KrohmWeitergeltung & Nachwirkung – Kollektivrechtliche Vergütungsordnungen im Lichte von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG

Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, 325 Seiten, broschiert, € 84,–

BARBARATROST (LINZ)

(Dieses Buch ist zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Tarifvertrag und betrieblicher Mitbestimmung, in Caspers/Giesen/Jacobs/Konzen [Hrsg], Studien zum Arbeitsrecht, Bd 1.)

Die vorliegende umfassende wissenschaftliche Untersuchung wurde 2013 an der Bucerius Law School Hamburg als Dissertation vorgelegt. Auf den ersten Blick wäre man geneigt, den hier gewählten Forschungsgegenstand aus der Sicht österreichischer ArbeitsrechtlerInnen als „hochinteressant, aber nur für SpezialistInnen“ in die Kategorie „akademischer Diskurs auf höchster Ebene“ einzuordnen. Dies mag vor allem daran liegen, dass sich Österreich und Deutschland im Arbeitsrecht – anders als sprichwörtlich – nicht durch die gemeinsame, sondern eben durch die unterschiedliche Sprache unterscheiden. So begegnen uns gleich zu Beginn der Arbeit von Ingmar Krohm feinsinnige Abgrenzungen der sich hinter den Begriffen „Nachwirkung, Nachbindung und Weitergeltung“ verbergenden Phänomene. Erst einmal neugierig geworden, erfahren wir bald, dass wir uns hier keineswegs im obersten Stockwerk des Elfenbeinturms befinden, sondern – ganz im Gegenteil – absolut am Boden der harten Realität des Kampfes um die Grundlagen der Entlohnung und zugleich mitten in einer der – in Deutschland ebenso wie in Österreich – spannendsten und sozialpolitisch brisantesten Auseinandersetzungen rund um die Lohnpolitik: Es geht um die Abgrenzung betrieblicher und überbetrieblicher Regelungsbefugnisse. Festzuhalten ist vorweg, dass sich die Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland hier keinesfalls auf die Begrifflichkeit beschränken. Sozialpolitik und deren rechtliche Manifestierung sind hier grundverschiedene Wege gegangen.

Stark vereinfacht, lässt sich die Thematik wie folgt darstellen: Durch das BAG-Urteil vom 2.3.2004, 1 AZR 271/03 (NZA 2004, 852) und eine Reihe von nachfolgenden Urteilen hat das BAG in Abweichung von der bisherigen Praxis die Nachwirkung eines gekündigten Tarifvertrages hinsichtlich der Grundlagen für die Vergütung de facto auf AN erstreckt, die erst nach Kündigung in den Betrieb eingetreten waren. Begründet wurde diese Weitergeltung aber nicht mit einer extensiven Auslegung der Nachwirkung gem § 4 Abs 5 TVG, welche von der hM stets abgelehnt worden war. Vielmehr stützt das Gericht in seiner (in der Tat nicht sehr ausgefeilten) Begründung den Anspruch des AN darauf, dass das nach Wegfall des Tarifvertrags wieder in vollem Umfang erstandene Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG verletzt worden sei, eine einzelvertragliche Neuregelung der Vergütungsgrundlagen daher nicht wirksam entstehen konnte („Wirksamkeitsvoraussetzung“ der Mitbestimmung) und damit die Grundlagen nach dem bereits gekündig-218ten Tarifvertrag auch für neu eingestellte AN Gültigkeit habe. Ergänzend dazu ist zu bemerken, dass im konkreten Anlassfall der (als nichtig erkannte) einzelvertragliche Umstieg auf ein neues System bei nominell gleicher Entgelthöhe für den AN von Nachteil gewesen wäre. Das Konstrukt der „Weitergeltung“ rettete also dem AN die für die schon im Betrieb gewesenen AN geltenden günstigeren Bedingungen und verpflichtete den AG zu einer Nachzahlung.

Einleuchtend erklärt Krohm, dass es sich bei dieser Art der Geltung des Tarifvertrags um keine Nachwirkung handeln könne, weil eben für genau jenen neu eingestellten AN der Tarifvertrag noch nie Gültigkeit gehabt hatte. Die Argumente im Detail finden sich im ausgewerteten arbeitsrechtlichen Schrifttum (S 166 ff). Die überwiegend ablehnenden Stellungnahmen prangern vor allem dogmatische Mängel in der Begründung an. Vereinfacht könnte man zusammenfassen: Trifft die Kassation einer Regelung (hier: Einzelvertrag) auf ein Vakuum (hier: weder gültige tarifliche noch gültige betriebliche Regelung), so könne nicht aus dem Nichts (hier: gem § 4 Abs 5 TVG nicht mehr geltender Tarifvertrag) eine Anspruchsgrundlage gezaubert werden. Vereinzelte Befürworter der neuen BAG-Judikatur argumentieren sozialpolitisch vernünftig, aber letztendlich dogmatisch nicht so überzeugend, dass damit der manifesten Kritik der Boden entzogen werden könnte. An dieser Stelle setzt die verdienstvolle wissenschaftliche Leistung von Krohm ein (vgl insb S 186 ff; was nicht heißen soll, dass nicht auch die Aufbereitung der Materie bis dorthin schon wegen der Präzision und inhaltlichen Dichte von enormen Nutzen wäre!). Ergänzend ist anzumerken, dass hier nur auf einen kleinen Ausschnitt der auch im Übrigen beeindruckend gründlichen Ausführungen des Autors eingegangen werden kann.

Als eine der Kernthesen soll hervorgehoben werden, dass die Gestaltung des Übergangs von einem tarifvertraglichen zu einem betrieblichen Ordnungsgefüge im gegenwärtigen Regelungsmodus ein systemimmanentes Defizit im AN-Schutz darstelle. Dies ergebe sich insb aus der während des Bestehens des Tarifvertrags zum Tragen kommenden Sperrwirkung des Tarifvertragsvorbehalts. Eine Vorsorge für eine Kontinuität der dem AN-Schutz dienenden Vergütungsregelungen könne daher bei aufrechtem Tarifvertrag gar nicht getroffen werden, sodass der Zeitpunkt des Wegfalls desselben erst der frühestmögliche für den Einsatz der zwingenden Mitbestimmung wäre. Im Ergebnis habe daher das BAG durch das neue Konstrukt der Weitergeltung lediglich das systemimmanente Schutzdefizit ausgeglichen.

Übersetzt in die Sprache des österreichischen Arbeitsrechts hieße dies (etwa), dass eine durch das Nichtvorliegen eines KollV bedingte Art der betrieblichen Mitbestimmung erst nach Wegfall des KollV ausgeübt werden könnte. Vergleicht man nun aber § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG von seiner Konstruktion her mit strukturell (nicht inhaltlich!) verwandten Mitbestimmungstatbeständen in Österreich, so würde man am ehesten bei der notwendigen Mitbestimmung (wie in § 96a ArbVG) landen, einer Intensitätsstufe des Eingriffs also, bei der zunächst (bei sonstiger Rechtsunwirksamkeit der Maßnahme – vgl in Deutschland „Wirksamkeitsvoraussetzung“) die Mitbestimmung durchzuführen ist, im Falle des Scheiterns dann die Schlichtungsstelle (in Deutschland die Einigungsstelle) angerufen werden kann. Während aber in Österreich je nach Auffassung von einer bloß bedingt erzwingbaren Mitbestimmung oder einer bedingt notwendigen Mitbestimmung zu reden ist (vgl zur Unterscheidung zB Trost, Ausgewählte Strukturprobleme der Mitwirkung nach der Arbeitsverfassungsgesetz-Novelle 1986,

DRdA 1989, 1 ff [13 f]
), muss die im deutschen § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG verankerte Mitbestimmungsart als „bedingte Mitbestimmung“ erkannt werden. Soll heißen: Bei Vorliegen eines Tarifvertrags nicht nur Wegfall der Erzwingbarkeit oder Wegfall der Notwendigkeit, sondern keine wie immer geartete Möglichkeit der Mitbestimmung durch den BR – ein Modell, das strukturell im österreichischen ArbVG nur in einer einzigen Bestimmung eine annähernde Entsprechung findet, nämlich in § 47 Abs 1 ArbVG (bzw der Parallelregelung in § 97 Abs 1 Z 11 ArbVG).

Dies ist nur logisch und konsequent, ist doch auch inhaltlich § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG mit keinem Mitbestimmungstatbestand des österreichischen Arbeitsrechts verwandt. Kurz: Der Grundsatz, dass allgemeine Entgeltfragen kein Regelungsgegenstand betrieblicher Mitbestimmung sind, ist in Österreich (jedenfalls im Recht) konsequent verwirklicht. In Deutschland ist das in § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG verankerte Mitbestimmungsrecht bei Vergütungsgrundsätzen immerhin auch zumindest an die Nichtexistenz eines Tarifvertrags gebunden, und zwar nicht nur hinsichtlich der Erzwingbarkeit oder der Notwendigkeit (wie in Österreich beim erwähnten Mitwirkungsrecht hinsichtlich von Datenerfassungssystemen), sondern überhaupt prinzipiell hinsichtlich der Existenz des Mitbestimmungsrechts überhaupt, sodass also im Geltungsbereich von Tarifverträgen hinsichtlich von Vergütungsgrundsätzen – betriebliche Mitbestimmung hinsichtlich der Lohnhöhe ist ohnehin auch in Deutschland gänzlich ausgeschlossen – auch kein fakultativer (!) Abschluss von Betriebsvereinbarungen in Betracht kommt.

Schon die bis hierher aufgezeigten Unterschiede der Systeme sollten jedenfalls deutlich machen, dass die aus der Untersuchung von Krohm für Deutschland gewonnenen Erkenntnisse weder als Proklamation noch als Vision auf Österreich übertragen werden können. Insb hat weder die Rsp des BAG noch die feinsinnig dogmatische Unterlegung derselben durch die vorliegende wissenschaftliche Arbeit das Tor zu einer generellen Verlagerung von Entgeltregelungen auf die betriebliche Ebene aufgestoßen. Die Wahrheit ist eine andere: Das BAG hat mit seiner Leitentscheidung aus 2004 und (in gewissem Umfang zu Recht) auch den nachfolgenden Urteilen einzelne aus vorangegangenen Fehlentwicklungen resultierende Systemschwachstellen zu korrigieren versucht. Nicht von ungefähr ging es in dem der Leitentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt um einen sogenannten (Haus-)Tarifvertrag (in Österreich Firmen-KollV). Anders als in Österreich ist in Deutschland der echte (und zulässige) Haustarifvertrag jedenfalls so verbreitet, dass die (willkürliche) Kündigung desselben durch die/den AG ein nicht zu vernachlässigendes Problem ist. Insb aus diesem Grund kommt dem § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG an sich und in der Folge auch seiner Auslegung durch das BAG eine immense sozialpolitische Bedeutung zu. Ein weiterer elementarer Unterschied zwischen den Arbeitsrechtsordnungen in Österreich und Deutschland liegt darin, dass eine dem § 12 ArbVG entsprechende Außenseiterwirkung dem deutschen Tarifvertragsrecht fremd ist, zumal die Nachbindung gem § 3 Abs 3 TVG eine vorher bestandene Gewerkschaftsmitgliedschaft voraussetzt. Auch zur Schließung dieser Schutzlücke erfüllt die betriebliche Mitbestimmung dort eine wichtige Funktion.

Anschaulich zeigt Krohm, wie mühsam, dogmatisch geradezu akrobatisch und von scharfen Auseinandersetzungen begleitet bei den beschriebenen rechtlichen Rahmenbedingungen versucht werden muss, eine sozial verträgliche Kontinuität herzustellen – all das zur Korrektur der negativen Auswirkungen einer längst schon eingetretenen Verlagerung maßgeblicher Teile der Lohnpolitik auf die Unternehmensebene. Als Ergebnis findet LeserIn also in der vorliegenden Studie nicht nur eine tiefschürfende wissenschaftliche Analyse und spannende Lektüre, sondern auch ein Plädoyer für die Beibehaltung und Stärkung gewisser Vorzüge des österreichischen Systems: Branchenkollektivverträge, Außenseiterwirkung, prinzipiell keine generellen Entgeltregelungen in Betriebsvereinbarungen – und all die Probleme, die das deutsche Arbeitsrecht erschütterten, lösen sich mit einem Schlag in Luft auf!