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Berücksichtigung eines deutschen Arbeitsunfalls für eine Gesamtrente

FABIANGAMPER

Die Berücksichtigung „fremder“ Versicherungsfälle verhindert eine Diskriminierung bloß aufgrund der Tatsache, dass eine Person die DN-Freizügigkeit in Anspruch genommen hat und einen Arbeitsunfall im Rahmen eines nicht dem österreichischen ASVG unterliegenden Versicherungsverhältnisses erlitt.

SACHVERHALT

Der Kl erlitt am 16.5.2014 einen Arbeitsunfall in Deutschland. Aus diesem Unfall resultierte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 %. Am 11.3.2019 erlitt er in Österreich einen weiteren Arbeitsunfall, wobei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % bis 1.3.2020, von 10 % von 2.3. bis 31.5.2020 und ab 1.6.2020 von 5 % auf Dauer auf diesen Unfall zurückzuführen ist. In Umsetzung der VO 883/2004 wurde dem Kl vom 2.3. bis 31.5.2020 eine Stützrente iHv 10 % und ab 1.6.2020 eine Dauerrente iHv 5 % gewährt. Es kam zu einer weiteren Verschlechterung der Beschwerden und Einschränkungen. Ab 14.2.2021 beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund des Arbeitsunfalls vom 11.3.2019 15 %.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Der Kl beantragte im Februar 2021 eine Erhöhung der Dauerrente und die Zuerkennung einer Gesamtrente unter Berücksichtigung des deutschen Arbeitsunfalls. Diese Anträge wurden von der Bekl mit Bescheid vom 24.2.2021 abgelehnt, da einerseits keine wesentliche Änderung eingetreten sei und es sich bei dem Unfall in Deutschland um keinen Versicherungsfall nach dem ASVG handle.

Gegen diesen Bescheid brachte der Kl die Klage ein und das Erstgericht verpflichtete die Bekl zur Leistung einer Dauerrente iHv 15 %, wies jedoch die Gewährung einer Gesamtrente nach § 210 Abs 1 ASVG ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl Folge und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Frühere Arbeitsunfälle in anderen Mitgliedstaaten seien zu berücksichtigen, als hätten sie sich nach den eigenen Rechtsvorschriften oder auf dem eigenen Staatsgebiet ereignet.396

Dagegen richtet sich der Rekurs der Bekl, mit dem sie die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt. Der Rekurs ist zwar zulässig, jedoch nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

[…]

„[13] 1.1. Nach § 210 Abs 1 ASVG ist, wenn ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt wird und die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit aus Versicherungsfällen nach dem ASVG mindestens 20 % erreicht, spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des letzten Versicherungsfalls an eine Gesamtrente festzustellen. […]

[14] 1.2. Eine solche Gesamtrente setzt mehrere Versicherungsfälle nach dem ASVG voraus (RS0123628). […]

[15] 1.3. Beim Arbeitsunfall des Klägers vom 11. März 2019 handelt es sich unstrittig um einen Versicherungsfall nach dem ASVG. Nach den Behauptungen der Beklagten erlitt der Kläger den (früheren) Arbeitsunfall am 16. Mai 2014 jedoch als in Deutschland Versicherter. Die Voraussetzungen des § 210 Abs 1 ASVG für die Gewährung einer Gesamtrente sind nach dem Wortlaut dieser Bestimmung somit nicht erfüllt.

[16] 2. Die Beklagte wendet sich im Rekurs gegen die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, nach dem der Arbeitsunfall vom 16. Mai 2014 aufgrund der Gleichstellungsregel des Art 5 lit b VO (EG) 883/2004 wie ein Versicherungsfall nach dem ASVG zu berücksichtigen sein könnte. […]

Personen, für die die VO (EG) 883/2004 gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 11 Abs 1 VO [EG] 883/2004). Eine Person, die – wie der Kläger – in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats (Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004). Dies gilt für Geldleistungen aus der Unfallversicherung nach Art 21 Abs 1 iVm Art 36 Abs 3 VO (EG) 883/2004 auch dann, wenn der Versicherte – wie der in Deutschland wohnhafte Kläger – in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnt; auch in diesem Fall richtet sich der Anspruch nach den für den zuständigen Träger geltenden Rechtsvorschriften (Art 21 Abs 1 VO [EG] 883/2004). […]

[19] 2.2.2. Die Frage, welche Leistungen dem Kläger zustehen, richtet sich somit ausschließlich nach österreichischem Recht. Damit gilt bei Arbeitsunfällen der Grundsatz, dass der aktuelle Versicherungsstaat für alle Leistungen einschließlich der Unfallrenten zuständig ist. Dabei ist es unerheblich, wie lange und wie knapp zuvor die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegolten haben […].

[20] 2.3. Bei der Anwendung österreichischen Rechts ist daher die Sachverhaltsgleichstellung nach der VO 883/2004 zu beachten. […]

Das Gebot der Tatbestandsgleichstellung nach Art 5 VO 883/2004 bedeutet, dass jeder Mitgliedstaat (bzw dessen zuständiger Träger) bei der Anwendung und Auslegung des eigenen Rechts der sozialen Sicherheit die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats verwirklichten Rechtstatbestände oder die in einem anderen Mitgliedstaat verwirklichten Sachverhalte berücksichtigt, als hätten sich diese nach den eigenen Rechtsvorschriften oder auf dem eigenen Staatsgebiet ereignet, sofern es sich um gleichartige Verhältnisse oder entsprechende Sachverhalte handelt. Wenn daher nach den nationalen Bestimmungen frühere Versicherungsfälle Einfluss auf die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, die Begründung eines Leistungsanspruchs oder die Leistungshöhe haben, müssen diese Arbeitsunfälle aus anderen Mitgliedstaaten – an sich uneingeschränkt […] – berücksichtigt werden […]. Dementsprechend sieht auch Art 39 lit a der Durchführungsverordnung VO 987/2009 vor, dass der zuständige Träger in den dort genannten Fällen den durch den früheren Arbeitsunfall verursachten Grad der Erwerbsminderung für die Begründung des Anspruchs und die Festsetzung des Leistungsbetrags nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften zu berücksichtigen hat. […]

[23] 2.3.3. Demgegenüber sieht Art 40 Abs 3 VO (EG) 883/2004 […] für nachträglich nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretene Versicherungsfälle eine Gleichstellung nur unter der Einschränkung vor, dass weder der (nach dem anwendbaren Recht zu beurteilende) frühere Arbeitsunfall einen Leistungsanspruch auslöste noch aufgrund des (nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats zu beurteilenden) späteren Arbeitsunfalls ein Leistungsanspruch besteht. Diese Regelung ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil es nicht um einen solchen nachträglich eingetretenen „fremden“ Versicherungsfall geht, macht aber deutlich, dass bei der Frage der Behandlung früherer Arbeitsunfälle im Umkehrschluss nicht zu prüfen ist, ob ein Leistungsanspruch für die einzelnen Versicherungsfälle nach dem jeweils anwendbaren Recht bestünde.

[24] 2.3.4. Der (frühere) Arbeitsunfall des Klägers vom 16. Mai 2014 ist daher grundsätzlich für die Begründung eines Leistungsanspruchs (mit) zu berücksichtigen, auch wenn der Kläger damals nach dem deutschen SGB VII versichert war. Dass § 210 Abs 1 ASVG (auch) beim früheren Arbeitsunfall voraussetzt, dass dieser dem ASVG unterlag, schadet aufgrund der Sachverhaltsgleichstellung nicht, wenn das aufgrund des damaligen Beschäftigungsorts des Klägers dem SGB VII unterlegene Dienstverhältnis – als anspruchsbegründender Sachverhalt – bei einem Beschäftigungsort im Inland (§ 3 ASVG) dem ASVG zu unterstellen gewesen wäre (aA Stockinger, SozSi 2019, 454). […]

Der zuständige Träger muss bei der Berechnung einer Geldleistung nach Art 21 VO (EG) 883/2004 Vorversicherungszeiten und Entgelte in anderen Mitgliedstaaten vielmehr grundsätzlich anerkennen. […] Die Sichtweise der Beklagten würde demgegenüber dazu führen, dass ausländische Versicherungsfälle, für die im Inland keine Beiträge gezahlt wurden, 397nicht berücksichtigt werden könnten, und würde damit letztlich gegen jegliche Gleichstellung nach Art 5 lit b VO (EG) 883/2004 sprechen, insbesondere auch gegen die – von der Beklagten aber befürwortete – Gewährung einer Stützrente nach § 210 Abs 3 ASVG. Eine solche Auslegung, die das Gleichstellungsgebot letztlich unanwendbar macht, verbietet sich jedoch.

[25] 2.3.6. Der Beklagten ist darin zuzustimmen, dass eine Entschädigungsverpflichtung des Mitgliedstaats, nach dessen Recht der frühere Versicherungsfall zu beurteilen war, für diesen Versicherungsfall in der VO (EG) 883/2004 nicht ausgeschlossen wird. Die von der Beklagten im Rekurs herangezogenen Regelungen im Pensionsversicherungsrecht sind im vorliegenden Fall allerdings nicht einschlägig. Der Frage, ob nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats ein Leistungsanspruch in der Unfallversicherung besteht, kann im Rahmen des Art 40 Abs 3 VO (EG) 883/2004 Bedeutung zukommen (oben Pkt 2.3.3.), der hier aber nicht zur Anwendung gelangt. Dass im Fall des Klägers aufgrund der Sachverhaltsgleichstellung gleichartige Leistungen zusammentreffen, was Gegenstand des Art 10 VO (EG) 883/2004 wäre, ist im Verfahren nicht hervorgekommen (der deutsche Träger verneinte einen auf § 56 dSGB VII gestützten Leistungsanspruch des Klägers für den Versicherungsunfall vom 16. Mai 2014). Die Frage, welchen Einfluss eine Entschädigungspflicht des anderen Mitgliedstaats für den gleichen Arbeitsunfall auf den hier strittigen österreichischen Anspruch hätte, stellt sich daher nicht. […]

[28] 3. Dem Berufungsgericht ist somit darin zu folgen, dass die aufgrund des Arbeitsunfalls vom 16. Mai 2014 verbliebene Minderung der Erwerbsfähigkeit dann bei der Bemessung einer Gesamtrente nach § 210 Abs 1 ASVG zu berücksichtigen ist, wenn sich dieser Arbeitsunfall im Rahmen einer Beschäftigung ereignete, die – wäre sie im Inland (§ 3 ASVG) ausgeübt worden – dem ASVG unterlegen wäre. Die dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegende Rechtsansicht ist somit nicht zu beanstanden. […]“

ERLÄUTERUNG

Die quantitativ bedeutendste Geldleistung der gesetzlichen UV ist die Versehrtenrente. Das ASVG kennt dabei nur einen einzigen Begriff der Versehrtenrente. Sie ist entweder als vorläufige Rente, Dauerrente oder Gesamtrente festzustellen. Hat ein Versicherter mehrere Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten nach dem ASVG erlitten und erreicht die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit zumindest 20 %, hat der Unfallversicherungsträger spätestens zwei Jahre nach Eintritt des letzten Versicherungsfalls eine Gesamtrente festzustellen. Die jährliche Versehrtenrente beträgt bei völlig Erwerbsunfähigen 66 2/3 % der Bemessungsgrundlage. Wird eine Gesamtrente gebildet, ist die Bemessungsgrundlage nach der höchsten für die einzelnen Versicherungsfälle in Betracht kommenden Grundlagen zu bilden.

Der § 210 Abs 1 ASVG sieht vor, dass eine Gesamtrente nur dann zu bilden ist, wenn die Gesamtminderung der Erwerbstätigkeit aus Versicherungsfällen nach diesem Bundesgesetz mindestens 20 % beträgt. Liegt daher ein Versicherungsfall nach dem ASVG und einer nach dem GSVG oder BSVG vor, besteht kein Anspruch auf eine Gesamtrente.

Beachtlich ist die E des OGH insb, da er ausgesprochen hat, dass auch Versicherungsfälle, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU eingetreten sind, und ein Versicherungsfall, der in den Anwendungsbereich des ASVG fällt, zu einer Gesamtrente führen können. Das Gleichstellungsgebot des Art 5 lit b VO 883/2004 bedingt, dass grundsätzlich Sachverhalte oder Ereignisse in Mitgliedstaaten vom Träger des zuständigen Staates so zu berücksichtigen sind, als wären sie in dessen Hoheitsgebiet eingetreten. Daher sind trotz des einschränkenden Wortlautes des § 210 ASVG die Versicherungsfälle, die in anderen Mitgliedstaaten eintreten, vom österreichischen Unfallversicherungsträger zu berücksichtigen, wenn sich der Arbeitsunfall bei einer Beschäftigung ereignete, die bei einer Ausübung in Österreich dem ASVG unterlegen wäre. Dadurch soll eine Diskriminierung von Personen verhindert werden, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch gemacht haben und dabei verunfallt sind.