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Notwendige Feststellungen für eine Verweisung im Rahmen des Tätigkeitsschutzes

ALEXANDERDE BRITO

Der über 60-jährige Kl hat einen Lehrabschluss als Elektroinstallateur, zusätzlich absolvierte er eine Ausbildung zum Industrieelektrotechniker, die er ebenfalls mit einer Lehrabschlussprüfung beendete. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag war der Kl 71 Monate selbständig und 76 Monate unselbständig erwerbstätig. So übte er von Juni 2005 bis März 2012 das Gewerbe „Mechatronik für Elektromaschinenbau und Automatisierung eingeschränkt auf Schaltschrankbau sowie die Integration von Prozessleitsystemen, Bus- und Netzwerkaufbauten“ aus. Er war in dieser Zeit als Einzelunternehmer tätig. Von Mai 2012 bis Mai 2019 arbeitete er als Facharbeiter/Elektroinstallateur. Von Juni 2012 bis Mai 2019 arbeitete er hauptsächlich im Bereich Steuerungstechnik, Schaltschrankbau und EDV-Verkabelung. Die vom Kl in den letzten 15 Jahren vor seinem Antrag ausgeübten Arbeiten stellen 398allesamt Facharbeitertätigkeiten eines Elektroinstallateurs dar. Die ausgeübten Arbeiten sind mit seinem Leistungskalkül nicht mehr vereinbar. Allerdings sind ihm noch Tätigkeiten eines Elektroinstallateurs im Bereich Elektrogerätebau, Fertigungsprüfung oder Prüffeldtechnik möglich. Darüber hinaus ist der Kl noch in der Lage, Teiltätigkeiten (die er innerhalb des genannten Zeitraums während seiner selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit im Ausmaß von zumindest 20 % verrichtete), wie etwa Messarbeiten unterschiedlicher Art, feine Verdrahtungsarbeiten, Lötarbeiten, Programmiertätigkeiten oder Schwachstrominstallationsarbeiten vorzunehmen.

Mit Bescheid vom 18.5.2021 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Kl auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Da Invalidität in absehbarer Zeit nicht eintreten werde, bestehe auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.

Das Erstgericht wies die gegen den negativen Bescheid erhobene Klage ab. Ein Tätigkeitsschutz sei dem Kl zuzuerkennen, doch könne er noch Teiltätigkeiten von zumindest 20 % seiner bisherigen Tätigkeit auch weiterhin verrichten. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge.

Die außerordentliche Revision des Kl war zulässig und wegen des Fehlens erforderlicher Feststellungen iSd Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Als invalid gilt gem § 255 Abs 4 S 1 ASVG auch der (die) Versicherte, der (die) das 60. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des Berufsschutzes. § 255 Abs 4 ASVG stellt nicht auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz ab, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt.

Gem § 255 Abs 4 S 2 ASVG sind „zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit“ zu berücksichtigen. Der Begriff der zumutbaren Änderung ist nach der Rsp eng zu interpretieren. Eine Verweisung (bzw Änderung der Tätigkeit) wird dann als zumutbar angesehen, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde, keine gravierende Lohneinbuße damit verbunden ist und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist. Voraussetzung für die Verweisbarkeit auf eine (auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte) Teiltätigkeit der bisherigen Tätigkeit ist, dass dieser Teiltätigkeit weder nach der Gewichtung im Arbeitsverlauf noch nach ihrem zeitlichen Umfang nur eine untergeordnete Bedeutung, in der bisher ausgeübten „einen“ Tätigkeit zugekommen ist.

Der Kl führte in seiner Revision aus, dass den einzelnen Teiltätigkeiten, die nur in Summe zumindest 20 % der bisherigen Tätigkeit ausmachten, zeitlich nur untergeordnete Bedeutung zukamen. Damit zeigt der Kl zutreffend auf, dass die Feststellungen für die Prüfung, ob er auf die genannten Tätigkeiten verwiesen werden kann, nicht ausreichen. Abgesehen davon, dass sich aus den getroffenen Feststellungen die Gewichtung der Teiltätigkeiten im Arbeitsablauf nicht beurteilen lässt, bleibt überdies offen, ob es sich um eine (einzige, als solche am Arbeitsmarkt nachgefragte) Verweisungstätigkeit (bestehend aus den beispielhaft aufgezählten Verrichtungen) oder um jeweils einzelne, voneinander zu trennende Teiltätigkeiten handelt. Im ersten Fall bliebe der genaue (bislang ja nur beispielhaft festgestellte) Tätigkeitsinhalt der Verweisungstätigkeit offen. Im zweiten Fall wäre nicht klar, welchen zeitlichen Umfang die jeweilige Verweisungstätigkeit im Vergleich zur bisherigen „einen“ Tätigkeit gehabt hätte. In beiden Fällen bliebe die Feststellungsgrundlage mangelhaft, weil wesentliche Tatsachen nicht festgestellt wurden. Überdies ist auch nicht auf den tatsächlichen Arbeitsplatz des Kl, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt abzustellen, was in den getroffenen Feststellungen ebenso wenig abgebildet wird.

Der Revisionswerber macht überdies zutreffend geltend, dass auch Feststellungen zur Lohneinbuße fehlen. Eine gravierende Lohneinbuße kann ein Kriterium für die Unzumutbarkeit einer Verweisung darstellen. Die Prüfung der Frage der Zumutbarkeit einer solchen Lohneinbuße hat auch in diesem Fall grundsätzlich abstrakt zu erfolgen. Es ist daher nicht vom individuellen früheren Verdienst des Versicherten bei seinem konkreten DG, sondern vom Durchschnittsverdienst gleichartig Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt auszugehen. Die getroffenen Feststellungen betreffen nur das vom Kl (offenbar individuell) erzielbare Einkommen in den Verweisungsberufen (zum Teil im Vergleich zu dem einer gesunden Person), nicht aber die maßgeblichen Durchschnittsverdienste der bisher ausgeübten und einer Verweisungstätigkeit, anhand derer geprüft werden kann, ob mit einer Teiltätigkeit, auf die der Kl verwiesen werden soll, eine gravierende Lohneinbuße verbunden wäre.

Außerdem scheiden auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG Verweisungen auf Teiltätigkeiten, die den Berufsschutz nicht erhalten können, aus. Zur Prüfung der Frage, ob eine Teiltätigkeit den Berufsschutz erhalten kann, fordert die Judikatur genaue Feststellungen dazu, inwieweit in den Verweisungsberufen das berufliche Wissen verwertet werden kann, weil die auszuführenden Tätigkeiten über bloß untergeordnete, sich qualitativ nicht hervorhebende Teiltätigkeiten hinausgehen.399

In der Revision nicht gerügt, aber im Zuge der allseitigen und umfassenden rechtlichen Prüfung aufzugreifen, ist überdies, dass Feststellungen zu den Anforderungen der jeweiligen Verweisungstätigkeiten nicht getroffen wurden. Zur Prüfung, ob eine Verweisungstätigkeit mit dem verbliebenen Leistungskalkül im Einklang steht, sind die mit der Verweisungstätigkeit verbundenen Anforderungen, wenn sie nicht offenkundig sind, in möglichst detaillierter Form festzustellen. Die vom Erstgericht in die Feststellungen aufgenommene Formulierung, der Kl könne eine Tätigkeit noch oder nicht mehr verrichten, genügt diesen Anforderungen nicht. Soweit die Bekl in der Revisionsbeantwortung darauf verweist, dass dem Kl nach dem festgestellten Sachverhalt noch Tätigkeiten eines Elektroinstallateurs im Bereich Elektrogerätebau, Fertigungsprüfung oder Prüffeldtechnik möglich seien und der Kl daher auf diese Tätigkeit verwiesen werden könne, ergibt sich aus den Feststellungen nicht, welchen am Arbeitsmarkt typischerweise nachgefragten Inhalt diese Tätigkeiten haben, welche Bedeutung ihr im Rahmen der bisherigen Tätigkeit des Kl zukamen und welche Anforderungen damit verbunden sind. Auch dafür sind ergänzende Feststellungen notwendig.