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Urlaubsersatzleistung gebührt bei unberechtigtem Austritt nur auf Basis des unionsrechtlichen Mindesturlaubs von vier Wochen

MANFREDTINHOF
Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG; Art 31 Abs 2 GRC; § 10 Abs 2 UrlG

Um den unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH zur Auslegung des Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 (Arbeitszeit-RL) im Anlassfall gerecht zu werden und dafür Sorge zu tragen, dass ein AN für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses offenen Resturlaub eine finanzielle Vergütung erhält, genügt es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, § 10 Abs 2 UrlG (nur) insoweit unangewendet zu lassen, dass der AN auf Grundlage des nach Art 7 Abs 2 der Arbeitszeit-RL unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubs von vier Wochen eine Urlaubsersatzleistung für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Jahresurlaub erhält.

SACHVERHALT

Der Kl war vom 25.6. bis 9.10.2018 bei einem Unternehmen als Arbeiter beschäftigt. Am 9.10.2018 beendete er das Arbeitsverhältnis durch unberechtigten vorzeitigen Austritt. Da er im Beschäftigungszeitraum bereits vier Urlaubstage verbraucht hatte, betrug sein offener Urlaubsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses 3,33 Arbeitstage. Die Urlaubsersatzleistung wurde dem Kl unter Verweis auf die Bestimmung des § 10 Abs 2 UrlG, wonach keine (Urlaubs-)Ersatzleistung gebührt, wenn der AN ohne wichtigen Grund vorzeitig aus dem Dienstverhältnis austritt, nicht ausbezahlt.

Der Kl begehrte mit seiner Klage die offene Urlaubsersatzleistung. Er vertrat den Standpunkt, dass die Bestimmung des § 10 Abs 2 UrlG gegen Art 31 Abs 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und Art 7 Arbeitszeit-RL verstoße und daher nicht zur Anwendung komme. Die Bekl bestritt das Klagebegehren dem Grunde nach unter Hinweis auf § 10 Abs 2 UrlG. Selbst wenn man von einem unionsrechtlichen Ersatzanspruch ausgehe, sei ein solcher auf Basis des unionsrechtlichen Urlaubsanspruchs von vier Wochen zu berechnen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Nachdem die Vorinstanzen die Klage unter Hinweis auf § 10 Abs 2 UrlG abgewiesen hatten, reichte der OGH ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH ein. Der EuGH erkannte zu Recht, dass Art 7 der Arbeitszeit-RL iVm Art 31 Abs 2 GRC dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn ein AN das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet (EuGH 25.11.2021, C-233/20, WD gegen job-medium GmbH). Der OGH erachtete nun die Revision des Kl als zulässig und teilweise berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

4. Aufgrund dieses Erkenntnisses des EuGH steht fest, dass der in § 10 Abs 2 UrlG normierte Entfall des Anspruchs auf Urlaubsersatzleistung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch (unberechtigten) Austritt des Arbeitnehmers ohne wichtigen Grund in Widerspruch zu Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 steht, die für jeden Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen vorsieht. Ist – wie hier – eine mit den Anforderungen dieser Richtlinie im Einklang stehende Auslegung und Anwendung der nationalen Regelung nicht möglich, ist eine unionsrechtswidrige nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen (RS0109951 [T3, T6, T7]; Mayr/Erler, UrlG³ § 10 UrlG Rz 7). Im horizontalen Rechtsverhältnis zu einem privaten Arbeitgeber kann sich der Arbeitnehmer zwar nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen, im Anwendungsbereich des Unionsrechts entfaltet das Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nach Art 31 Abs 2 GRC aber unmittelbare Wirkung, sodass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten einerseits direkt darauf stützen kann und andererseits nationale Gerichte verpflichtet sind, dieses Grundrecht direkt anzuwenden. Kann eine nationale Regelung nicht im Einklang mit Art 7 der Richtlinie 2003/88 und Art 31 Abs 2 der GRC ausgelegt werden, ergibt sich aus Art 31 Abs 2 der GRC, dass das mit einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber befasste nationale Gericht diese nationale Regelung nicht zu berücksichtige hat (EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft, Rn 81). Das nationale Gericht hat dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer für den 236nicht genommenen Jahresurlaub eine finanzielle Vergütung erhält (8 ObA 62/18b [Pkt. 3] unter Hinweis auf EuGHC-569/16 und C-570/16, Stadt Wuppertal/Bauer, Willmeroth/Broßonn).

5. Auf dieser Grundlage hat der unberechtigt vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis ausgetretene Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf Abgeltung des zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Urlaubsrestes gemäß § 10 Abs 1 UrlG. Zu prüfen bleibt jedoch, ob der in § 10 Abs 2 UrlG unionsrechtswidrig normierte Urlaubsverfall nur den unionsrechtlichen Mindesturlaub von vier Wochen oder den gesamten nationalen Urlaubsanspruch nach § 2 Abs 1 UrlG – im Falle des Klägers von unstrittig 30 Werktagen (fünf Wochen) – betrifft.

[…]

9. Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 räumt dem Arbeitnehmer einen Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen ein. Da das UrlG dagegen dem Arbeitnehmer einen Urlaubsanspruch von fünf bzw sechs Wochen gewährt, geht die innerstaatliche Rechtslage über die unionsrechtlich erforderlichen Mindestansprüche hinaus und ist insoweit günstiger als das Unionsrecht. Um den unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH (C-332/20) zur Auslegung des Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 im Anlassfall gerecht zu werden und dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses offenen Resturlaub eine finanzielle Vergütung erhält, genügt es daher nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, § 10 Abs 2 UrlG (nur) insoweit unangewendet zu lassen, dass im Ergebnis der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin auf Grundlage des nach Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88 unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubs von vier Wochen eine Urlaubsersatzleistung für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Jahresurlaub erhält. Art 7 der Richtlinie 2003/88 steht etwa einer nationalen Regelung nicht entgegen, die zwar mehr als vier Wochen Urlaub, aber keine finanzielle Vergütung für den Fall vorsieht, dass ein in den Ruhestand tretender Arbeitnehmer diese zusätzlichen Urlaubsansprüche krankheitsbedingt nicht mehr vor Antritt seines Ruhestands verbrauchen kann (EuGH 3.5.2012, C-337/10, Neidel, Rn 36; Drs, Neuere Rechtsprechung zur Arbeitszeit-Richtlinie – Urlaubsrecht, in Kietaibl/Resch, Arbeitsrechtlicher Schutz aus unionsrechtlichen Vorgaben, 93). Eine finanzielle Abgeltung des über den vierwöchigen Mindesturlaub hinausgehenden Urlaubsteils ist daher unionsrechtlich nicht geboten. […]“

ERLÄUTERUNG

Die Frage betreffend den Anspruch auf eine Abgeltung des bei aufrechtem Arbeitsverhältnis nicht verbrauchten Urlaubs war schon mehrfach Gegenstand von Entscheidungen des EuGH (zB EuGH 20.7.2016, C-341/15, Maschek). Er blieb seiner Linie auch hier treu und führte aus, dass Art 7 Abs 2 der Arbeitszeit-RL für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung des Urlaubs keine andere Voraussetzung aufstelle als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet sei und dass zum anderen der AN nicht den gesamten Jahresurlaub genommen habe. Der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses sei im Hinblick auf diesen Anspruch nicht maßgeblich (vgl auch DRdA-infas 2022, 14).

Aufgrund des Ergebnisses dieses Vorabentscheidungsersuchens hatte der OGH im fortgesetzten Verfahren somit eine Urlaubsersatzleistung für den vom Kl nicht verbrauchten Urlaub zuzusprechen. Die vom OGH zu entscheidende Frage war nun, ob die Urlaubsersatzleistung auf Basis des Grundanspruchs von fünf Wochen – von denen das UrlG ausgeht – oder auf Basis von vier Wochen, also dem unionsrechtlichen Mindestanspruch laut Arbeitszeit-RL, zu berechnen ist. Der OGH sprach dem Kl im Ergebnis die Urlaubsersatzleistung „nur“ auf Basis von vier Wochen zu. Das Höchstgericht begründete dies damit, dass – wenn im nationalen Recht mehr als die in der Richtlinie festgelegten vier Wochen Jahresurlaub vorgesehen sind – die Mitgliedstaaten selbst entscheiden können, ob sie für AN, die diesen (Mehr-)Urlaub während ihres Arbeitsverhältnisses nicht nehmen konnten, eine finanzielle Vergütung vorsehen. Und sie können auch die Bedingungen für die Gewährung dieses zusätzlichen Anspruchs festlegen. Da der österreichische Gesetzgeber im § 10 Abs 2 UrlG keinen Anspruch auf Urlaubsersatzleistung bei unberechtigtem Austritt auf Grundlage von fünf Wochen vorsieht, hat es bei dem unionsrechtlich garantierten Mindestanspruch von „nur“ vier Wochen zu bleiben.

Im konkreten Fall war daher folgende Berechnung der zu vergütenden Urlaubstage vorzunehmen: 20 Urlaubstage (Arbeitstage, also vier Wochen): 365 x 107 Tage (Beschäftigungszeitraum) = 5,86 Urlaubstage abzüglich der vier verbrauchten Urlaubstage ergibt 1,86 Tage. Dem Kl wurde im Ergebnis somit statt der eingeklagten Urlaubsersatzleistung für 3,33 Arbeitstage lediglich eine solche für 1,86 Arbeitstage zugesprochen.

Da hier das Arbeitsverhältnis im ersten Urlaubsjahr geendet hat, war der gesamte offene Urlaub auf Basis von vier Wochen zu berechnen. Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein unberechtigt ausgetretener AN Urlaubstage aus früheren Urlaubsjahren in das aktuelle Jahr mitgenommen hat. In diesem Fall muss es zu einer getrennten Berechnung der Urlaubsersatzleistung für den „alten“ Urlaub, welche auf Grundlage von fünf Urlaubswochen durchzuführen ist, und für den „neuen“ Urlaub, der auf Basis von vier Urlaubswochen zu ermitteln ist, kommen. 237