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Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bei gleichzeitiger Karenz der Eltern für zwei verschiedene Kinder

KRISZTINAJUHASZ

§ 15 Abs 1a MSchG ist dahingehend auszulegen, dass er nur die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz für dasselbe Kind erfasst. Ein Anhaltspunkt für die Ausweitung dieser Regelung auf die gleichzeitige Karenz für verschiedene Kinder ist im Gesetz nicht vorgesehen.

SACHVERHALT

Die Kl lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Töchtern M*, geboren am 29.11.2018, sowie F*, geboren am 1.3.2020, und S*, geboren am 10.2.2021, in Deutschland. Sie ist in Österreich, ihr Ehemann in Deutschland unselbständig beschäftigt. Anlässlich der Geburt ihrer Tochter M* traf die Kl mit ihrem AG eine Karenzvereinbarung bis zum 28.11.2020. Ihr Gatte nahm für das Kind M* von 24.2. bis 15.7.2020 deutsche Elternzeit in Anspruch. Während der Karenz für M* wurde die Kl mit F* schwanger. Sie war ab 4.10.2019 in Mutterschutz und bezog bis 26.4.2020 das Wochengeld. Aufgrund der Geburt von F* vereinbarte die Kl mit ihrem AG eine Karenz von 27.4.2020 bis 28.2.2022 und beantragte das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für die Zeit von 26.4.2020 bis 28.2.2021.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die bekl Österreichische Gesundheitskasse lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass sich die 56Kl entgegen §§ 15 Abs 1a, 15a Abs 2 MSchG mehr als einen Monat (zwischen 27.4. und 15.7.2020) gleichzeitig mit ihrem Gatten in Karenz befunden habe. Da eine der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation iSd VO (EG) 883/2004 nur vorliege, wenn die Karenz den Bestimmungen des MSchG entspreche, sei Österreich für die Gewährung von Familienleistungen nicht zuständig.

Mit ihrer dagegen gerichteten Klage begehrte die Kl das Kinderbetreuungsgeld für F* und brachte vor, dass es zwar richtig sei, dass nach der E des OGH zu 10ObS81/20i&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">10 ObS 81/20i vom 28.7.2020 keine gleichgestellte Situation iSd § 24 Abs 3 KBGG iVm VO (EG) 883/2004 gegeben sei, wenn sich die Eltern gleichzeitig in verschiedenen Staaten betreffend dasselbe Kind in Karenz befinden würden. Dieser Fall liege hier jedoch nicht vor, weil der Kindesvater nach der Geburt von M* und sie nach der Geburt von F* Karenz in Anspruch genommen hätten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht sprach hingegen aus, dass das Klagebegehren für den gesamten begehrten Zeitraum dem Grunde nach zu Recht bestehe und verpflichtete die Bekl, eine vorläufige Zahlung zu leisten. Zudem ließ es die Revision zu, weil sich der OGH mit der Frage der Zulässigkeit der gleichzeitigen Karenz für unterschiedliche Kinder bislang noch nicht befasst habe.

Der OGH sah die Revision der Bekl als nicht berechtigt an, da § 15 Abs 1a MSchG nur die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz für dasselbe Kind erfasst.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

In der Revision argumentiert die Beklagte, dass der Wortlaut des § 15 Abs 1a MSchG eindeutig sei […]: Eine gleichzeitige Karenz sei nur im Zuge des erstmaligen Wechsels der Bezugsperson und nur für einen Zeitraum von einem Monat zulässig (§ 15a Abs 2 MSchG), was unstrittig nicht erfüllt sei. […] Ab dem Zeitpunkt, ab dem hier die gleichzeitige Karenz die Dauer von einen Monat überschritten habe, sei sie somit nicht mehr subsidiär leistungszuständig. Der Klägerin stehe (ab 27.4.2020) nur für 35 Tage eine Ausgleichszahlung zu. Da dieser Zeitraum die Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG unterschreite, bestehe letztlich kein Anspruch nach dem KBGG.

Dazu ist auszuführen:

1. Im Verfahren ist unstrittig, dass die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ in Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 (indirekt auch die allgemeine Regelung in Art 11 Abs 2 VO [EG] 883/2004) auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach die nationale Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ sowie des Begriffs der „einer Beschäftigung gleichgestellten Situation“ in § 24 Abs 2 und 3 KBGG (RS0130043RS0130043 [T9]). […].

2. Der Beklagten ist zuzustimmen, dass nach § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat nicht zulässig ist (10ObS115/16h&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">10 ObS 115/16h; 10ObS148/14h&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True" target="_blank">10 ObS 148/14h […]). Ihr ist auch darin zu folgen, dass § 15 Abs 1a MSchG isoliert betrachtet nur auf eine gleichzeitige Inanspruchnahme „von Karenz“ abstellt, ohne klarzustellen, ob damit die Karenz für dasselbe oder auch für verschiedene Kinder gemeint ist. Der (äußerste) Wortsinn der Bestimmung lässt die Auslegung der Beklagten zwar zu. Sowohl eine systematische Betrachtung als auch ein Blick auf die historische Entwicklung der Bestimmung(en) sprechen jedoch dagegen:

2.1. Wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat, ist die Parallelbestimmung des § 2 Abs 1 VKG eindeutig: In dessen erstem Halbsatz ist davon die Rede, dass dem Arbeitnehmer auf sein Verlangen für „sein Kind“ Karenz zu gewähren ist, sofern er mit „dem Kind“ im gemeinsamen Haushalt lebt. Wenn im folgenden (zweiten) Halbsatz sodann eine gleichzeitige Inanspruchnahme „von Karenz“ durch beide Elternteile ausgeschlossen wird, ist klar, dass damit die unmittelbar zuvor angesprochene Karenz für dieses – und nicht für ein anderes – Kind gemeint ist (Ercher/Stech in Ercher/Stech/Langer, MSchG und VKG § 2 VKG Rz 13).

2.2. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Regelung des § 15 Abs 1a MSchG nicht unabhängig von § 2 Abs 1 VKG betrachtet werden kann.

2.2.1. Denn Fragen einer gleichzeitigen Karenz beider Eltern stellten sich erst mit der Möglichkeit einer Väterkarenz. […]

2.2.2. Der letzte Satz des § 2 Abs 1 VKG (idF BGBl 1989/651BGBl 1989/651) wurde zwar mit der Novelle BGBl I 1999/153BGBl I 1999/153 gestrichen, unter einem aber in § 2 Abs 1 Z 1 VKG klargestellt, dass die Eltern nicht gleichzeitig Karenz in Anspruch nehmen können. […]

2.2.3. Der nunmehrige § 15 Abs 1a MSchG (eingefügt durch die Novelle BGBl I 2004/123BGBl I 2004/123) als auch der zweite Halbsatz des § 2 Abs 1 VKG (geändert mit der Novelle BGBl I 2004/124BGBl I 2004/124) gehen auf Initiativanträge […] zurück. […] Durch § 15 Abs 1a MSchG sollte daher nur der – nach dem Standpunkt Österreichs – ohnehin bereits geltende Grundsatz der nicht gleichzeitigen Inanspruchnahme der Karenz durch beide Eltern auch in § 15 MSchG ausdrücklich normiert und somit eine inhaltliche Angleichung von § 2 VKG und § 15 MSchG vorgenommen werden. […]

2.2.4. […] Angesicht dessen sind die Ausführungen des Berufungsgerichts zutreffend, dass sich § 15 Abs 1a MSchG ebenso wie § 2 Abs 1 VKG nur auf die Karenz für dasselbe Kind bezieht.

2.3. Die Argumentation der Beklagten würde im – durchaus realistischen – Fall von getrennt lebenden Eltern, die jeweils ein Kind im eigenen Haushalt betreuen, dazu führen, dass nur für ein Kind Karenz in 57Anspruch genommen werden könnte und das andere unbetreut bliebe. Dies würde nicht der Intention des § 15 MSchG bzw § 2 VKG entsprechen, primär die persönliche Betreuung des Kindes zu gewährleisten (vgl dazu Ercher/Stech in Ercher/Stech/Langer, MSchG und VKG § 15 MSchG Rz 6 und § 2 VKG Rz 6).

3. Als Ergebnis folgt daher: § 15 Abs 1a MSchG ist dahin auszulegen, dass er nur die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz für dasselbe Kind erfasst. […]

ERLÄUTERUNG

Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Frage, ob Österreich für die Zahlung einer Ausgleichszahlung zum Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld nach den Regeln der VO 883/2004 als nachrangiger Staat zuständig ist. Voraussetzung dafür ist, dass die Antragstellerin eine „Beschäftigung“ in Österreich ausübt. Zeiten der Karenz nach MSchG bzw VKG gelten gem § 24 Abs 2 und 3 KBGG als mit einer Beschäftigung gleichgestellte Zeiten.

Fraglich war nun, ob die Situation der Antragstellerin einer Beschäftigung gleichzustellen ist, weil das MSchG die gleichzeitige Inanspruchnahme einer Karenz für einen längeren Zeitraum als einen Monat explizit ausschließt. Im vorliegenden Fall befand sich der Kindesvater (für Tochter M*) und die Kl (für Tochter F*) zwar gleichzeitig, aber für unterschiedliche Kinder in Karenz.

Die Argumentation der Bekl, wonach die gleichzeitige Karenz der Eltern für unterschiedliche Kinder den Bestimmungen des MSchG widerspricht, wurde vom OGH nicht gefolgt. Es ist zwar richtig, dass nach § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG bzw § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat nicht zulässig ist, sowie dass § 15 Abs 1a MSchG lediglich auf eine gleichzeitige Inanspruchnahme der Karenz abstellt, ohne klarzustellen, ob damit die Karenz für dasselbe oder auch für verschiedene Kinder gemeint ist.

Nach Ansicht des OGH dürfen dennoch systematische und historische Ansätze nicht außer Acht gelassen werden:

In der Stammfassung des VKG (BGBl 1989/651BGBl 1989/651) hatten Väter nur dann und soweit Anspruch auf Karenz, wenn der Mutter ein solcher Anspruch zukam (§ 2 Abs 1 Z 1 VKG) und die Mutter diesen nicht in Anspruch nahm (§ 2 Abs 1 letzter Satz VKG). Väter hatten somit bloß einen vom Anspruch der Mutter abgeleiteten Anspruch und nur für jene Zeiträume, für die die Mutter verzichtet hatte. Somit war eine gleichzeitige Inanspruchnahme der Karenz durch beide Eltern unmöglich. Mit der Novellierung (BGBl I 1999/153BGBl I 1999/153) sollte der damals in Geltung stehenden RL 96/34/EG entsprochen werden und ein eigenständiger Anspruch der Väter geschaffen werden. Da die Europäische Kommission – trotz Änderungen durch die Novelle BGBl I 1999/153BGBl I 1999/153 – das Bestehen eines individuellen Anspruchs der Väter auf Karenz immer noch bezweifelte, leitete sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich ein. Somit wurde der nunmehrige § 15 Abs 1a MSchG (Novelle BGBl I 2004/123BGBl I 2004/123) eingefügt und der zweite Halbsatz des § 2 Abs 1 VKG (Novelle BGBl I 2004/124BGBl I 2004/124) geändert.

Aus dieser historischen Entwicklung der gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich für den OGH klar, dass der Karenzanspruch des Vaters von jenem der Mutter unabhängig ist. Der Umstand, dass die Kl und ihr Gatte für unterschiedliche Kinder gleichzeitig Karenz in Anspruch genommen haben, widerspricht daher nicht § 15 Abs 1a MSchG. Darauf aufbauend liegt somit die notwendige lückenlose Aneinanderreihung von gleichgestellten Zeiten vor, was zu einer subsidiären Zuständigkeit Österreichs führt.