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Mitbestimmung des Betriebsrates bei Einrichtung eines elektronischen Schließsystems – Berühren der Menschenwürde anhand der konkreten Ausgestaltung des Systems im Betrieb zu prüfen

MARTINACHLESTIL

Das bekl Logistikunternehmen hat 2021 die Außentüren und ausgewählte Türen im Innenbereich ihres Betriebs unter Verwendung des Systems „e*“ mit einem elektronischen Schloss versehen. Mit der vorliegenden Klage begehrt der kl BR, es zu unterlassen, das Zutrittssystem „e*“ im gesamten Betriebsgebäude ohne seine Zustimmung (in Form einer BV) einzuführen bzw weiterhin zu nutzen, das arbeitsbezogene Verhalten sowie auch die Privatsphäre der AN zu kontrollieren, deren Bewegungsdaten zu erheben, auszuwerten und zu verarbeiten. Sämtliche Daten der AN, die durch Verwendung des Systems „e*“ bereits erfasst wurden, sollen durch Löschung vernichtet und das eingesetzte System „e*“ deinstalliert werden. Wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit beantragt er zudem die Erlassung einer Einstweiligen Verfügung.

Der kl BR stützt sein Klagebegehren auf die Mitwirkungspflicht des BR gem § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG und bringt vor, dass ein Großteil der Außentüren und viele auch im Gebäude befindliche Türen (Zugangspunkte) auf ein neues elektronisches Zutrittssystem („e*“) umgestellt und die Mitarbeiter mit personalisierten Zutrittskarten bzw -chips (Zutrittstools) ausgestattet worden seien. Sämtliche Bewegungen der AN an jedem Zugangspunkt könnten aufgrund der Verwendung der personalisierten Zutrittstools samt Zeitstempel erfasst und gespeichert werden. Diese sogenannten Logdaten könnten so ausgewertet werden, dass sie einem spezifischen Benutzer zuordenbar seien. Bemühungen des kl BR, mit der bekl AG eine entsprechende BV abzuschließen, seien bislang erfolglos gewesen. Die bekl AG wendet ein, dass nur ein Teil der betrieblichen Räumlichkeiten mit 371dem elektronischen Zutrittssystem ausgestattet und eine Erweiterung technisch nicht (einfach) möglich sei, aus den gewonnenen Daten ein Bewegungsprofil von Mitarbeitern nicht erstellt werden könne und somit eine potenzielle Überwachung dieser durch die Chipkarte nicht erfolge.

Das Erstgericht erließ die beantragte Einstweilige Verfügung hinsichtlich aller beantragten Punkte mit Ausnahme der Deinstallation des eingesetzten Systems. Es kam ([ausschließlich] auf der Grundlage einer vom kl BR vorgelegten Bedienungsanleitung) unter Bezugnahme auf § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG zum Ergebnis, dass durch das elektronische Zutrittssystem „e*“ die Menschenwürde berührt werde, weshalb es nur in Form einer BV eingeführt und verwendet werden dürfe. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Begriff der Kontrollmaßnahme iSd § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG sei weit zu verstehen. Entscheidend sei, ob aufgrund der konkreten organisatorischen und technischen Vorkehrungen die Kontrollmaßnahme jederzeit eingesetzt werden könne, nicht aber, ob sie tatsächlich eingesetzt werde. Wesentlich sei auch, welche Erweiterungsmöglichkeiten bestünden. Der ordentliche Revisionsrekurs wurde zugelassen, weil die Frage, ob die Einführung des vorliegenden elektronischen Schließsystems gem § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG mitbestimmungspflichtig sei, angesichts der Vielzahl derartiger Anlagen über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe und dazu noch keine ausreichende höchstgerichtliche Judikatur vorliege.

Der Revisionsrekurs der bekl AG ist nach Ansicht des OGH zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt: Kontrollmaßnahmen bzw -systeme stellen schon dann eine zustimmungspflichtige Maßnahme iSd § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG dar, wenn die Einrichtung objektiv geeignet ist, die AN zu kontrollieren, auch wenn dem Betriebsinhaber jede Kontrollabsicht fehlt. Zu welcher Zeit, unter welchen Umständen und auf welche Weise die Maßnahmen bzw das System Verwendung finden, ist irrelevant: Der Einsatz kann beim Betreten oder Verlassen des Betriebs oder bestimmter Betriebsteile, ferner während der Arbeitsleistung in oder außerhalb des Betriebs oder überhaupt während des Aufenthalts im Betrieb zu irgendeinem Zweck erfolgen. Die Zustimmungspflicht setzt daher nicht erst bei der Auswertung, sondern bereits bei der Ermittlung der Daten ein, weil bereits die Datenerfassung die objektive Kontrolleignung ermöglicht.

Für die Beurteilung, ob die Einrichtung bzw das installierte System objektiv geeignet ist, die AN zu kontrollieren, sind die konkreten (softwaremäßigen) Anwendungsmöglichkeiten des Systems von Bedeutung. Entscheidend ist, ob aufgrund der konkreten organisatorischen und technischen Vorkehrungen die Kontrollmaßnahme jederzeit eingesetzt werden kann, nicht, ob sie tatsächlich eingesetzt wird. Bei dieser Prüfung sind auch allfällige Erweiterungsmöglichkeiten der Anwendungen in den Prüfungsmaßstab miteinzubeziehen.

Ausgehend von den bisherigen, aufgrund der Betriebsanleitung getroffenen Feststellungen haben die Vorinstanzen laut OGH daher zutreffend die objektive Eignung des von der bekl AG gewählten elektronischen Schließsystems „e*“, ein arbeitnehmerbezogenes Bewegungsprofil während des ganzen Arbeitstags zu erstellen, bejaht. Dagegen wendet sich auch nicht der Revisionsrekurs der bekl AG, sondern er wiederholt den bisherigen Standpunkt, dass tatsächlich nur einige wenige ausgewählte Türen mit dem elektronischen Schließsystem durch Terminals (einseitig) ausgestattet worden seien, sodass es konkret keineswegs möglich sei, ein arbeitnehmerbezogenes Bewegungsprofil zu erfassen und daher auch die Menschenwürde der AN durch Einführung des Systems nicht berührt sei.

Dazu erwog der OGH: Bei Maßnahmen oder Systemen, die – wie hier – die objektive Eignung zur Kontrolle der AN erfüllen, ist dann gem § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG (bzw § 10 Abs 1 AVRAG) in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob durch das konkret installierte Kontrollsystem die Menschenwürde berührt ist. Die Menschenwürde wird von einer Kontrollmaßnahme oder einem Kontrollsystem dann „berührt“, wenn dadurch die vom AN in den Betrieb miteingebrachte Privatsphäre kontrolliert wird. Davon abgesehen, kann aber auch durch die Kontrollintensität der Arbeitsleistung und des arbeitsbezogenen Verhaltens des AN eine Berührung der Menschenwürde bewirkt werden, und zwar vor allem dann, wenn diese Kontrolle in übersteigerter Intensität organisiert wird und jenes Maß überschreitet, das für Arbeitsverhältnisse dieser Art typisch und geboten ist. Andererseits verlangt das „Berühren“ der Menschenwürde keine solche Eingriffsdichte, die bereits als „Verletzung“ anzusehen wäre. Durch § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers vielmehr der schmale Grenzbereich zwischen den die Menschenwürde verletzenden (und damit ohnehin sittenwidrigen) Maßnahmen und den die Menschenwürde überhaupt nicht tangierenden Maßnahmen des Betriebsinhabers (zB die Verwendung einer „Stechuhr“ zur Arbeitszeitkontrolle) geregelt werden.

Die Beantwortung der Frage, ob die Menschenwürde durch eine Kontrollmaßnahme auch nur berührt wird, bedarf nach der Rsp überdies in jedem Einzelfall einer umfassenden Abwägung der wechselseitigen Interessen. So sind einerseits die Interessen des AG, der im Arbeitsverhältnis ein grundsätzliches Recht zur Kontrolle der AN hat, aber darüber hinaus zB auch sein Eigentum sichern und schützen will, und andererseits die Interessen des AN an der Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte gegeneinander abzuwägen. Dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit kommt hier regulierende Funktion zu. Persönlichkeitsrechte dürfen nur so weit beschränkt werden, 372als dies durch ein legitimes Kontrollinteresse des AG geboten ist. Es ist das schonendste – noch zum Ziel führende – Mittel zu wählen.

Die Frage, ob das elektronische Schließsystem „e*“ im Betrieb der bekl AG in der derzeit konkreten Ausgestaltung die Menschenwürde der AN berührt, kann laut OGH aufgrund des bislang festgestellten Sachverhalts aber noch nicht abschließend beantwortet werden. Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen ist dieser Prüfung nicht die bloß objektive (abstrakte) Kontrolleignung des Systems „e*“ zugrunde zu legen, sondern, wie oben bereits dargelegt, das Schließsystem in seiner derzeit konkreten Ausgestaltung im Betrieb der bekl AG. Feststellungen zu den (zusammengefassten) Behauptungen des kl BR, die bekl AG habe durch die Installation des elektronischen Schließsystems die technischen Möglichkeiten geschaffen (und die auch laufend weiter ausgebaut würden), die es der bekl AG ermöglichten, ein arbeitnehmerbezogenes Bewegungsprofil während des ganzen Arbeitstages zu erstellen, fehlen. Ebenso fehlen Feststellungen zu den gegenteiligen (zusammengefassten) Behauptungen der bekl AG, dass nur ein Teil der betrieblichen Räumlichkeiten mit dem elektronischen Zutrittssystem ausgestattet sei und aus den gewonnenen Daten ein Bewegungsprofil von Mitarbeitern nicht erstellt werden könne und somit eine potenzielle Überwachung (durch die Chipkarte) nicht erfolge. Nach dem Standpunkt der bekl AG lässt sich allein aus den (aufgrund der Betriebsanleitung) festgestellten abstrakten Einsatzmöglichkeiten des Systems (der objektiven Kontrolleignung) nicht ableiten, dass diese Einsatzmöglichkeiten im vorliegenden Fall im Betrieb auch jederzeit zum Tragen kommen könnten, wovon aber die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen ausgegangen sind.

Allein aufgrund der bislang festgestellten Kontrollmaßnahmen kann somit noch nicht davon ausgegangen werden, dass das elektronische Schließsystem in einer Form eingesetzt wird, die per se auf eine Berührung der Menschenwürde schließen ließe. Die Beschlüsse der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und die Rechtssache zur ergänzenden Sachverhaltsfeststellung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.