Stoffels/LembkeBetriebsverfassungsrecht

7. Auflage, C.H. Beck Verlag, München 2020, XXXIII, 539 Seiten, broschiert, € 44,90

HANNESSCHNELLER (WIEN)

Von 1983 an bis zur 6. Auflage im Jahr 2007 wurde dieses Lehrbuch zu der laut Vorwort „höchst praxisrelevanten Materie des Betriebsverfassungsrechts“ von Gerrick von Hoyningen-Huene verfasst. Sein Nachfolger am arbeitsrechtlichen Lehrstuhl der Universität Heidelberg, Markus Stoffels, und sein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter Mark Lembke, Honorarprofessor und Fachanwalt, haben nun die 7. Auflage dieses Standardwerks verantwortet. Das Erscheinen fällt mit dem 100-Jahr-Jubiläum des deutschen (und nahezu auch des österreichischen) „Betriebsrätegesetzes“ zusammen – Beschluss der Deutschen Nationalversammlung vom 18.1.1920 –, wobei das einschlägige österreichische Gesetz acht Monate davor parlamentarisch beschlossen worden war (vgl Cerny, 100 Jahre Betriebsrätegesetz – Von der Utopie einer neuen Gesellschaft zur Realität der neuen Arbeitswelt, DRdA 2019, 292; ders, Geschichte der Betriebsverfassung – eine rechtsvergleichende Buchbesprechung, DRdA 2020, 426).

Diese historische Überlappung ist nicht nur deshalb interessant, weil die Entwicklung des gegenwärtig bestehenden Nachfolgegesetzes „Betriebsverfassungsgesetz 1972 (BetrVG)“ auf immerhin 20 Seiten im vorliegenden Lehrbuch abgehandelt wird (einschließlich zehn Seiten zum Einfluss des Europarechts). Auch die im Vergleich zur Epoche 1919/1920 umgekehrte Abfolge in der „nachbarschaftlichen Gesetzgebung“, jene des BetrVG 1972 und ArbVG 1974 also, regt zum Sinnieren an, aufgrund welcher (wirtschafts-)historischen Umstände und vor allem Unterschiede bei den Koalitionen und Verbänden des Arbeitslebens – Stichwort Sozialpartnerschaft – die zahlreichen kleinen, aber dann doch nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Gesetzen bestehen. Bei der Lektüre von unterschiedlichen Begriffen für das faktisch Gleiche ist man zuweilen an das Karl Farkas zugeschriebene Bonmot „Der größte Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern ist die gemeinsame Sprache“ erinnert.

Nun aber zum Lehrbuch, seinem Aufbau und der beeindruckenden Tiefe seines Inhalts: Neben der schon erwähnten Entwicklungsgeschichte (Kapitel bzw „§“ 2) werden in § 4 das System der Betriebsverfassung und in § 5 deren Koalitionen, vor allem gewerkschaftliche Antrags- und Zugangsrechte, ausführlich dargestellt. Rechtsdogmatisch interessant ist die im „System“ unternommene Definition des Betriebsverhältnisses anhand von elf bestimmenden Merkmalen, die nach Ansicht der Autoren dieses gesetzlich statuierte Dauerschuldverhältnis sui generis „mit gesteigerten Verhaltenspflichten“ (verstärkte Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Loyalität) prägen. Abweichende oder gar gegenteilige Meinungen zur Maßgeblichkeit dieser Merkmale werden aber nicht verschwiegen (S 80 ff). Es wird also offengelegt, dass es die einzig richtige Begriffsbestimmung des Betriebsverhältnisses in der wissenschaftlichen Literatur nicht gibt und auch der Rsp kein dogmatisch abgeschlossenes Systemverständnis unterstellt werden kann. Dennoch bietet der Buchabschnitt § 4 viele Denkanstöße zum „Wesen“ einer gesetzlichen Verfassung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb (sowie Unternehmen, Konzern, EU-Unternehmensgruppe), wobei der „Vorrang von Verhandlungen der Betriebspartner“ (S 83 f) unter dem Damoklesschwert einer Entscheidung der Einigungsstelle (in Österreich: Schlichtungsstelle) mE das wesentlichste Bestimmungsmerkmal dieses ideologisch stark beanspruchten Rechtsbereichs ist.

Mit Darstellung der Koalitionen endet die Einleitung, und der 2. Teil des Buchs beschäftigt sich sodann 452 mit der Organisation der Betriebsverfassung. Das Wahl- und Organisationsrecht der betriebsverfassungsrechtlichen Organe wird ausführlich dargestellt und immer wieder erläutert ein farblich hervorgehobener „Praxishinweis“, wie denn ein Wahlmangel oder eine Kompetenzüberschreitung sich vor der Einigungsstelle oder vor Gericht auswirken kann.

Dem mit fast 280 Seiten umfangreichsten 3. Teil „Formen und Arten der Mitbestimmung“ wurde mit dieser Auflage erstmals ein Kapitel zu Unternehmensrestrukturierungen angefügt. Weil es dabei ja nicht um die vertragsrechtlichen Vorgaben der EU-Betriebsübergangs-RL geht, sondern um die Auswirkungen auf die Mitbestimmungsverfassung, wird hier folgerichtig der Frage „Zerschlagung oder Beibehaltung der Betriebsidentität“ viel Raum gegeben. Aus Sicht der Praxis ist dies äußerst begrüßenswert. Diverse Praxishinweise und Fallbeispiele sind bei der Lektüre ebenso hilfreich wie einige Grafiken, denn rein verbal lässt sich das „Zerlegen“ eines Betriebs kaum vermitteln, wenn es um die Rechtsfolgen für Betriebsvereinbarungen und Organe geht, die von share deals, Verschmelzungen, asset deals oder Spaltungen betroffen sind.

Was macht nun laut Stoffels/Lembke die „Identität“ der räumlichen Basis der Belegschaftsmitwirkung, ihrer Homebase, sozusagen aus? Dazu kann bei den „Grundlagen der Betriebsverfassung“ zur Begriffsbestimmung des Betriebs (S 45 ff) und dann ergänzend im soeben angesprochenen Kapitel „Unternehmensübertragungen und -restrukturierungen“ (S 502 ff) viel Erhellendes nachgelesen werden: Entscheidend für die Betriebsidentität ist „der Einsatz und die Steuerung der menschlichen Arbeitskraft durch eine einheitliche Leitungsmacht, die mit dem Betriebsrat die mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten regeln kann“.

Wie selbst das Bundesarbeitsgericht (2013) festhielt, bietet das Mitbestimmungsprinzip erhebliche Vorteile: Die Argumente der Betroffenen werden berücksichtigt, es bestehen Überprüfungs- und Begründungszwänge (vorrangig des Betriebsinhabers, aber auch der Belegschaftsorgane), der soziale Frieden wird gestärkt. Es werden die Motivation der AN sowie die Akzeptanz, Plausibilität und Transparenz der Entscheidungen des AG verbessert, kurz: es besteht „Legitimation durch Verfahren“ iS von Niklas Luhmanns Systemtheorie des Rechts (1969), wie auf den S 4 f zu lesen ist.

Fazit: Ein kompaktes, für StudentInnen ebenso wie für PraktikerInnen geeignetes Lehrbuch über jene „Verfassung des Betriebs“, die iSd Sozialbindung des Produktionsmittel-Kapitals (Art 14 GG: „Eigentum verpflichtet“) die Macht des Betriebsinhabers abschwächen sowie die Verdinglichung der AN zu bloßen Produktionsfaktoren verhindern soll – und dies bei fairer Handhabung durch die betriebsverfassungsrechtlich vorgesehenen „Player“ auch immer wieder bewerkstelligen kann.