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Mittelbare Diskriminierung durch gestaffelte Pensionsanpassung ist gerechtfertigt

PIA ANDREAZHANG
Art 157 AEUV; Art 5, 12 RL 2006/54/EG; § 711 Abs 1 ASVG
EuGH 5.5.2022, C-405/20, EB ua gegen BVAEB

Eine degressive Anpassung der Pensionshöhe, die ab einem bestimmten Betrag zur Gänze entfällt, stellt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, da vorwiegend Männer Pensionen über dem Schwellenwert beziehen. Sie ist aber aufgrund sozialpolitischer Ziele gerechtfertigt.

SACHVERHALT

Die drei männlichen Kl waren in Österreich als Bundesbeamte tätig und wurden 2000, 2006 bzw 2013 in den Ruhestand versetzt. Im Jahr 2017 beliefen sich ihre Bruttopensionen auf € 6.872,43, € 5.713,22 und € 4.676,48.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragten bei der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) eine Anpassung ihrer Pension ab dem 1.1.2018. Dies wurde für die beiden höheren Pensionen abgelehnt, da sie über dem Höchstbetrag von € 4.980,- monatlich lagen. Die niedrigste Pension wurde um rund 0,3 % erhöht.

Daraufhin erhoben die Kl Beschwerde beim BVwG und brachten vor, die fehlende bzw äußerst niedrige Anpassung stelle eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Dies wurde damit begründet, dass überwiegend Männer eine Pension über dem Höchstbetrag beziehen. Das BVwG wies die Beschwerden ab und begründete dies damit, dass die mittelbare Diskriminierung gerechtfertigt sei.

Die Kl brachten dagegen die Revision beim VwGH ein, der das Verfahren unterbrach und zwei Fragen dem EuGH vorlegte.

Die erste Frage betrifft die Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des Gebots der Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen. Mit der zweiten Frage wollte der VwGH wissen, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung bei der Pensionsanpassung aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt sein 392könnte. Als mögliche Rechtfertigungsgründe hat der VwGH erstens die Verhinderung einer Kluft zwischen höheren und niedrigeren Ruhebezügen angeführt, zweitens die Verwirklichung einer allgemeinen sozialen Komponente und drittens die Erhaltung und Finanzierung des Systems. Darüber hinaus wäre es möglich, dass die mittelbare Diskriminierung ausgeschlossen wäre, da die höheren Ruhebezüge von Männern in der fehlenden Chancengleichheit für Frauen wurzeln oder weil die Regelung als positive Maßnahme iSd Art 157 Abs 4 AEUV zulässig ist.

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung fest, dass es sich bei der Regelung um eine mittelbare Diskriminierung handelt, da sie vorrangig Männer benachteiligt. Bezüglich der ersten Frage führt er aus, dass die zeitliche Beschränkung der Wirkung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hier nicht gilt. Zur zweiten Frage stellt er fest, dass die sozialpolitischen Ziele der nachhaltigen Sicherung von Pensionsleistungen und der Verringerung des Unterschieds bei der Höhe der Pensionen die Ungleichbehandlung bei der Pensionsanpassung rechtfertigen können. Die Regelung wurde nach Einschätzung des EuGH auch in systematischer und kohärenter Weise umgesetzt und geht nicht über das Maß des Erforderlichen hinaus.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Protokoll Nr. 33 und Art. 12 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass die darin vorgesehene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen für eine nationale Regelung gilt, die eine jährliche Anpassung der aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit, das nach dem in diesen Bestimmungen genannten Zeitpunkt anwendbar ist, gewährten Pensionen vorsieht. […]

36 Zwingende Gründe der Rechtssicherheit schließen es nämlich aus, dass Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, in Frage gestellt werden, wenn dies rückwirkend das finanzielle Gleichgewicht zahlreicher Versorgungssysteme stören könnte […].

40 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die jährliche Anpassung der Pensionen, die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung für das Jahr 2018 vorgesehen ist, anhand des Pensionsbetrags berechnet wird, den der Empfänger im Vorjahr bezogen hatte und auf den bereits ein Anspruch bestand, wobei die Anpassung degressiv erfolgt und ab einem bestimmten Betrag ganz entfällt. Außerdem hängt die Anpassung nicht vom Zeitpunkt der Beschäftigungs- oder Beitragszeiten des betreffenden Empfängers ab.

41 Vor dem vorlegenden Gericht rügen die Kläger der Ausgangsverfahren einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nur in Bezug auf diese nationale Regelung, die keine Rückwirkung hat. […]

42 […] Daraus folgt, dass diese Beschränkung im vorliegenden Fall den Klägern der Ausgangsverfahren in Bezug auf eine jährliche Anpassung der Pensionen, wie sie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung allein für das Jahr 2018 vorsieht, nicht entgegengehalten werden kann. […]

44 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 157 AEUV und Art. 5 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine degressive jährliche Anpassung des Betrags der Pensionen der nationalen Beamten nach Maßgabe seiner Höhe vorsieht, wobei die Anpassung ab einem bestimmten Pensionsbetrag ganz entfällt.

45 Gemäß Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 darf es in betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit hinsichtlich der Berechnung der Leistungen keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben.

46 Vorab ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung führt, da sie für männliche und weibliche Arbeitnehmer gleichermaßen gilt. […]

51 Sollte sich aus den Statistiken, die das vorlegende Gericht heranziehen kann, in der Tat ergeben, dass die Arbeitnehmer eines Geschlechts von der in Rede stehenden nationalen Regelung prozentual erheblich stärker betroffen sind als die ebenfalls in den Anwendungsbereich dieser Regelung fallenden Arbeitnehmer des anderen Geschlechts, wäre davon auszugehen, dass eine solche Situation eine gegen Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 verstoßende mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt, es sei denn, die Regelung ist durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben […].

52 Wie sich aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/54 ergibt, müsste das vorlegende Gericht in einem solchen Fall sodann prüfen, inwieweit eine solche Ungleichbehandlung gleichwohl durch Faktoren gerechtfertigt werden kann, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

53 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dies nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere dann der Fall ist, wenn die gewählten Mittel einem legitimen sozialpolitischen Ziel dienen und zur Erreichung des mit der in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind, wobei solche Mittel nur dann als zur Erreichung des geltend gemachten Ziels geeignet angesehen werden, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, dieses Ziel zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise angewandt werden […].

56 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung darauf abzielt, die Kaufkraft der Pensionsempfänger393 dadurch zu erhalten, dass die niedrigeren Pensionen gegenüber den höchsten mittels eines „sozialen Ausgleichs“ begünstigt werden, um zu verhindern, dass zwischen ihnen eine zu große Kluft entsteht, und um ihre dauerhafte Finanzierung sicherzustellen.

57 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können Haushaltserwägungen zwar eine Diskriminierung zum Nachteil eines der Geschlechter nicht rechtfertigen, aber Zielsetzungen in Form der nachhaltigen Sicherung der Finanzierung von Pensionsleistungen und der Verringerung des Unterschieds bei der Höhe staatlich finanzierter Pensionen können als legitime sozialpolitische Ziele angesehen werden […].

58 Folglich werden mit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung legitime sozialpolitische Ziele verfolgt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

59 Hinsichtlich der Frage, ob diese Regelung den oben in Rn. 53 genannten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügt, und insbesondere in Bezug auf ihre Angemessenheit ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, dass sie es ermöglicht, nur Pensionen von durchschnittlicher oder geringer Höhe anzuheben, wobei insbesondere sichergestellt wird, dass die niedrigsten Pensionen in einem die Inflation übersteigenden Maß angehoben werden, somit zu einer dauerhaften Finanzierung dieser Pensionen beizutragen und die Unterschiede zwischen ihnen zu verringern. […]

61 Zur kohärenten und systematischen Umsetzung dieser Regelung ist festzustellen, dass sie, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den schriftlichen Erklärungen der österreichischen Regierung ergibt, für alle Beamtenpensionen gilt, aber auch für die Bezieher von Pensionen sowohl aus betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit von staatlich kontrollierten Unternehmen als auch aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem ASVG. […] 66 Diese Regelung wurde somit – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht insoweit vorzunehmenden Prüfungen – in systematischer und kohärenter Weise umgesetzt.

67 Die Regelung dürfte auch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist. […] Die in § 711 ASVG, auf den § 41 Abs. 4 PG 1965 verweist, vorgesehenen Beschränkungen bei der Erhöhung der Pensionen sind nämlich nach Maßgabe der Höhe der gewährten Leistungen gestaffelt, und nur bei den höchsten Pensionen ist eine solche Erhöhung ausgeschlossen.

68 Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob diese Beschränkungen nach Art. 157 Abs. 4 AEUV oder Art. 3 der Richtlinie 2006/54 gerechtfertigt werden können. […]“

ERLÄUTERUNG

Der EuGH hat sich in der vorliegenden E mit einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der abgestuften Pensionsanpassung 2018 in Österreich, die ab einem Schwellenwert von € 4.980,- keine Erhöhung vorgesehen hat, beschäftigt.

Die erste Frage betrifft die verfahrensrechtliche Vorfrage, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im gegenständlichen Fall zeitlich anwendbar ist. Eine Beschränkung besteht für Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben. Dies stellt gegenständlich aber kein Problem dar, da es um die jährliche Anpassung im Jahr 2018 geht.

Die inhaltliche Auseinandersetzung erfolgte im Rahmen der zweiten Frage. Hier hat der EuGH festgestellt, dass die Regelung keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, aber wohl eine mittelbare. Dies ist nach stRsp dann der Fall, wenn sich eine Regelung auf einen signifikant höheren Anteil von Personen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts ungünstig auswirkt (vgl EuGH 24.9.2020, C-223/19, YS gegen NK AG). Da hauptsächlich Männer eine Pension über dem Schwellenwert von € 4.980,- beziehen, ist dies hier der Fall.

In weiterer Folge hat sich der EuGH damit beschäftigt, ob die Ungleichbehandlung durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist nach stRsp ua dann der Fall, wenn eine Maßnahme einem legitimen sozialpolitischen Ziel dient und zur Erreichung des Ziels geeignet und erforderlich ist.

Im vorliegenden Fall dient die Regelung dazu, einen sozialen Ausgleich zwischen niedrigen und höchsten Pensionen herbeizuführen, damit keine zu große Kluft entsteht und auch die dauerhafte Finanzierung sicherzustellen. Diese Ziele können nach Ansicht des EuGH legitime sozialpolitische Ziele sein. Die Regelung wird auch als verhältnismäßig und angemessen eingestuft. Da sie für alle Beamtenpensionen und gesetzliche Pensionen gleichermaßen gilt, wurde sie auch kohärent und systematisch umgesetzt und ist damit eine geeignete Maßnahme zur Verfolgung der sozialpolitischen Ziele. Die Regelung geht auch nicht über das Maß des Erforderlichen hinaus, da ja nur besonders hohe Leistungen gänzlich von der Pensionsanpassung ausgenommen sind.

Da für den EuGH somit eine Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung gegeben ist, prüft er nicht mehr, ob die Beschränkung nach Art 157 Abs 4 AEUV oder Art 3 der RL 2006/4 gerechtfertigt werden könnte. Die knappen Ausführungen dazu deuten aber darauf hin, dass der EuGH darin keine positive Maßnahme iSd Art 157 Abs 4 AEUV sieht.394