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[Der EuGH und das Kopftuch]

THOMASMAJOROS (WIEN)
Art 2 Abs 1 und 2; Art 4 Abs 1 RL 2000/78/EG; Art 9 EMRK; Art 10 und 16 GRC
EuGH 14.3.2017 C-157/15Samira Achbita/G4S Secure Solutions NV
  1. Art 2 Abs 2 lit a der RL 2000/78/EG ist dahin auszulegen, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung iS dieser Richtlinie darstellt.

  2. Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung iS von Art 2 Abs 2 lit b der RL 2000/78/EG darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den AG im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich.

[...]

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10 G4S ist ein privates Unternehmen, das für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor ua Rezeptions- und Empfangsdienste erbringt.

11 Am 12.2.2003 trat Frau Achbita, die muslimischen Glaubens ist, mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag als Rezeptionistin in den Dienst von G4S. Bei G4S galt zu dieser Zeit eine ungeschriebene Regel, wonach AN am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen tragen durften.

12 Im April 2006 kündigte Frau Achbita ihren Vorgesetzten an, dass sie beabsichtige, künftig während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen.

13 Die Geschäftsleitung von G4S antwortete Frau Achbita auf diese Ankündigung, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer oder religiöser Zeichen der von G4S angestrebten Neutralität widerspreche.

14 Nach einer krankheitsbedingten Abwesenheit teilte Frau Achbita ihrem AG am 12.5.2006 mit, dass sie am 15.5. ihre Arbeit wieder aufnehmen und das islamische Kopftuch tragen werde.

15 Der BR von G4S billigte am 29.5.2006 eine Anpassung der Arbeitsordnung, die am 13.6.2006 in Kraft trat und wie folgt lautete: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.

16 Am 12.6.2006 wurde Frau Achbita aufgrund ihrer festen Absicht, als Muslima am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen, entlassen. [...]

Zur Vorlagefrage

[...]

29 Zweitens ist zu klären, ob sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden internen Regel eine Ungleichbehandlung der AN wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung ergibt und – wenn ja – ob diese Ungleichbehandlung eine unmittelbare Diskriminierung iS von Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78 darstellt.

30 Im vorliegenden Fall bezieht sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen und gilt damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Daher ist davon auszugehen, dass nach dieser Regel alle AN des Unternehmens gleich behandelt werden, indem ihnen allgemein und undifferenziert ua vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt.

31 Den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist insoweit nicht zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf Frau Achbita anders angewandt worden wäre als auf jeden anderen AN.

32 Daher ist im Ergebnis festzustellen, dass eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung iS von Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78 begründet. [...]

34 Im vorliegenden Fall ist nicht ausgeschlossen, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung iS von Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 begründet, wenn sich erweist – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden.

35 Nach Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 würde eine solche Ungleichbehandlung jedoch nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung iS ihres Art 2 Abs 2 Buchst b führen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären. [...]

37 Erstens ist zur Voraussetzung des Vorliegens eines rechtmäßigen Ziels darauf hinzuweisen, dass der Wille, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig anzusehen ist.

38 Der Wunsch eines AG, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art 16 der Charta anerkannt ist, und ist grundsätzlich rechtmäßig, insb dann, wenn der AG bei der Verfolgung dieses Ziels nur die AN einbezieht, die mit seinen Kunden in Kontakt treten sollen.

39 Die Auslegung, dass die Verfolgung eines solchen Ziels innerhalb bestimmter Grenzen eine Beschränkung der Religionsfreiheit erlaubt, wird im Übrigen458durch die Rsp des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art 9 EMRK bestätigt (Urteil des EGMR vom 15.1.2013, Eweida ua gegen Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2013:0115JUD004842010, Rn 94).

40 Zweitens ist zur Angemessenheit einer internen Regel, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, festzustellen, dass das Verbot für AN, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet ist, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird (vgl in diesem Sinne Urteile vom 10.3.2009, Hartlauer, C-169/07, EU:C:2009:141, Rn 55, und vom 12.1.2010, Petersen, C-341/08, EU:C:2010:4, Rn 53).

41 Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob G4S vor der Entlassung von Frau Achbita für ihre Beschäftigten mit Kundenkontakt eine allgemeine und undifferenzierte Politik des Verbots eingeführt hatte, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen.

42 Drittens ist in Bezug auf die Erforderlichkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verbots zu prüfen, ob es sich auf das unbedingt Erforderliche beschränkt. Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob sich das Verbot des sichtbaren Tragens jedes Zeichens oder Kleidungsstücks, das mit einem religiösen Glauben oder einer politischen oder philosophischen Überzeugung in Verbindung gebracht werden kann, nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden AN von G4S richtet. Ist dies der Fall, ist das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen.

43 Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich der Weigerung einer AN wie Frau Achbita, im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit bei Kunden von G4S auf das Tragen des islamischen Kopftuchs zu verzichten, vom vorlegenden Gericht zu prüfen, ob es G4S, unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre, ihr in Anbetracht dieser Weigerung einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht aller Umstände, die sich aus den Akten ergeben, den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen. [...]

ANMERKUNG

Angesichts so mancher aktueller Diskussionen wäre man – frei nach Marx/Engels (Manifest der Kommunistischen Partei [1848]) – versucht zu sagen: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kopftuchs“. „Gespenstisch“ wäre daran gar nichts, würde man sich auf eine Versachlichung der Diskussion, wechselseitigen Respekt und ebensolche Toleranz verständigen. Letztere wäre dem jeweiligen Gegenüber gleichermaßen entgegen zu bringen wie von ihm einzufordern; als „Richtschnur“ für die (notwendigen) Grenzen der Toleranz können die bspw der EMRK zugrunde liegenden Werte unserer Gesellschaft herangezogen werden. In zwei aktuellen Vorabentscheidungsverfahren musste der EuGH zu damit im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen Stellung nehmen.

1.
Diskriminierung wegen Religion

Der Begriff „Religion“ ist, worauf auch der EuGH hinweist, in der Richtlinie nicht definiert. Als maßgeblich werden in der Literatur (siehe dazu etwa jüngst Mazal, Religion und Weltanschauung, ZAS 2017, 140) bspw die Typenelemente „umfassende Deutung der Welt und der Stellung des Menschen in ihr, Transzendenzbezug und entsprechende Handlungsanleitung“ gesehen (Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht [2003] 3). Dem Ziel der Gleichbehandlungsrahmen-RL (RL 2000/78/EG) entsprechend ist der Begriff „Religion“ weit auszulegen und ist nicht auf gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften beschränkt (Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG [2009] § 17 mwN Rz 17 und 19). Nach den Materialien zum österreichischen GlBG fällt „auch das Tragen von religiösen Symbolen und Kleidungsstücken (zB Turbane) in den Schutzbereich, da aus den Kleidungsstücken eine bestimmte Religionszugehörigkeit der Träger/innen abgeleitet bzw diese als Ausdruck einer bestimmten Religion aufgefasst werden“ (RV 307 BlgNR 22. GP 15). Dies steht iZm der Rsp des EGMR zu Art 9 EMRK, wonach Religionsfreiheit nicht nur die Glaubensfreiheit („forum internum“), sondern auch die Bekenntnisfreiheit („forum externum“) – womit auch das Tragen bestimmter Kleidungsstücke oder die Werbung für das eigene Bekenntnis eingeschlossen sind – und die Kultusfreiheit (iSd freien Religionsausübung) umfasst (Bezemek/Blauensteiner in

Holoubek/Lienbacher
[Hrsg], GRC [2014] Art 10 mwN Rz 8).

2.
Unmittelbare/mittelbare Diskriminierung?
2.1.
Entscheidung des EuGH und Schlussanträge

GA Sharpston kommt (im konkreten Fall lag ein individuelles „Kopftuchverbot“ vor) zum klaren Ergebnis einer unmittelbaren Diskriminierung, zumal die „Entlassung von Frau Bougnaoui mit einer Regelung der Bekleidungsvorschriften ihres Arbeitgebers in Verbindung stand, die ein Verbot des Tragens religiöser Bekleidung vorsahen“ (Schlussantrag 13.7.2016, C-188/15, Rz 84). Demgegenüber geht GA Kokott von einer allenfalls mittelbaren Diskriminierung aus, da sich „weder eine Benachteiligung der Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft gegenüber den Anhängern anderer Religionen feststellen“ lasse noch „eine Behandlung religiöser Personen gegenüber nicht religiösen Personen oder gegenüber bekennenden Atheisten zu verzeichnen“ sei (Schlussantrag 31.5.2016, C-157/15, Rz 43-48). Der Gerichtshof weist in der Rs Bougnaoui ausdrücklich darauf459hin, dass vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird, ob die „Entlassung“ von Frau Bougnaoui auf einen Verstoß gegen eine innerhalb des Unternehmens geltende interne Regel gestützt war oder nicht (woran in weiterer Folge die in der E Achbita dargestellte Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung anknüpft).

2.2.
Unterscheidung unmittelbare/mittelbare Diskriminierung

Grundsätzlich spricht man von einer unmittelbaren Diskriminierung, wenn das verpönte Kriterium als Unterscheidungsmerkmal herangezogen wird (Körber-Risak, Die Gleichbehandlungspflichten im Arbeitsrecht, in

Mazal/Risak
[Hrsg], Das Arbeitsrecht, Kap VIII Rz 65). Am Beispiel der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts müsste somit eine Maßnahme ausdrücklich oder ihrem Inhalt nach an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Rebhahn in
Rebhahn
[Hrsg], GlBG [2005] § 5 Rz 5). Eine unterschiedliche Behandlung, die in direktem oder ausdrücklichem Bezug auf den Geschlechtsunterschied erfolgt, wäre eine unmittelbare Diskriminierung (Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG § 5 mwN Rz 10). Gleiches gilt, wenn das Unterscheidungskriterium nur von einem Geschlecht erfüllt wird, zB Schwangerschaft (Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG § 5 mwN Rz 10).

Nach der Rsp ist eine unmittelbare Diskriminierung etwa anzunehmen bei einer Einstellungsverweigerung/„Entlassung“ wegen Schwangerschaft (EuGH 8.11.1990, C-177/88, Dekker; EuGH 4.10.2001, C-109/00, Tele Danmark A/S); einer nationalen Regelung, die eine Kündigung von AN mit Anspruch auf Alterspension erlaubt, wenn Frauen diesen Anspruch fünf Jahre früher erwerben (EuGH 18.11.2010, C-356/09, Kleist); oder bei der unterschiedlichen Behandlung von AN dahingehend, ob sie verheiratet sind, wenn die Ehe Personen unterschiedlichen Geschlechts vorbehalten ist (EuGH 12.12.2013, C-267/12, Hay; EuGH 10.5.2011, C-147-08, Römer; EuGH 1.4.2008, C-267/06, Maruko). Das „klassische“ Beispiel einer mittelbaren Diskriminierung sind Benachteiligungen von Teilzeitbeschäftigten, wenn davon erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind (EuGH 23.10.2003, C-4/02 und C-5/02, Schönheit und Becker; EuGH 2.10.1997, C-100/95, Kording; EuGH 10.3.2005, C-196/02, Nikoloudi).

Nach Hopf/Mayr/Eichinger ist bereits die Legaldefinition der mittelbaren Diskriminierung (Differenzierung anhand „dem Anschein nach neutraler Vorschriften, Kriterien und Verfahren“) bei religiösen Kleidungsstücken und Symbolen nicht erfüllt, weil diese „gerade keine neutralen Unterscheidungsmerkmale“ sind (Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG § 17 Rz 36). Nach Windisch-Graetz ist die Weigerung, eine Muslima mit Kopftuch einzustellen, eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion, da das islamische Kopftuch Zeichen einer bestimmten religiösen Einstellung ist (Windisch-Graetz in

Rebhahn
[Hrsg], GlBG § 17 Rz 25; vgl auch Windisch-Graetz in
Neumayr/Reissner
[Hrsg], ZellKomm I2 § 17 GlBG Rz 15). In diesem Sinn wurde auch vom OGH die Benachteiligung aufgrund islamischen Gesichtsschleiers und Kopftuchs als unmittelbare Benachteiligung angesehen (OGH9 ObA 117/15vDRdA 2017, 50 [Rebhahn] = ZAS 2017, 38 [Marhold] = ecolex 2016, 809 [Dullinger] = juridicum 2016, 420 [Smutny]).

Setzt aber eine unmittelbare Diskriminierung voraus, dass dabei zwischen verschiedenen Religionen/Weltanschauungen differenziert wird? Nach Windisch-Graetz ist hier zu fragen, „ob in einer vergleichbaren Situation ein AN jeder anderen Religion gleich behandelt würde wie eine Muslima, die ein Kopftuch trägt“ – in diesem Fall sei der Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung nicht erfüllt. Allerdings werde man in den meisten Fällen zur Annahme einer mittelbaren Diskriminierung gelangen, „zumal das Verbot, bestimmte Kopfbedeckungen zu tragen, in der Regel nur Angehörige mit bestimmter Religionszugehörigkeit treffen, so etwa Juden, Sikhs, Muslimas“ (Windisch-Graetz in

Brünner
[Hrsg], Diskriminierung aus religiösen Gründen [2009] 49 f). In ähnlicher Weise differenziert Thüsing danach, ob das eigentliche Unterscheidungsmerkmal ein „einheitliches, nicht zwingend an das Religionsmerkmal gebundenes Plus“ ist (Thüsing, Diskriminierung wegen der Religion in
Tomandl/Schrammel
[Hrsg], Arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbote [2005] 22 f).

2.3.
Bewertung der Ergebnisse des EuGH

Berka (Religion, Weltanschauung und Arbeitsverhältnis, DRdA 2017, 247 ff [3.3.]) weist darauf hin, dass das Argument von GA Kokott, bei den Fällen der unmittelbaren Diskriminierung gehe es „stets um unabänderliche Körpermerkmale oder persönliche Eigenschaften von Menschen – etwa das Geschlecht, das Alter oder die sexuelle Ausrichtung – und nicht um Verhaltensweisen, die auf einer subjektiven Entscheidung oder Überzeugung beruhen, so wie hier das Tragen oder Nichttragen einer Kopfbedeckung“ (Schlussantrag GA Kokott, Rz 45) insofern fragwürdig ist, als damit der Schutz vor religiöser Diskriminierung ausgehebelt wird (gegen dieses Argument auch Kalb/Wakolbinger, Das Kopftuch am Arbeitsplatz im Lichte der EuGH-Judikatur, JAS 2017, 154 [160]). Überspitzt ausgedrückt könnte man mit dem Argument von GA Kokott eine unmittelbare Diskriminierung auch im Falle der Kündigung einer AN wegen ihrer subjektiven Entscheidung für eine Schwangerschaft verneinen, was – aus gutem Grund – jedenfalls vom EuGH so nicht vertreten wird.

Berka kommt trotz Ablehnung dieses Arguments dennoch zum selben Ergebnis wie GA Kokott, da „das Selbstbestimmungsrecht in Dingen des Glaubens und der Weltanschauung ... nur dann beeinträchtigt [wäre], wenn das Bekenntnis für oder gegen eine bestimmte Religion oder für oder gegen eine bestimmte Weltanschauung einschließlich des Atheismus beeinträchtigt würde“. Wenn sich eine betriebliche Bekleidungsvorschrift hingegen auf „alle Manifestationen des Glaubens und andere Ausdrucksformen einer Weltanschauung“ erstrecke, käme es „zu keiner Bevorzugung oder460Benachteiligung religiöser AN im Verhältnis zu solchen, die einen anderen Glauben haben, die der Religion fernstehen oder sie als bekennende Atheisten ablehnen“ (Berka, DRdA 2017, 247 ff [3.3.] unter Berufung auf Schlussantrag GA Kokott, Rz 52). Nach Kalb/Wakolbinger (JAS 2017, 154 [160]) wäre auch dies unzulässig, weil damit direkt an die geschützten Merkmale Religion und Weltanschauung angeknüpft wird und „AN, die eine bestimmte Überzeugung – religiöser, politischer oder philosophischer Natur – offen zum Ausdruck bringen wollen“ gegenüber „jenen, die dies nicht wollen“, diskriminiert würden.

Auszugehen ist mit Berka zunächst vom grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Grundrecht auf Religionsfreiheit (Art 9 EMRK; Art 10 GRC) und dem Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Religion (Art 2 RL 2000/78/EG; Art 21 GRC): „Der Diskriminierungsschutz untersagt dem AG eine Benachteiligung aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen sowie eine Bevorzugung deswegen; er gewährleistet aber nicht die freie Ausübung des Glaubens oder einer Weltanschauung“ (Berka, DRdA 2017, 247 ff [2.3.]).

Ob ein innerbetriebliches „Neutralitätsgebot“ eine unmittelbare oder eine mittelbare Ungleichbehandlung darstellt, ist somit daran zu messen, ob und in welcher Art und Weise dabei differenziert wird. Umfasst daher ein derartiges „Neutralitätsgebot“ alle AN in gleicher Weise, scheidet eine unmittelbare Diskriminierung aus, obwohl direkt an das Merkmal „Religion“ bzw „Weltanschauung“ angeknüpft wird. Hier wird zwar das Grundrecht der Religionsfreiheit eingeschränkt (was bei der Frage der Rechtfertigung dieser Einschränkung zu prüfen ist), es erfolgt aber weder eine Bevorzugung noch eine Benachteiligung von AN im Verhältnis zu – allenfalls hypothetischen – „Vergleichspersonen“ (AN mit einem anderen religiösen/weltanschaulichen Standpunkt). Dies würde aber voraussetzen, dass jede/r AN eine religiöse oder weltanschauliche Auffassung hat. Ansonsten gäbe es nämlich sehr wohl eine (reale oder hypothetische) „Vergleichsgruppe“ – jene AN, die keinen Standpunkt zu all diesen Fragestellungen haben –, anhand derer eine Ungleichbehandlung festzustellen wäre. Im Gegensatz dazu sind etwa sowohl Atheismus als auch Agnostizismus Weltanschauungen, indem sie eine intellektuelle Befassung mit Religion/Weltanschauung voraussetzen und eine Stellungnahme dazu beinhalten. Völlige Gleichgültigkeit zu all diesen Fragen wird man aber schwer als „Weltanschauung“ ansehen können. Dass an das Merkmal „Religion/Weltanschauung“ angeknüpft wird – wenn auch über das „Bekennen“ derselben –, spricht in diesem Sinn für eine unmittelbare Diskriminierung. Zum gegenteiligen Ergebnis könnte man gelangen, wenn man alle AN vom „Neutralitätsgebot“ gleich umfasst sieht (somit auch völlige Gleichgültigkeit zu allen religiösen/weltanschaulichen Fragen ein „Standpunkt“ wäre, der zumindest hypothetisch einem innerbetrieblichen „Neutralitätsgebot“ widersprechen könnte) oder wenn man das Merkmal „Tragen eines religiösen/weltanschaulichen Symbols“ vom Merkmal „Religion/Weltanschauung“ trennt. Gerade Letzteres stünde aber im Widerspruch zur Aussage des EuGH, „dass der Begriff der Religion in Art. 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er... auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfasst“ (Rs Bougnaoui, Rn 30; Rs Achbita, Rn 28). Das Ergebnis des EuGH in der Rs Achbita mag zwar eine Abwägung der jeweiligen Grundrechte (insb unternehmerische Freiheit/Religionsfreiheit) erleichtern, ist mE aber iSd obigen Ausführungen nur schwer mit Art 2 RL 2000/78/EG in Einklang zu bringen – auch wenn einem im konkreten Fall der „Diskriminierungsgehalt“ relativ gering erscheinen mag und der Schwerpunkt bei der Einschränkung der Religionsfreiheit liegen dürfte. Anders wäre dies etwa bei Bekleidungsvorschriften („Dienstkleidung“/„Uniform“) zu sehen, sofern diese keinen direkten Bezug zu Religion/Weltanschauung herstellen und dennoch derartige Symbole faktisch ausschließen. Im Übrigen wird bei Sachverhalten wie jenen in der Rs Achbita auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art 2 Abs 1 lit b RL 2006/54/EG) sowie aufgrund ethnischer Zugehörigkeit (Art 2 Abs 2 lit b RL 2000/43/EG) vorliegen.

Der EuGH hat sich mit all diesen Spitzfindigkeiten erst gar nicht aufgehalten und den – zur Unterscheidung „unmittelbar/mittelbar“ geknüpften – „Gordischen Knoten“ wohl eher durchschlagen als ihn gelöst.

3.
Rechtfertigung der (un)mittelbaren Diskriminierung
3.1.
Berücksichtigung der Grundrechte

Die RL 2000/78/EG nimmt in ErwGr 1 auf die Menschenrechte, wie sie insb in der EMRK gewährleistet sind, Bezug. Auch ist ein Unionsrechtsakt (und somit auch eine Richtlinie) generell „so weit wie möglich ... im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere den Bestimmungen der Charta auszulegen“ (EuGH 19.9.2013, C-579/12 RX-II, Kommission/Strack; EuGH 31.1.2013, C-12/11, McDonagh; EuGH 15.2.2016, C-601/15 PPU, J.N./Staatssecretaris van Veiligheit en Justitie; EuGH 18.7.2013, C-426/11, Herron ua). Darüber hinaus haben die Grundrechte der Charta, wenn sie jenen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie diese (Art 52 Abs 3 GRC). Die in Art 9 EMRK und Art 10 GRC gewährleistete Religionsfreiheit darf somit bei der Auslegung des Art 4 RL 2000/78/EG ebenso wenig verletzt werden wie das Grundrecht auf unternehmerische Freiheit (Art 16 GRC) oder das Eigentumsrecht (Art 17 GRC, Art 1 1. ZP zur EMRK).

Die unternehmerische Freiheit gem Art 16 GRC umfasst auch die Dispositionsfreiheit, somit die Freiheit, unternehmerische Planungs- und Grundsatzentscheidungen zu treffen (Stern/Sachs, GRC [2016] Art 16 mwN Rz 10). Sie kann aber nach der Rsp des EuGH nicht „schrankenlos“ gelten, sondern ist „im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion“ zu sehen. Es ist somit ein „angemessenes Gleichgewicht zwischen der unter-461nehmerischen Freiheit und kollidierenden Rechten zu gewährleisten“ (Stern/Sachs, Art 16 mwN Rz 15). Ähnliches gilt für Beschränkungen des Eigentumsrechts (Stern/Sachs, Art 17 Rz 15 ff).

Zur Frage religiöser Symbole/Kleidungsstücke sei bspw auf folgende Aussagen des EGMR hingewiesen: Rechtfertigung eines gesetzlichen Verbotes der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit durch das öffentliche Interesse des Schutzes der zwischenmenschlichen Kommunikation – Bewahrung der Bedingungen für ein Zusammenleben als ein Element des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer (EGMR 1.7.2014 [GK] 43835/11, SAS/Frankreich); Rechtfertigung von „Kopftuchverboten“ für Studierende – Schutz der „Säkularität“ (EGMR 10.11.2005 [GK], 44774/98, Sahin/Türkei); für SchülerInnen während des Sportunterrichts – Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen (EGMR 4.12.2008, 27058/05 und 31645/04, Dogru und Kervanci/Frankreich); für eine Lehrerin an einer Grundschule – Achtung der Neutralität des Grundschulunterrichts (EGMR 15.2.2001, 42393/98, Dahlab/Schweiz) oder für eine Sozialarbeiterin in einem öffentlichen Krankenhaus – Schutz des „Laizismus“ (EGMR 26.11.2015, 64846/11, Ebrahimian/Frankreich). Die Aussagen dieser Entscheidungen sind im Hinblick auf deren Bezug zum „öffentlichen Sektor“ und teilweise vorhandener Regelungen betreffend „Säkularität“ bzw „Laizismus“ nur bedingt verallgemeinerungsfähig. Für den „privaten Sektor“ direkt aussagekräftig ist hingegen eine E aus dem Jahr 2013 (EGMR 15.1.2013, 48420/10 ua, Eweida ua/Vereinigtes Königreich). Darin wurde das an eine Mitarbeiterin des Bodenpersonals einer privaten Fluggesellschaft gerichtete Verbot, ein „Kettchen“ mit Silberkreuz zu tragen, als ungerechtfertigter Eingriff in die Religionsfreiheit angesehen. Trotz der vorgesehenen Dienstkleidung vermochte das „diskrete“ Kreuz nicht von ihrem beruflichen Erscheinungsbild abzulenken. Es gab auch keine Hinweise, dass das Tragen anderer – erlaubter – religiöser Kleidungsstücke wie Turban und „Hidschab“ negative Auswirkungen auf die „Marke“ gehabt hätte. Auf Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) musste der EGMR wegen der festgestellten Verletzung des Art 9 EMRK gar nicht mehr eingehen. (Das Verbot, eine Halskette mit Kreuz zu tragen, war nach derselben E hingegen bei einer Krankenschwester in der Geriatrie-Abteilung eines staatlichen Hospitals aus Sicherheitsgründen gerechtfertigt.)

3.2.
Unmittelbare Diskriminierung

Die Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung setzt zunächst voraus, dass es sich beim entsprechenden Merkmal gem Art 4 Abs 1 RL 2000/78/EG um eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung handelt. Bereits die Erwägungsgründe zur Richtlinie halten fest, dass eine Rechtfertigung nur unter sehr begrenzten Bedingungen möglich ist (ErwGr 23). Es muss sich dabei um spezifische berufliche Anforderungen für eine bestimmte Tätigkeit handeln. Diese Anforderungen sind eng zu verstehen, sodass nur solche beruflichen Anforderungen abgedeckt sind, die unbedingt zur Ausführung der betreffenden Tätigkeit notwendig sind (Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG § 20 mwN Rz 5). Gem Art 4 Abs 1 RL 2000/78/EG können sich diese aber auch auf die Bedingungen ihrer Ausübung beziehen. In den Materialien zum GlBG wird bspw die Besetzung einer Rolle mit einem Schauspieler, der aus Authentizitätsgründen einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören soll, als zulässig angeführt (RV 307 BlgNR 22. GP 16). Nach der Rsp des EuGH wäre etwa ein Höchstalter für die Einstellung in die Laufbahn des mittleren feuerwehrtechnischen Dienstes mit 30 Jahren (EuGH 12.10.2010, C-229/08, Colin) oder ein solches mit 35 Jahren für Beamte einer Polizei, die sämtliche dieser Polizei obliegende Einsatz- und Vollzugsaufgaben wahrnehmen (EuGH 15.11.2016, C-285/15, Sorondo), gerechtfertigt.

Angesichts dieser Vorgaben ist dem EuGH (Rs Bougnaoui) ohne Einschränkung dahingehend zuzustimmen, dass der bloße Wunsch eines Kunden keine derartige „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ darstellt. Sieht man auch den Sachverhalt in der Rs Achbita als unmittelbare Diskriminierung, wäre auch dort eine Rechtfertigung schwer vorstellbar. Hier müssten – iS einer grundrechtskonformen Interpretation des Art 4 Abs 1 RL 2000/78/EG – derart gravierende Interessen des/der AG vorliegen, dass eine Ausübung der betreffenden Tätigkeit ohne „Neutralität“ kaum denkbar wäre. Umso mehr würde das Bedürfnis nach einem „einheitlichen Auftreten“ allein nicht ausreichen – es sei denn, dieses wäre aufgrund von Branchenüblichkeit geradezu zwingend erforderlich, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und allfällige religiöse/weltanschauliche Symbole ließen sich damit nicht in Einklang bringen (was jedoch im Einzelfall streng zu prüfen sein wird). Jedenfalls gerechtfertigt wären derartige Beschränkungen hingegen bspw, wenn diese aus Sicherheits- oder Hygienegründen erforderlich sind.

3.3.
Mittelbare Diskriminierung

Einfacher ist die Rechtfertigung bei mittelbaren Diskriminierungen. Sieht man den Sachverhalt in der Rs Achbita als mittelbare Ungleichbehandlung, erscheint eine derartige Rechtfertigung iSd Art 2 Abs 2 lit b sublit i RL 2000/78/EG denkbar. Jedoch kann mE der „Wille“ des/der AG, gegenüber Kunden „neutral“ aufzutreten, allein nicht ausreichen. Dieser Wunsch gehört zwar zur unternehmerischen Freiheit und ist grundsätzlich legitim, wäre aber entsprechend mit der Religionsfreiheit (Art 10 GRC) und dem Diskriminierungsverbot (Art 21 GRC) abzuwägen (in diesem Sinn Berka, DRdA 2017, 247 ff [3.5.]). Es wäre daher zu hinterfragen, welches konkrete Interesse der/die AG an einer derartigen „Neutralitätspolitik“ hat, weshalb eine solche für ihn/sie von Bedeutung ist und warum dieses Interesse höher zu werten ist als das Interesse des/der AN am Tragen religiöser Symbole/Kleidungsstücke (und an diskriminierungsfreier Behandlung). Die Anforderungen an die Rechtfertigung wird man hoch ansetzen müssen, da ansonsten die Gefahr462besteht, dass lediglich stereotypischen Erwartungshaltungen entsprochen wird und damit Vorurteile, denen die RL 2000/78/EG entgegenwirken möchte, verfestigt werden. In diesem Zusammenhang werden zumindest Differenzierungen hinsichtlich Geschäftsbereich des Unternehmens und Art der angebotenen Leistungen vorzunehmen sein. Das Erfordernis einer strengen Prüfung erfasst dabei insb auch die vom EuGH geforderte kohärente und systematische Vorgangsweise sowie die Frage, ob sich das Verbot auf das unbedingt Erforderliche beschränkt. Bei einem bloßen Bedürfnis nach einem „einheitlichen Auftritt“ wird man darüber hinaus auch zu fragen haben, ob es – iSd Rsp des EGMR – nicht möglich ist, religiöse Symbole/Kleidungsstücke in eine „Dienstuniform“ zu integrieren, ohne die „Marke“ zu beeinträchtigen. Generell unzulässig erscheint jedoch ein „Neutralitätsgebot“ ohne Bezug zu Kundenkontakten (etwa um interne religiöse/weltanschauliche Diskussionen im Betrieb zu vermeiden): Hier ist der/die AG gefordert, im Rahmen seiner/ihrer Fürsorgepflicht Vorurteilen entgegen zu wirken, innerbetriebliche Konflikte zu lösen und gegebenenfalls unerwünschten „missionarischen Eifer“ einzelner AN (religiös oder politisch/weltanschaulich bedingt) abzustellen.