei, sodass „spruchgemäß zu entscheiden“ gewesen sei. Die Erledigung wurde nach dem äußeren Erscheinungsbild nach elektronisch erstellt und wies sowohl auf der im Verwaltungsakt enthaltenen Version als auch auf der an den Revisionswerber ergangenen Ausfertigung folgende Fertigung auf:

„Für den Leiter/die Leiterin [Vor- und Nachname der Genehmigenden]“.

Weder eine Amtssignatur noch eine Unterschrift der/des Genehmigenden war auf der Erledigung vorhanden.

Gegen die Erledigung erhob der Revisionswerber Beschwerde, die mit Beschwerdevorentscheidung vom 14.10.2020 abgewiesen wurde. Der Revisionswerber beantragte die Vorlage der Beschwerde an das BVwG, da er mit der Entscheidung des AMS über die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes ab 16.7.2020 nicht einverstanden war. Das BVwG wies die Beschwerde des Revisionswerbers ab und erklärte eine Revision für nicht zulässig. Der Revisionswerber brachte eine außerordentliche Revision ein.

Der VwGH hat über diese Revision ein Vorverfahren geführt und mit Beschluss vom 25.10.2022 an den VfGH gem Art 140 Abs 1 lit a iVm Art 135 Abs 4 sowie Art 89 Abs 2 B-VG den Antrag gestellt, den fünften Satz des § 47 Abs 1 AlVG idF BGBl I 2017/38 („Ausfertigungen, die im Wege der automationsunterstützten Datenverarbeitung erstellt wurden, bedürfen weder einer Unterschrift noch einer Beglaubigung“), als verfassungswidrig aufzuheben. Er hegte Bedenken an der Vereinbarkeit dieser Regelung mit der Anforderung des Art 11 Abs 2 B-VG, wonach Regelungen, die der Materiengesetzgeber des Bundes oder eines Landes in Abweichung von einer bundesgesetzlich unter Inanspruchnahme der Bedarfskompetenz getroffenen Regelung des Verwaltungsverfahrens trifft, nur unter der Voraussetzung verfassungskonform sind, dass sie ‚zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind‘. Nach stRsp des VfGH sind solche abweichenden Regelungen nur dann ‚zur Regelung des Gegenstandes erforderlich‘, wenn sie ‚unerlässlich‘ sind. Die ‚Unerlässlichkeit‘ einer von den Verwaltungsverfahrensgesetzen abweichenden Regelung kann sich dabei aus besonderen (tatsächlichen) Umständen oder aus dem Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften ergeben (vgl ua VfGH 2013/VfSlg 19.787; VfGH 2015/VfSlg 19.969; VfGH 2020/VfSlg 20.411, jeweils mwN). Nach Ansicht des VwGH sprechen aber mittlerweile für die „Unerlässlichkeit“ der mit der angefochtenen Regelung bewirkten Abweichung von den Erfordernissen des § 18 Abs 4 AVG keine besonderen tatsächlichen Umstände oder der Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften – hier: des AlVG – mehr.

Der VfGH ist diesem Antrag gefolgt, hat § 47 Abs 1 fünfter Satz AlVG als verfassungswidrig aufgehoben, für die Umsetzung eine Frist bis zum Ablauf des 31.3.2024 festgesetzt und die aufgehobene Bestimmung in den am 9.3.2023 beim VwGH und BVwG anhängigen Verfahren für nicht mehr anwendbar erklärt.

Den Bedenken des VwGH hat sich der VfGH mit folgender Begründung angeschlossen:

Gem § 18 Abs 4 AVG müssen „Erledigungen“, die „Ausfertigungen in Form von elektronischen Dokumenten“ sind, „mit einer Amtssignatur (§ 19 E-GovG) versehen sein“ und brauchen (nur) „Ausfertigungen in Form von Ausdrucken von mit einer Amtssignatur versehenen elektronischen Dokumenten oder von Kopien solcher Ausdrucke […] keine weiteren Vor244aussetzungen zu erfüllen“, wohingegen „[s]onstige Ausfertigungen […] die Unterschrift des Genehmigenden zu enthalten“ haben, wobei „an die Stelle dieser Unterschrift […] die Beglaubigung der Kanzlei treten kann“.

Die Bestimmung des § 47 Abs 1 fünfter Satz AlVG stellt eine von den Vorschriften über schriftliche Ausfertigungen „abweichende Regelung“ iSd Art 11 Abs 2 B-VG dar und ist als solche an den in dieser Verfassungsbestimmung normierten Anforderungen zu messen. Wie der VfGH wiederholt dargetan hat (vgl VfGH 1980/VfSlg 8871; VfGH 1984/VfSlg 9995; VfGH 1987/VfSlg 11.574; VfGH 2009/VfSlg 18.731), müssen Gesetze nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Erlassung, sondern jederzeit verfassungskonform sein. Eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung verfassungskonforme Norm kann durch Änderung der Verfassungslage oder durch Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Umstände verfassungswidrig werden. Der VfGH hat im Gesetzesprüfungsverfahren zu untersuchen, ob die angefochtene Norm zum Zeitpunkt der Prüfung verfassungswidrig ist (vgl VfGH 2004/VfSlg 17.340 mwH).

Die angefochtene Bestimmung geht auf den mit BGBl 1984/179 § 47 Abs 1 AlVG 1958, BGBl 1958/199, angefügten letzten Satz („Ausfertigungen, die in Lochkartentechnik oder in einem ähnlichen Verfahren hergestellt werden, bedürfen weder einer Unterschrift noch einer Beglaubigung.“) zurück, der auch in der wiederverlautbarten Fassung des AlVG unverändert beibehalten wurde. Eine Adaptierung erfolgte seither bloß insofern, als die Bestimmung mit der Novelle BGBl 1992/416 ihren nach wie vor bestehenden Wortlaut erhalten hat („Ausfertigungen, die im Wege der automationsunterstützten Datenverarbeitung erstellt wurden, bedürfen weder einer Unterschrift noch einer Beglaubigung.“). Zunächst war auch im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) für automationsunterstützt hergestellte „externe Erledigungen“ eine Ausnahme vom Gebot der Unterschrift (bzw der Kanzleibeglaubigung) vorgesehen. Diese entfiel jedoch mit der Erlassung des E-Government-Gesetzes, BGBl I 2004/10, wobei gleichzeitig als Alternative zum Erfordernis der eigenhändigen Unterschrift durch den Genehmigenden (oder der beglaubigten Ausfertigung durch die Kanzlei) die Amtssignatur eingeführt wurde.

Seither ist eine Zeit von mehr als 18 Jahren verstrichen; die ursprünglich vorgesehenen Übergangsfristen sind vor zwölf Jahren abgelaufen. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Technik innerhalb der Verwaltung (mittlerweile) weit verbreitet, geläufig und bewährt sowie ohne große technische Probleme umsetzbar ist. Auch setzt das AMS die Amtssignatur selbst zum Teil bereits bei seinen Erledigungen ein.

Das Arbeitslosenversicherungsrecht ist zwar eine Materie, in der verhältnismäßig viele Entscheidungen zu ergehen haben, wodurch die eigenhändige Unterfertigung durch den Genehmigenden oder eine Beglaubigung durch die Kanzlei schwierig zu bewerkstelligen sein könnte. Gerade in solchen Konstellationen kann jedoch mit dem Instrument der Amtssignatur sichergestellt werden, dass ein ausreichendes (und mit der herkömmlichen Unterschrift vergleichbares) Niveau der Identifizierbarkeit und Authentifizierbarkeit (somit auch der Fälschungssicherheit) von automationsunterstützt erstellten Erledigungen erreicht wird. Dass ein solches im Arbeitslosenversicherungsrecht – etwa auf Grund allfälliger materienspezifischer Besonderheiten – nicht notwendig wäre, ist für den VfGH nicht erkennbar und auch im Verfahren nicht behauptet worden. Es bestehen somit keine Anhaltspunkte dafür, dass besondere Umstände oder der Regelungszusammenhang eine Abweichung von den Erfordernissen des § 18 Abs 4 AVG rechtfertigen würden. Die angefochtene Bestimmung beinhaltet daher keine für die Erlassung von Bescheiden nach dem AlVG unerlässliche und somit keine iSd Art 11 Abs2 B-VG zur Regelung des Gegenstandes erforderliche abweichende Regelung.

Der VwGH hat der Revision im fortgesetzten Verfahren (VwGH 18.4.2023, Ra 2021/08/0043) Folge gegeben. Der Revisionsfall ist als Anlassfall nach der durch das aufhebende Erk des VfGH „bereinigten Rechtslage“ zu beurteilen. Folglich ist die Frage der Bescheidqualität der Erledigung des AMS vom 22.9.2020 unter Anwendung von § 18 AVG und unter Außerachtlassung der (aufgehobenen) abweichenden Regelung des § 47 Abs 1 AlVG zu beurteilen. Im Revisionsfall ist erwiesen, dass die an den Revisionswerber ergangene Ausfertigung der genannten Erledigung des AMS weder eine Amtssignatur noch eine Unterschrift der/des Genehmigenden oder eine Beglaubigung der Kanzlei aufweist. Da somit keine dem § 18 Abs 4 AVG entsprechende Ausfertigung der angefochtenen Erledigung vorliegt, ist der von der belangten Behörde intendierte Bescheid als nicht erlassen anzusehen. Der VwGH hat daher das angefochtene Erk des BVwG dahingehend abgeändert, dass die Beschwerde gegen die Erledigung des AMS zurückgewiesen wird.

Anmerkung der Bearbeiterin:

Die Verfassungswidrigkeit des § 47 Abs 1 fünfter Satz AlVG führt dazu, dass das BVwG nun alle am 9.3.2023 anhängigen Beschwerden gegen Bescheide mit fehlender Amtssignatur mit Beschluss als unzulässig zurückweist. Da der Beschluss an die Stelle der Beschwerdevorentscheidung tritt, ist eine Aufhebung derselben auch nicht erforderlich. Das AMS müsste in allen anhängigen Verfahren neue Bescheide ausstellen, gegen die eine neuerliche Beschwerde eingebracht werden muss.245