Iliopoulos-Strangas (Hrsg)Soziale Grundrechte in den „neuen“ Mitgliedstaaten der Europäischen Union

Nomos Verlag, Baden-Baden/facultas Verlag, Wien/Sakkoulas Verlag, Athens-Thessaloniki 2019, 1.377 Seiten, gebunden, € 204,60

ANDRÁSJAKAB (SALZBURG)

Soziale Grundrechte sind ein vernachlässigter Bereich des vergleichenden Verfassungsrechts, teilweise weil sie historisch relativ spät in Verfassungsdokumenten erschienen sind und teilweise weil einige Stimmen (sowohl in der Literatur als auch in der Rsp) auch trotz textueller Fundstellen an ihrer Normativität zweifeln. Die hier besprochene Arbeit der griechischen Verfassungsrechtlerin Julia Iliopoulos-Strangas füllt also mit ihrer Themenwahl eine Lücke in der Literatur. Die analysierten Länder sind darüber hinaus schon aus sprachlichen Gründen den meisten westeuropäischen LeserInnen nicht zugänglich. Die jetzige Arbeit ist als Nachfolgearbeit der 2010 veröffentlichten (ebenfalls mehr als 1.000 Seiten langen) rechtsvergleichenden Arbeit über den Schutz der sozialen Grundrechte in den alten EU-Mitgliedstaaten (auch der Fragebogen wurde übernommen) anzusehen. Wie auch Vassilios Skouris (2003-2015: Präsident des EuGH) in seinem Geleitwort betont, ist dieses Buch nicht nur eine gründliche rechtswissenschaftliche Analyse, sondern auch ein rechtspolitisches Programm, um die Bedeutung der sozialen Grundrechte aufzuzeigen und aufzuwerten.

Es werden nicht nur die sozialen Grundrechte ieS, sondern auch verschiedene soziale Freiheiten (Bildungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw) und die Gleichheitsrechte behandelt. Insgesamt 21 AutorInnen stellen ihre eigenen Rechtsordnungen in insgesamt 13 Länderberichten in einem Umfang von 1.000 Seiten dar: Bulgarien (Alexander Arabadijev), Estland (Kalle Merusk/Gaabriel Tavits), Kroatien (Nada Bodiroga-Vukobrat/Helga Špadina/Vanja Smokvina), Lettland (Egils Levits),81Litauen (Armanas Abramavičius), Malta (Vincent De Gaetano), Polen (Miroslaw Wyrzykowski), Rumänien (Elena-Simina Tǎnǎsescu), Slowakei (Daniel Šváby/Katarína Andová), Slowenien (Verica Trstenjak/Katja Plauštajner Metelko), Teschechien (Vojtěch Šimíček/Marian Kokeš), Ungarn (Ottó Czúcz/József Hajdú), Zypern (George Arestis/Constantinos Kombos). Daran knüpft sich ein nochmal 300 Seiten langer rechtsvergleichender Bericht der Herausgeberin an (der selbst eigentlich von der Länge her schon eine kleine Monographie ist). Der Band schließt mit einer mehr als 20-seitigen tabellarischen Übersicht zum Vergleich der sozialen Grundrechte in den einzelnen Verfassungstexten.

Da in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) soziale Grundrechte nicht (bzw nur als eine Nebenwirkung liberaler Grundrechte) aufscheinen, gibt es keine gemeinsame Konzeption in dieser Frage gemäß der EMRK. Dennoch ist die Frage wegen Art 6 Abs 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) („gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“) auch von EU-rechtlicher Relevanz. Viele der neuen EU-Mitgliedstaaten waren vormals sozialistische Länder (bis auf Malta und Zypern eigentlich alle) und in den sozialistischen Verfassungen waren die sozialen Grundrechte zumindest formell verfassungsrechtlich gewährleistet. Dies ist oft auch nach der Verabschiedung der neuen Verfassungen nach dem Ende des Sozialismus so geblieben, dementsprechend ist die verfassungsrechtliche Verankerung dieser Rechte charakteristischer in den neuen Mitgliedstaaten als in den alten.

Das Buch bietet eine enorme Menge von Details – nicht nur Textanalysen der Verfassungen, sondern auch Rechtsprechungen, wissenschaftliche Diskurse und unterverfassungsrechtliche Regelungen werden dargestellt. Es kann auch als Grundlage weiterer künftiger Forschung dienen, um dann auch die tatsächliche Effektivität sozialer Grundrechte zu analysieren. Die Grundrechtsregime einiger der neuen Mitgliedstaaten werden heutzutage meistens nur im Kontext der Rechtsstaatlichkeitskrise erwähnt (mit Hinweis auf ihre Ineffektivität in der Praxis), was traurigerweise durchaus berechtigt ist. Die hier veröffentlichten Beiträge bieten auch dazu eine schöne Ergänzung, und zwar mit traditionellen juristischen Methoden. Die Beiträge werden auch Einfluss auf potenzielle spätere großangelegte Theorien zur Rechtslage postsozialistischer Länder der EU haben. Sowohl RechtsvergleicherInnen als auch SozialrechtlerInnen werden diese gründliche und sehr informative Arbeit in Zukunft nicht ignorieren können. Der Herausgeberin und den AutorInnen ist deshalb zu danken und zu gratulieren.