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Keine Entziehung des Kinderbetreuungsgeldes bei Erwerbsunterbrechung über 2. Geburtstag hinaus und Wohnortwechsel ins EU-Ausland

JOHANNARACHBAUER
§§ 2, 24 Abs 2 und 3, 28 KBGG; Art 7 und 11 VO (EG) 883/2004; Art 60 Abs 1 S 2 DVO (EG) 987/2009

Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit auch nach Ablauf des in § 24 Abs 2 und 3 KBGG genannten Zeitpunkts des Ablaufs des 2. Lebensjahres des Kindes auszugehen, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend unterbrochen wird, dem Grund nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt.

Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, dürfen gemäß Art 7 VO (EG) 883/2004 nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Art 7 VO (EG) 883/2004 betrifft § 24 Abs 3 KBGG, insoweit diese Regelung als Kollisionsregelung diskriminierende Anspruchsvoraussetzungen schafft, die zum Entzug des Kinderbetreuungsgeldes wegen des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat führen. § 24 Abs 3 KBGG hat insofern unangewendet zu bleiben, als er gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstößt.

Die Familienbetrachtungsweise stellt lediglich im Ergebnis eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung iSd Art 5 VO (EG) 883/2004 dar. Die Anwendung der „Familienbetrachtungsweise“ kann daher nicht eine internationale Zuständigkeit begründen: Vielmehr hat umgekehrt der – zunächst zu bestimmende – zuständige Träger die Familienbetrachtungsweise anzuwenden.404

SACHVERHALT

Die Kl hatte seit 2016 ihren Hauptwohnsitz in Vorarlberg, wo sie auch gemeldet und bis vor der Geburt ihres Sohnes unselbständig erwerbstätig war. Anlässlich der Geburt ihres Sohnes am 29.3.2018 beantragte die Kl pauschales Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 29.3.2018 bis 26.7.2020. Mit ihrem AG vereinbarte die Kl eine Karenz von 29.3.2018 bis 28.9.2020. Nach Ende des Wochengeldbezugs bezog die Kl ab 26.5.2018 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von € 14,53 täglich bis 31.3.2020. Ab Anfang des Jahres 2020 beabsichtigte die Kl, nach Tschechien zurückzukehren und sich eine Arbeit in einem grenznahen Ort in Österreich zu suchen, welche sie im Mai 2020 antrat. Am 27.5.2020 wurde das alte, karenzierte Dienstverhältnis der Kl einvernehmlich aufgelöst. Der Familienbeihilfenbezug der Kl endete am 30.6.2020.

Mit Bescheid vom 27.5.2020 wies die Bekl den Antrag auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 1.4. bis 26.7.2020 ab, widerrief die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 1.10.2019 bis 31.3.2020 und verpflichtete die Kl zum Rückersatz.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts in weiten Teilen, gab der Berufung aber insofern statt, als es hinsichtlich des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 1.7. bis 26.7.2020 das Urteil des Erstgerichts aufhob und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an dieses zurückverwies.

In ihrer außerordentlichen Revision vertritt die Bekl im Wesentlichen, dass eine „gleichgestellte“ Zeit nach dem zweiten Geburtstag des Kindes gem § 24 Abs 3 KBGG nicht vorliege und Tschechien prioritär zuständig sei. Inhaltlich ist insb noch der Zeitraum von 1.4. bis 30.6.2020 strittig.

Der OGH hält die Revision für zulässig, jedoch nicht für berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

2.1 Seit der vom Berufungsgericht ohnehin zitierten Entscheidung 10 ObS 117/14z, in der ein Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld zu beurteilen war, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit auch nach Ablauf des in § 24 Abs 2 und 3 KBGG genannten Zeitpunkts des Ablaufs des zweiten Lebensjahres des Kindes dann auszugehen ist, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grund nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt […]. Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses – die ja zwei Jahre übersteigen kann – ist als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht (10 ObS 117/14z).

2.2 Daran hielt der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 10 ObS 135/16z SSV-NF 31/15 zu einer Anschlusskarenz nach § 17 Abs 1 BAGS-Kollektivvertrag und 10 ObS 96/17s– hier auch unter Bezugnahme auf § 24 Abs 3 KBGG – zu einer Anschlusskarenz nach § 29 des Kollektivvertrags der oberösterreichischen Ordensspitäler fest. […]

2.3 […] Auch eine „freiwillige“ Verlängerung der gesetzlichen Karenz unter Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses nach der Geburt des ersten Kindes um neun Tage ist für den Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit im Sinn des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen (10 ObS 104/21y).

[…]

3.2 Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin durch einen Umzug in die Tschechische Republik zur Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f VO (EG) 883/2004 würde, wodurch der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 hier […] überhaupt erst eröffnet würde, stellt die Revisionswerberin nicht in Frage.

3.3 […] Der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto reicht […] über das zweite Lebensjahr des Sohnes bis zum 26.7.2020 hinaus. In dieser Zeit bestand das Dienstverhältnis der Klägerin zu ihrem Dienstgeber in Vorarlberg infolge der Karenzvereinbarung aufrecht fort. Die Klägerin war gemäß § 28 KBGG bzw § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG für die Dauer des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld (§ 28 Abs 3 KBGG) in der Krankenversicherung teilversichert […]. Die Dauer des möglichen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld während eines aufrechten Dienstverhältnisses ist nach der dargestellten Rechtsprechung als ein einheitliches Sachverhaltselement anzusehen, das für eine durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit spricht. Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 soll kurzfristige Änderungen der Zuständigkeit bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit (zB Krankengeld) gerade verhindern (10 ObS 114/17z). Wie ausgeführt ist die Karenz als vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit an sich anzusehen (10 ObS 135/16z). Für die Beurteilung der kollisionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung pauschalen Kinderbetreuungsgeldes ist daher hier bis zur (vorzeitigen) einvernehmlichen Beendigung dieses Dienstverhältnisses am 27.5.2020 – auch über den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes hinaus – von einer […] Beschäftigung gleichgestellten Zeit auszugehen.

3.4.1 Bereits ab Mai 2020 übte die Klägerin bei einem neuen Dienstgeber in Österreich wiederum 405eine unselbständige Erwerbstätigkeit aus, sodass sich die internationale Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für die weitere Dauer dieser Beschäftigung aus Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 ergibt. […]

3.4.2 Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 10 ObS 96/17sausgeführt, dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, gemäß Art 7 VO (EG) 883/2004 nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. […] Art 7 VO (EG) 883/2004 betrifft § 24 Abs 2 KBGG, insoweit diese Regelung als Kollisionsregelung diskriminierende Anspruchsvoraussetzungen schafft, die zum Entzug des Kinderbetreuungsgeldes wegen des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat führen. Nichts anderes kann für § 24 Abs 3 KBGG gelten, weil der innerstaatliche Gesetzgeber zwar den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 definieren kann, nicht jedoch durch eine solche Definition die zwingenden Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 verändern kann (vgl nur 10 ObS 101/18b SSV-NF 33/8 mwH). Zu diesen Zuständigkeitsregeln zählt Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 ebenso wie Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Wie § 24 Abs 2 KBGG hat daher auch § 24 Abs 3 KBGG insofern unangewendet zu bleiben, als er gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstößt […].

4.1 Die Revisionswerberin argumentiert, dass sich der Wechsel der internationalen Zuständigkeit daraus ergebe, dass der Vater des Kindes in Tschechien beschäftigt sei und dass das Kind seinen Wohnsitz ab 1.3.2020 in Tschechien gehabt habe. […] Selbst wenn man im Sinn der Behauptungen der Revisionswerberin davon ausginge, dass auch das Kind mit der Klägerin bereits ab 1.3.2020 nach Tschechien übersiedelt wäre, hätte dies wie dargelegt wegen Art 7 VO (EG) 883/2004 keine andere rechtliche Beurteilung zur Folge.

4.2 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt kann die Beklagte die von ihr behauptete nachrangige Zuständigkeit auch nicht auf die sogenannte „Familienbetrachtungsweise“ (Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO [EG] 987/2009) stützen. Diese stellt nämlich lediglich im Ergebnis eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung im Sinn des Art 5 VO (EG) 883/2004 dar (10 ObS 148/14h[…]). Die Anwendung der „Familienbetrachtungsweise“ kann daher nicht eine internationale Zuständigkeit begründen: Vielmehr hat umgekehrt der – zunächst zu bestimmende – zuständige Träger die Familienbetrachtungsweise anzuwenden, was hier aber, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausführt, für die zur Gewährung von Familienleistungen zuständige Beklagte nicht erforderlich ist.“

ERLÄUTERUNG

Hauptgegenstand des Verfahrens ist die internationale Zuständigkeit Österreichs für die Leistung von Kinderbetreuungsgeld bei einer Unterbrechung der Erwerbstätigkeit über das 2. Lebensjahr des Kindes hinaus und gleichzeitigem Wohnortwechsel ins EU-Ausland.

Liegt – wie im vorliegenden Fall ab dem Umzug der Kl nach Tschechien – ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor und ist daher die VO (EG) 883/2004 anzuwenden, so ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art 11 VO (EG) 883/2004 festzustellen. Vorrangig ist gem Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 nach dem Beschäftigungsortprinzip jener Mitgliedstaat zuständig, in dem eine Person eine Beschäftigung ausübt. Gem Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung ausüben. Die VO (EG) 883/2004 verweist bezüglich der Definition des Begriffs „Beschäftigung“ sowie bezüglich der mit einer Beschäftigung „gleichgestellten Zeiten“ auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten (Art 1 lit a der VO 883/2004). § 24 Abs 2 KBGG stellt nach der Rsp des OGH eine Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO 883/2004 sowohl für das pauschale als auch für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld dar (RS0130043). Gem § 24 Abs 2 KBGG kann die Unterbrechung einer Erwerbstätigkeit während Inanspruchnahme einer Karenz maximal bis zum Ablauf des 2. Lebensjahres des Kindes einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt sein. Auch § 24 Abs 3 KBGG sieht vor, dass eine gleichgestellte Situation iSd Koordinierungsverordnung für alle Eltern spätestens mit Ablauf des 2. Lebensjahres des Kindes endet.

Zuerst greift der OGH für die Feststellung, dass die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Karenz bei Vorliegen einer Teilversicherung nach nationalem Recht auch über das vollendete 2. Lebensjahr des Kindes hinaus eine gleichgestellte Situation iSd Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 darstellt, auf seine reichhaltige Judikatur zu ähnlichen Sachverhalten zurück (die hier nur teilweise zitiert wurde).

Des Weiteren argumentiert der OGH mit der Unionsrechtswidrigkeit der Abs 2 und 3 des § 24 KBGG in diesem Zusammenhang: Deren Anwendung auf den vorliegenden Fall würde nämlich zu der diskriminierenden Situation führen, dass der Kl das Kinderbetreuungsgeld nur aufgrund ihres Umzugs nach Tschechien entzogen würde. Denn nur durch die Verlegung des Wohnorts ins EU-Ausland entsteht überhaupt erst ein grenzüberschreitender Sachverhalt und werden die Abs 2 und 3 des § 24 KBGG zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats relevant. Bei einem rein innerösterreichischen Sachverhalt stellt sich die Frage der Erwerbstätigkeit oder einer gleichgestellten Situation nicht, da dies keine 406Voraussetzung für das pauschale Kinderbetreuungsgeld ist. Somit stehen die Abs 2 und 3 des § 24 KBGG im Widerspruch zu Art 7 VO (EG) 883/2004, der es verbietet, Geldleistungen aufgrund des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat zu entziehen, und haben daher insofern unangewendet zu bleiben, als sie gegen zwingende unionsrechtliche Zuständigkeitsregelungen verstoßen.

Die Bekl machte ferner geltend, dass es aufgrund der Familienbetrachtungsweise durch den Umzug nach Tschechien zu einem Wechsel der Zuständigkeit gekommen sei. Der OGH hält dieses Argument für rechtlich nicht stichhaltig. Zum einen gilt auch hier, dass Art 7 VO (EG) 883/2004 dem Entzug einer Geldleistung nur wegen des Wohnorts (auch eines Familienangehörigen der berechtigten Person) in einem anderen Mitgliedstaat entgegensteht. Zum anderen stellt der OGH fest, dass die von der Bekl bemühte Familienbetrachtungsweise (Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009) keine internationale Zuständigkeit begründen kann. Es handelt sich dabei viel mehr um eine spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung iSd Art 5 VO (EG) 883/2004. Der OGH geht hier davon aus, dass die internationale Zuständigkeit nach Art 11 VO (EG) 883/2004 zuerst geklärt werden muss und in der Folge der zuständige Mitgliedstaat die Familienbetrachtungsweise anzuwenden hat.

Zusammenfassend beinhaltet die vorliegende OGH-E auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden Kinderbetreuungsgeldes interessante Ausführungen zu den einer Beschäftigung gleichgestellten Situationen, zur Aufhebung der Wohnortklausel diesbezüglich und zur Familienbetrachtungsweise.