MilanovićDie ungleiche Welt

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 312 Seiten, gebunden, € 25,70

ADIBUXBAUM (WIEN)

Branko Milanović, dem langjährigen Spitzenökonomen in der Weltbank, gelingt in seinem Werk „Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht“ (im englischen Original: „Global Inequality“) eine einfache und gleichzeitig eindrucksvolle Erzählung über die relevanten Zusammenhänge zwischen Globalisierungstrends und der weltweiten Entwicklung der Realeinkommen.

Die größte mediale Aufmerksamkeit bekam der anerkannte Ungleichheitsforscher dabei vor allem für jene Grafik – bekannt geworden als „Branko‘s Elephant“ –, die die GewinnerInnen und VerliererInnen der Globalisierung nach Einkommensdezilen bzw -perzentilen identifiziert (siehe Abbildung 1). Die Frage, ob denn ein Bild eines „Elefanten“ auf empirischer Basis tatsächlich die Einkommensentwicklung über zwei Jahrzehnte von rund sieben Milliarden Menschen nachzeichnen kann, erscheint auf den ersten Blick mehr als legitim. Dennoch lässt sich mit gutem Gewissen konstatieren, dass die durchaus gelungene Reduktion der Komplexität der gegebenen Realitäten bereits ein ausreichender Anstoß für viele Fragen und Dimensionen der Ungleichheit in der Welt ist.

Abbildung 1: „Branko‘s Elephant“ – Globales Wachstum der Realeinkommen 1988-2008
Q: Lakner/Milanović (2015),Zeichnung: Miriam Rehm

Dass Milanović ein Bild der Weltbevölkerung und deren Einkommensdynamik – historisch zugespitzt – zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der globalen Finanzkrise zeichnen kann, verdankt er seiner jahrelangen akribischen Aufbereitung an weltumspannenden – standardisierten – Haushaltsbefragungsdaten in Kombination mit der intellektuellen Übung, die Welt als „1 Land“ darzustellen: vom unteren Ende der Einkommensverteilung bis zum obersten. Der elefantenförmige Kurvenverlauf erzählt grob gesprochen von der Verfestigung der Armut der weltweit Ärmsten (vgl D), vom augenscheinlichen Aufstieg einer süd-ostasiatischen Mittelschicht (vgl A), dem Abstieg der unteren Mittelschicht in wohlhabenderen Ländern (vgl B) und von hohen Globalisierungsgewinnen für die Spitze der Einkommensverteilung (vgl C) in der vom Autor als „heißen Phase der Globalisierung“ bezeichneten Episode 1998 bis 2008.

Hauptprofiteure der Globalisierung der letzten 20 bis 30 Jahre sind sicher die einkommensstärksten 10 % in der Welt, die auch in Summe 60 % (!) der gesamten Einkommensgewinne für sich verzeichnen können. Aber auch jenes Fünftel der Weltbevölkerung zwischen dem vierten und sechsten Dezil – im Buch als die „globale Mittelschicht“ bezeichnet – erfährt zumindest rechnerisch mit bis zu rund plus 80 % den höchsten relativen Einkommenszuwachs zwischen 1988 und 2008. 9 von 10 Menschen dieser Gruppe leben in Asien, insb in China, Indien und anderen „emerging economies“. Durch die Öffnung der peripheren Märkte und die (Aus-)Nutzung des billigen Arbeitskräftepotenzials wurden diese Länder ebenfalls – wenn auch zu einem ökologisch und ethisch hohen Preis – zu „Profiteuren“ der Globalisierung. Absolut betrachtet – vielleicht auch verzerrt durch meine mitteleuropäische Sicht –, fällt dieser „Aufstieg“ der globalen Mittelschicht in eine Einkommensbandbreite von etwa 2-5 $ (!) netto pro Tag dennoch bescheiden aus und sollte meiner Meinung nach deshalb weniger euphorisch – zumindest kritischer – thematisiert werden als dies im Buch der Fall ist.

Neben den GewinnerInnen der Globalisierung gibt es auch den augenscheinlichen Befund, dass große Teile der Weltbevölkerung es nicht schaffen, an den Globalisierungsfortschritten und -gewinnen in einem Lebensrealitäten merklich verbessernden Ausmaß zu partizipieren. So ist es nach wie vor trist um die ärmsten Weltregionen (ua Subsahara-Zone, Afrika insgesamt) bestellt, wo sich die teils unwürdigen Lebensumstände durch die Globalisierung kaum verbessern. Auch die – ökonomisch betrachtet deutlich besser gestellten – unteren Mittelschichten in reicheren Ländern können keine oder nur minimale Einkommenszuwächse verbuchen. In (Kontinental-)Europa und den USA beispielsweise nehmen deshalb in den unteren Mittelschichten Abstiegsängste zu, gleichzeitig nimmt auch das Vertrauen in institutionelle, demokratisch legitimierte „Gegengewichte“ zur Globalisierung ab.

Milanović beschreibt umfassend den erlebten und gefühlten Abstieg in Teilen der „ersten“ Welt, den Aufstieg von globalen Plutokraten, das Entstehen neuer Mittelschichten in Asien und illustriert viele weltweite und nationale Ungleichheitsphänomene. Als Leser macht es mich aber nachdenklich, dass vor allem das ärmste Zehntel bzw Fünftel der Weltbevölkerung nicht nur von der Globalisierung „vergessen“ wurde, sondern auch vom Autor nur rudimentäre Aufmerksamkeit erfährt.

Wege zu einer „gleicheren“ Welt?

Welche Rezeptur könnte aus Milanovićs Sicht nun die bestehenden Ungleichheiten und Ungleichgewichte erfolgreich reduzieren? Innerstaatlich spricht er sich für eine stärkere Ressourcen-Umverteilung bzw Reduktion77des Ausstattungsvorsprungs (Kapital und Bildung) aus, zwischen den Ländern sollen die Unterschiede durch eine stärkere Förderung des Wachstums in ärmeren Ländern abgebaut und Hindernisse für die Migration beseitigt werden.

Die Umverteilungs-Thesen werden größtenteils als konsensfähig eingestuft, selbst wenn weltweit eine stärkere Vermögens- oder Einkommensbesteuerung von hohen Einkommen aus heutiger Sicht nur schwache Umsetzungschancen hat. Umstritten bleiben aber definitiv Milanovićs Ableitungen zur Migration: Die Forderung nach „mehr“ Migration überfordert ohne Zweifel ab bestimmten Dimensionen sowohl Regionen als auch Institutionen bereits als plakative Überschrift. Auch die im Buch angedachte Idee, nach Herkunft differenzierte Sozialschutzsysteme zuzulassen, erscheinen – sozialpolitisch wie juristisch – unausgegoren.

Vor dem Hintergrund, dass Milanović selbst aus Serbien in die USA emigriert ist, ist es umso verwunderlicher – abgesehen von juristisch nicht haltbaren Diskriminierungsansätzen –, dass er ua höhere Steuern, Erschwernisse beim Leistungszugang, niedrigere Leistungsniveaus und schlechtere Arbeitsbedingungen für MigrantInnen vorschlägt, die er damit verteidigt, dass MigrantInnen ohnedies von der Wanderbewegung profitierten.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass dem Autor eine insgesamt wunderbare Mischung aus Empirie und Erzählung gelungen ist. Sein Buch ist über weite Strecken auch für Nicht-ÖkonomInnen äußerst angenehm lesbar. Dies liegt zum einen daran, dass der vielfach verwendete Ich- bzw Wir-Stil des Autors versucht, eine inklusive Wirkung zu erzeugen. Milanović entledigt sich damit der vermeintlich abgehobenen Expertise eines Top-Ökonomen und gleichzeitig hebt sich seine persönliche Meinung klar und bewusst von gängigen Theorien und Zugängen ab. Zum anderen versucht der Autor auch stets „vereinfachend“ zu sein, ausreichend zu illustrieren und bedient sich dabei mitunter auch historischer und philosophischer Vergleiche, die eine gelungene Abwechslung zu den statistischen Beschreibungen bieten.