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Bleibeprämie: Keine Sicherung durch Insolvenz-Entgelt-Fonds bei fehlender sachlicher Rechtfertigung

MARGITMADER

Die Kl war ab dem 1.1.2019 als Produktionsangestellte bei der späteren Schuldnerin beschäftigt. Es war ein All-In-Gehalt (Fixum) von jährlich € 53.000,- brutto, monatlich daher € 3.785,71 brutto, vereinbart. Im Falle einer Kündigung war laut Dienstvertrag von beiden Vertragsparteien eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Letzten eines Monats einzuhalten. Die Kl arbeitete in der Prozessentwicklung, wobei Absprachen mit den Kunden über die individuellen Produktionsprozesse aufzusetzen waren. In ihrer Abteilung waren weitere fünf Mitarbeiter und ein Vorgesetzter beschäftigt. Im April 2019 kam es zu einem Wechsel der Geschäftsführung. In diesem Zusammenhang schloss die spätere Schuldnerin mit verschiedenen Mitarbeitern Vereinbarungen über „Bleibeprämien“ in Höhe von 30 % des jährlichen Bruttogehalts, maximal aber € 9.300,- brutto. Als Voraussetzungen für die Auszahlung wurden das Vorliegen einer uneingeschränkten Betriebsbewilligung – erteilt durch die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) – sowie eine aktive Beschäftigung der Kl bis zum 31.3.2020 genannt. Die Zahlung erfolge als einmalige freiwillige Leistung ohne Rechtsanspruch für die Zukunft. Bei langen Abwesenheiten im Dienst sowie bei DG-Kündigung vor Ablauf der Wartezeit stehe die Prämie nur aliquot zu. Als Begründung für dieses Angebot wurde der Kl mitgeteilt, dass sie in einer Schlüsselposition gehalten werden solle. Gleichzeitig wolle man damit auch die Wertschätzung ihr gegenüber zum Ausdruck bringen. Da Kollegen gekündigt worden seien, werde auch mehr Arbeit auf sie zukommen. Die Kl unterfertigte das Angebot. Auch anderen Mitarbeitern wurde eine Bleibeprämie angeboten. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt nach dem 14.8.2019 wurde der Schuldnerin die uneingeschränkte Betriebsbewilligung erteilt. Die Kl hatte danach die gleiche Position inne, musste aber mehr Kunden betreuen und regelmäßig Überstunden leisten.

Die Kl stand mit Kunden der Schuldnerin in direktem Kontakt und war in die fachliche Materie miteingebunden. Bei einer vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses hätte dies insofern Probleme verursacht, als nur sie die Korrespondenz und den aktuellen Stand kannte.

Die Kl erfuhr erstmals im August 2019 von unternehmerischen Schwierigkeiten. Im November 2019 wurden Mängel in der Produktion festgestellt. In weiterer Folge wurde mit Beschluss vom 3.12.2019 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und die Schließung des Unternehmens angeordnet. Am 4.12.2019 erklärte die Kl den vorzeitigen Austritt nach § 25 IO gegenüber dem Insolvenzverwalter. Die Kl beantragte Insolvenz-Entgelt für offene Entgelt- und Beendigungsansprüche sowie einen Betrag von € 9.300,- brutto bzw € 6.783,- netto für die Bleibeprämie. Der als „Bleibeprämie“ bezeichnete Anspruch wurde seitens der bekl IEF-Service GmbH abgelehnt. In der dagegen erhobenen Klage brachte die Kl ua vor, bei der Bleibeprämie handle es sich um eine Zuwendung aus dem Arbeitsverhältnis mit Entgeltcharakter, die auch nach den Kriterien des § 1 Abs 3 Z 2 lit b IESG sachlich gerechtfertigt sei. Eine Sittenwidrigkeit der Vereinbarung liege nicht vor. Der Kl sei weder eine Krise des Unternehmens bewusst gewesen noch habe sie von einer solchen Situation ausgehen müssen.

Die Bekl wandte ein, die Bleibeprämie sei eine freiwillige Leistung. Hintergrund einer derartigen Vereinbarung sei eine wirtschaftliche Krise des Unternehmens mit der Gefahr der Abwanderung besonders qualifizierter Mitarbeiter. Im vorliegenden Fall sei die Bleibeprämie jedoch zwei Dritteln der Belegschaft ohne Rücksicht auf eine bestimmte Qualifikation zuerkannt worden. Die Vereinbarung sei dreieinhalb Monate vor Einleitung des Insolvenzverfahrens getroffen worden. Sämtliche AN hätten zum Zeitpunkt des Abschlusses erkennen müssen, dass sich das Unternehmen in einer Krise befinde. Die Kl habe daher damit rechnen müssen, dass die Prämie letztendlich vom Insolvenz-Entgelt-Fonds (IEF) übernommen werden müsse. Die Prämie sei somit als atypisch zu qualifizieren und sachlich nicht gerechtfertigt.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Prämie sei innerhalb der letzten sechs Monate vor Insolvenzeröffnung im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der AN bekannt waren, vereinbart worden. Der Abschluss einer derartigen Vereinbarung – im zeitlichen Nahebereich zur Insolvenz – stelle ein Verhalten dar, das geeignet sei, das Risiko missbräuchlich auf die Bekl zu überwälzen, weshalb der Ausschluss des § 1 Abs 3 Z 2 IESG zum Tragen komme.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl teilweise Folge und verpflichtete die Bekl zur Zahlung von € 3.332,52 netto. Das Mehrbegehren wies es ab. Eine Bleibeprämie stelle keinen für ein Arbeitsverhältnis völlig atypischen Anspruch dar. Der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs 3 Z 2 IESG liege nicht vor, da von einer sachlichen Rechtfertigung der Vereinbarung auszugehen sei. Allerdings stehe nach der Vereinbarung bei längerer Abwesenheit vom Dienst nur ein aliquoter Teil der Prämie zu. Der Zeitraum der Prämie habe 230 Tage umfasst. Die Kl habe davon an 113 Tagen ihre Arbeit verrichtet. Davon ausgehend stünden ihr € 3.332,52 zu. Sowohl die Kl als auch die Bekl brachten eine außerordentliche Revision gegen das Berufungsurteil ein.378

Der OGH gab der Revision der Bekl statt. Das Urteil des Erstgerichts wurde wiederhergestellt. Der Revision der Kl wurde nicht Folge gegeben.

Gem § 1 Abs 2 IESG sind aufrechte, nicht verjährte und nicht ausgeschlossene Ansprüche (Abs 3) aus dem Arbeitsverhältnis durch den IEF gesichert, auch wenn sie gepfändet, verpfändet oder übertragen worden sind. Die gesicherten Anspruchsarten – wie Entgeltansprüche (insb auf laufendes Entgelt und aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses), Schadenersatzansprüche, sonstige Ansprüche gegen den AG sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten – werden taxativ aufgezählt.

Nach § 1 Abs 3 Z 2 lit b IESG gebührt Insolvenz-Entgelt nicht für Ansprüche, die auf einer Einzelvereinbarung beruhen, die in den letzten sechs Monaten vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Anordnung der Geschäftsaufsicht bzw vor der Kenntnis vom Beschluss nach Abs 1 Z 2 bis 6 IESG abgeschlossen wurde, soweit die Ansprüche über den durch Gesetz, KollV oder BV zustehenden Anspruch oder die betriebsübliche Entlohnung hinausgehen oder auf sonstigen Besserstellungen beruhen, sofern die höhere Entlohnung sachlich nicht gerechtfertigt ist.

In den Materialien zum IRÄG 1994 (1384 BlgNR 18. GP 11) wird als Beispiel für eine sachlich gerechtfertigte Sondervereinbarung lediglich die Einstellung eines Spezialisten zur Unternehmenssanierung explizit angeführt. Als Beispiele für sachlich nicht gerechtfertigte Vereinbarungen werden Vordienstzeitenanrechnungen oder die Übernahme eines Arbeiters in das Angestelltenverhältnis erwähnt.

Laut Rsp des OGH ist als entscheidendes Kriterium für die sachliche Rechtfertigung einer höheren, über dem betriebsüblichen Niveau liegenden Entlohnung vor allem die Bedeutung der Arbeit des jeweiligen AN und der damit verbundene Arbeitseinsatz anzusehen. Daran sei auch die sachliche Rechtfertigung einer höheren Entlohnung – sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht – zu messen. Dem Gesetzgeber könne nicht unterstellt werden, dass er bei der Schaffung dieser Bestimmung lediglich jene Fälle vor Augen hatte, in denen ein Arbeitsvertrag mit einem Sanierungsexperten zur Abwendung eines Insolvenzverfahrens abgeschlossen worden sei. Einzubeziehen seien daher auch jene Fälle, in denen Gehaltserhöhungen an bereits beschäftigte AN gewährt werden, um einen unvermeidbaren Schaden vom Unternehmen abzuwenden, sofern dabei das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Die sachliche Rechtfertigung sei immer dann zu bejahen, wenn auch ein das Unternehmen fortführender Insolvenzverwalter in einer gleichartigen Situation bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt iSd § 81 IO nicht umhingekommen wäre, eine Gehaltserhöhung in diesem Ausmaß zu gewähren. Darüber hinaus sei das Kriterium der „sachlichen Rechtfertigung“ durch das Fehlen der Absicht, den IEF durch Abschluss eines Vertrags zu seinen Lasten zu missbrauchen, zu ergänzen.

Ausgehend von dieser Judikatur bedarf es besonderer Umstände, um die sachliche Rechtfertigung einer solchen Einzelvereinbarung zu begründen. Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts lagen solche Gründe bei der Vereinbarung mit der Kl nicht vor.

Die Kl war zum Zeitpunkt der Vereinbarung etwas mehr als ein halbes Jahr bei der Schuldnerin beschäftigt. Sie hatte keine leitende Position. Sie hatte zwar Kundenkontakt, dies bedeutete aber nicht, dass bei einem Ausscheiden der Kl diese Vertragsbeziehungen nicht fortgeführt hätten werden können. Zum Zeitpunkt der Bonusvereinbarung gab es keine Hinweise für die Schuldnerin, dass die Kl eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses beabsichtige. Auch wenn dies aufgrund der Verunsicherung im Unternehmen durch die vorangehenden Kündigungen nicht ausgeschlossen werden konnte, hatte die Kl eine Kündigungsfrist von drei Monaten zu beachten. Eine Kündigung wäre daher frühestens zum 30.11. möglich gewesen. Demgegenüber verlangt die Bleibeprämie nur einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses um weitere vier Monate bis zum 31.3. des Folgejahres. Die Höhe der Prämie beträgt aber – selbst wenn 30 % des jährlichen Bruttogehalts nicht erreicht werden – fast drei Monatsgehälter.

Darüber hinaus wurde eine derartige Prämie nicht nur der Kl, sondern auch anderen Mitarbeitern angeboten. Besondere Kriterien dafür, nach welchen Überlegungen Mitarbeiter ausgewählt wurden, konnten nicht festgestellt werden.

Die Schuldnerin wollte offenbar durch die Zusage von Bleibeprämien der Verunsicherung im Unternehmen entgegenwirken und einen Anreiz schaffen, trotz allfälliger höherer Arbeitsbelastung nicht zu kündigen. Es sollte eine Fluktuation von Mitarbeitern verhindert werden, indem man den AN für die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses einen „Bonus“ zusagte, ohne dass es dabei auf die Qualifikation des konkreten Mitarbeiters oder die Bedeutung seiner Tätigkeit für den Fortbestand des Unternehmens ankam. Eine Kündigung durch die Kl hätte die Einschulung eines neuen Mitarbeiters notwendig gemacht, auf den Fortbestand des Unternehmens aber keinen relevanten Einfluss gehabt. Auch die Höhe der Prämie steht in keiner Relation zu dem Nutzen, der sich aus dem Fortbestand dieses konkreten Arbeitsverhältnisses für weitere vier Monate, ergeben solle. Damit liegt aber nach Ansicht des OGH sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht keine sachliche Rechtfertigung für die getroffene Vereinbarung iSd § 1 Abs 3 Z 2 IESG vor. Der Anspruch der Kl auf Insolvenz-Entgelt für die 379Bleibeprämie besteht daher nicht zu Recht. Der Revision der Bekl war Folge zu geben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

Anmerkung:

Ergänzend ist anzumerken, dass der erkennende Senat bereits in der OGH-E 8 ObS 1/21mDRdA-infas 2021/6, 459 (Mader) zu einer – ebenfalls von der Schuldnerin mit einer anderen AN vereinbarten – Bleibeprämie und deren Sicherung nach dem IESG ausführlich Stellung genommen hat. In dieser E wurde ua ausgeführt, dass es sich bei Bleibeprämien idR um – in Voraussetzung und Zweck einer Treueprämie ähnliche – Sonderzahlungen handelt. Die dort zu beurteilende Prämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig sowie auf etwa ein Jahr bezogen war und durch die Kündigung des AG fällig wurde, fällt nach Ansicht des Senats unter den Begriff des Entgelts und entspringt einer unmittelbaren Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung. Sie ist daher nach Ansicht des OGH wie eine Sonderzahlung zu behandeln und nach § 1 Abs 2 Z 1 IESG gesichert.

Anders als hier war die dort gegenständliche Prämienvereinbarung aber nicht in den letzten sechs Monaten vor Insolvenzeröffnung abgeschlossen worden und unterlag somit nicht dem Ausschlusstatbestand des § 1 Abs 3 Z 2 IESG.