Die Sozialversicherungsreform 2018 – eine Nachbetrachtung

Autor: JOSEF CERNY

„Insgesamt betrachtet bringen die vorgeschlagenen Änderungen in der bisherigen Form für die Versicherten vorerst sehr wenig.“

Walter J. Pfeil zum Entwurf des Sozialversicherungs-Organisationsgesetzes (2018)

   

Kaum ein anderes Thema hat in den letzten Jahren die Politik und die Wissenschaft so intensiv beschäftigt, wie das von der damaligen ÖVP-/FPÖ-Koalitionsregierung initiierte und trotz heftiger Proteste und Kritik am 13.12.2018 vom Nationalrat mehrheitlich beschlossene Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG), plakativ und inhaltlich überhöht als „Sozialversicherungsreform“ bezeichnet. Und kaum ein anderer Wissenschaftler hat zur Diskussion über dieses Projekt im Vorfeld der parlamentarischen Beschlussfassung so engagierte Beiträge geliefert wie Walter J. Pfeil.

    Übersicht
  1. Vorgeschichte

    1. LSE-Studie

    2. Regierungsprogramm ÖVP/FPÖ 2017-2022

    3. Gesetzentwürfe

    4. Begutachtung – Kritik

    5. Umsetzung – Status Quo

  2. Verfassungsrahmen

    1. Wissenschaft / Schrifttum

    2. Verfassungsgerichtshof

      1. Differenzierte Betrachtung

      2. „Rechtspolitischer Gestaltungsspielraum“

      3. Bewertung

      4. Offene Fragen

        1. Harmonisierung

        2. Effizienzprinzip

        3. „Partizipative Selbstverwaltung“

        4. Zusammensetzung der Organe – Parität

        5. Seniorenvertretung

  3. Politische Entwicklung

  4. Ziele und Fakten

    1. Zahl der Versicherungsträger

    2. Harmonisierung?

    3. Effizienzsteigerung?

    4. „Patientenmilliarde“ oder „Milliardengrab“?

    5. Leistungen

  5. (Zwischen-)Bilanz und Ausblick

  6. Neue Herausforderungen

1.
Vorgeschichte
1.1.
LSE-Studie

Der Ruf nach einer Reform begleitet die SV seit der Schaffung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG).* Neben inhaltlichen Änderungen des Leistungsrechts standen dabei immer wieder auch Fragen der Organisationsstruktur zur Diskussion, wobei es meistens vordergründig um Einsparungen, Verwaltungsvereinfachungen und Versichertennähe, bei näherer Betrachtung aber eher um ideologische Differenzen und um Fragen der Machtverteilung ging.* Weitgehend unbestritten blieb dabei das Prinzip der Selbstverwaltung als wesentliches Element einer lebendigen Demokratie.

Die letzte größere Änderung der Organisation der SV vor dem SV-OG 2018* erfolgte im Jahr 1994 durch die 52. Novelle zum ASVG.* Eine zuvor von der Regierung in Auftrag gegebene Organisationsanalyse* war zum Ergebnis gekommen, dass das Prinzip der Selbstverwaltung nicht angetastet, aber mehr Effizienz und Versichertennähe durch eine Verkleinerung der Gremien und durch die Einrichtung von Beiräten der Versicherten* erreicht werden sollten. Eine völlige Neuordnung der Struktur der SV war das Ziel der von der ÖVP-/FPÖ-Regierung (Schüssel I) mit der 58.* und der 63. ASVG-Novelle* angestrebten Organisationsreformen. Nach der Aufhebung wesentlicher Teile der Neuregelung durch den VfGH* blieb von der „Reform“ nur ein Torso.

Weder die starke Verringerung der Zahl der Versicherungsvertreter noch die Schaffung von Beiräten der Versicherten konnte die Diskussion über eine Organisationsreform in der SV beenden. Zur Klärung der Grundlagen beauftragte die Bundesregierung die renommierte London School of Economics (LSE) mit der Durchführung einer Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems (LSE-Studie). Im Rahmen dieser Studie behandelte Walter J. Pfeil Rechtsfragen im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Effizienzsteigerung, insb den rechtlichen Rahmen für Strukturänderungen in der österreichischen SV und für einen verstärkten Risikoausgleich zwischen den Trägern.*

Bevor noch die Arbeiten an der Umsetzung der LSE-Studie begonnen hatten, kam es zu einer grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Österreich, die auch die weitere Entwicklung der SV entscheidend beeinflussen sollte.

1.2.
Regierungsprogramm ÖVP/FPÖ 2017-2022

Nach dem vorzeitigen Ende der Koalitionsregierung von SPÖ und ÖVP erreichte die ÖVP mit ihrem neuen Parteivorsitzenden Sebastian Kurz bei der Nationalratswahl am 15.10.2017 eine klare Mehrheit und bildete mit der FPÖ eine neue Koalitionsregierung.

Ein zentrales Thema des Regierungsprogramms* war die „Reform der Sozialversicherungen“ mit dem Ziel, die Verwaltungskosten zu senken, die Effizienz zu erhöhen und die Leistungen für die Versicherten zu harmonisieren. Erreicht werden sollte dieses Ziel durch eine Verringerung der Zahl der Sozialversicherungsträger „auf maximal vier bis fünf“, wobei „die Prinzipien einer partizipativen Selbstverwaltung, die Wahrung der länderspezifischen Versorgungsinteressen sowie die speziellen Anforderungen der unterschiedlichen Berufsgruppen in den einzelnen Versicherungssparten berücksichtigt werden“.*

Bei einer Pressekonferenz am 23.5.2018 versuchten Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache mit sachlich nicht gerechtfertigten Vorwürfen gegenüber Funktionären der Selbstverwaltung die Notwendigkeit der „größten Reform der Zweiten Republik“ zu begründen. Trotz heftiger Proteste, vor allem der AN-Organisationen, beschloss die Regierung am nächsten Tag im Ministerrat eine Punktation mit den „Eckpunkten“ der geplanten Sozialversicherungsreform.*

1.3.
Gesetzentwürfe

Im September 2018 gelangten – ohne vorherige substanzielle Verhandlungen mit den Sozialpartnern – erste Bruchstücke von Gesetzentwürfen und in der Folge der Entwurf eines SV-OG* mit kurzer Begutachtungsfrist an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurden zwei weitere Gesetzentwürfe präsentiert, und zwar einer, der eine Neuorganisation der PV der Notare zum Gegenstand hatte,* und der Entwurf für ein „Gesetz über die Zusammenführung der Prüfungsorganisationen der Finanzverwaltung und der Sozialversicherung (ZPFSG)“.*

1.4.
Begutachtung – Kritik

Trotz des enormen Umfanges und heftiger Proteste gegen die zu kurze Begutachtungsfrist war das Begutachtungsverfahren überaus ergiebig. Mehr als 70 Stellungnahmen zum Ministerialentwurf des SV-OG langten im Nationalrat ein, darunter einige besonders umfangreiche, auf fachlich hohem Niveau.*

Der weitaus überwiegende Teil der Stellungnahmen äußerte massive Bedenken gegen die Gesetzesvorlagen des BM für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (BMASGK). Neben der Kritik an der Vorgangsweise, an der unzumutbar kurzen Begutachtungsfrist und an legistischen Mängeln der Entwürfe wurde auch eine Fülle von kritischen Bemerkungen zum Inhalt vorgebracht.

Schwerpunkt der Kritik im Begutachtungsverfahren war, dass der Entwurf des SV-OG in zahlreichen Punkten verfassungswidrig sei.

1.5.
Umsetzung – Status Quo

Trotz der massiven Kritik hielt die Bundesregierung an ihrem Gesetzesvorschlag fest. Daran konnte auch ein Experten-Hearing am 14.11.2018 im Sozialausschuss des Nationalrats, bei dem vor allem der frühere Verfassungsrichter Rudolf Müller die verfassungsrechtlichen Bedenken überzeugend begründete,* nichts ändern.

Das SV-OG ist am 13.12.2018 vom Nationalrat mit den Stimmen der ÖVP und der FPÖ beschlossen worden.*

Die Änderungen in der Organisationsstruktur der Sozialversicherungsträger sind nach einer Überleitung ab dem 1.4.2019 mit 1.1.2020 wirksam geworden. Mit diesem Zeitpunkt hat die Amtsdauer aller Verwaltungskörper begonnen.

Das Bundesgesetz über die Prüfung lohnabhängiger Abgaben und Beiträge (PLABG) ist vom Nationalrat ebenfalls mehrheitlich angenommen worden.* Nach der Aufhebung durch den VfGH wurde es mit Wirksamkeit ab 1.7.2020 dahingehend geändert,* dass die Prüfungskompetenz der SV für die Sozialversicherungsbeiträge mit einer Übergangsregelung für die bis 30.6.2020 laufenden Prüfverfahren wieder hergestellt wurde.

2.
Verfassungsrahmen

Die grundsätzlichen Fragen nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Selbstverwaltung und deren Einordnung in das Gesamtgefüge der Verfassung sind seit langem geklärt. Dazu hat vor allem die Judikatur des VfGH beigetragen, der in einer Reihe von Entscheidungen die Voraussetzungen und die Grenzen für die Einrichtung von Selbstverwaltung durch den einfachen Gesetzgeber festgelegt hat.*

Besondere Bedeutung kommt der mit der B-VG-Novelle 2008* erfolgten Einfügung eines Fünften Hauptstücks mit dem Titel „Sonstige Selbstverwaltung“ in das B-VG zu. Nach weitweitgehend übereinstimmender Interpretation stellt diese Ergänzung des B-VG „in weiten Bereichen eine Nachführung des geschriebenen Gesetzestextes an die verfassungsgerichtliche Judikatur, in bestimmten Teilbereichen auch deren Korrektur dar“.*

Das Projekt einer Änderung der Organisationsstruktur der SV konnte also auf einem gesicherten verfassungsrechtlichen Fundament aufgesetzt werden. Die Art und Weise, in der das geschehen ist, hat allerdings zu einer neuerlichen, über die Grundsätze hinaus auch eine Reihe von Einzelfragen betreffenden wissenschaftlichen Debatte und letztlich wieder zur Anrufung des VfGH geführt.

2.1.
Wissenschaft / Schrifttum

Die politische Debatte über das Projekt der Regierung war begleitet von einer intensiven wissenschaftlich-publizistischen Aktivität,* wobei der thematische Schwerpunkt bei Fragen der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Neuregelung lag.

In einer ersten Einschätzung des Entwurfs für ein SV-OG kam Walter J. Pfeil nach einem Überblick über die wichtigsten geplanten Änderungen zu dem eingangs zitierten vorläufigen Ergebnis, dass diese Änderungen für die Versicherten vorerst sehr wenig bringen, die vorgeschlagenen Strukturänderungen aber erhebliche Eingriffe in das System der Selbstverwaltung bedeuten würden, die „in wesentlichen Punkten verfassungswidrig“ sein dürften.*

Noch vor der Beschlussfassung des Nationalrats über das SV-OG erschien ein von Walter Berka, Thomas Müller und Felix Schörghofer herausgegebener Sammelband mit Beiträgen zu verfassungsrechtlichen Grundproblemen der Neuorganisation der Sozialversicherung in Österreich.*

Verfassungsrechtliche, arbeits- und verfahrensrechtliche Fragen des SV-OG werden auch in einem von Pfeil mit Prantner und Warter herausgegebenen Buch mit Vorträgen bei einer wissenschaftlichen Tagung der Universität Salzburg behandelt.*

Der Tenor der in den beiden Sammelbänden enthaltenen wissenschaftlichen Arbeiten lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die „Sozialversicherungs-Reform“ ist in zentralen Punkten verfassungswidrig.

Die Strukturreform der SV und ihre Auswirkungen auf die Selbstverwaltung waren auch Thema der 54. Zeller Tagung der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht.* Die Referentin Elisabeth Brameshuber kam zu einer differenzierten Einschätzung: Während der Spielraum des Gesetzgebers in manchen Bereichen relativ groß sei und daher etwa in der Frage der Parität „nicht notwendigerweise mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit gerechnet werden muss, dürften die weitreichenden Einflussmöglichkeiten der Aufsicht die Selbstverwaltung sehr wohl in ihren Kernbereichen erschüttern“. Eine klare Absage erteilt Brameshuber den Vorstellungen von einer „partizipativen Selbstverwaltung“. Für eine „Weiterentwicklung“ der Selbstverwaltung in diese Richtung sei „unter dem derzeitigen Verfassungsbogen kein Platz“.*

2.2.
Verfassungsgerichtshof

Vor einem durch umfangreiche Vorjudikatur, wissenschaftliche Kommentare und Gutachten weitgehend ausgeleuchteten Hintergrund hatte der VfGH im Zusammenhang mit der Sozialversicherungsreform über insgesamt 14 Anträge auf Gesetzesprüfung zu entscheiden. In vier Erkenntnissen* entschied der VfGH, dass die zentralen Bestimmungen der Sozialversicherungsreform verfassungskonform sind, stellte aber zugleich in einigen Aspekten Verfassungswidrigkeiten fest.

2.2.1.
Differenzierte Betrachtung

In der politischen Debatte und in der medialen Berichterstattung wurde die Entscheidung des VfGH überwiegend als Bestätigung der Reform und damit als Erfolg der Regierung interpretiert. Bei sachlicher Betrachtung erweist sich eine solche Bewertung als zu oberflächlich. Der VfGH hat nämlich die Reform keineswegs pauschal „bestätigt“, sondern zu einzelnen Punkten durchaus differenziert entschieden. Einige Bestimmungen des SV-OG, die Bestandteil des Gesamtkonzepts der Sozialversicherungsreform sein sollten, wurden als verfassungswidrig aufgehoben. Dazu gehören insb die geplante Ausweitung des Aufsichtsrechts, weil sie das „Maß des Erforderlichen iSd Art 120b B-VG übersteige.* Als verfassungswidrig aufgehoben wurden auch die vorgesehenen Bestimmungen über eine Eignungsprüfung für Versicherungsvertreter/innen.

Wesentlicher Teil der Reform sollte die Übertragung der Prüfung lohnabhängiger Abgaben und Beiträge auf den Prüfdienst der Finanzverwaltung sein. Gegen diese Absicht hat vor allem der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) heftig protestiert, weil damit auch die bisher gegebene Möglichkeit, die korrekte Erfüllung der AN-Ansprüche zu überprüfen, weggefallen wäre, was auch zu einer erheblichen Verringerung der aufgrund der Prüfung eingebrachten Sozialversicherungsbeiträge geführt hätte.* Der VfGH ist den auch in der Literatur* nachdrücklich vorgebrachten Bedenken gefolgt und hat unter Berufung auf eine Vorentscheidung* alle Bestimmungen, die mit der vorgesehenen Übertragung der Beitragsprüfung in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, als verfassungswidrig aufgehoben, weil sie den Organisationsprinzipien der Selbstverwaltung widersprechen.

Nicht als verfassungswidrig sieht der VfGH:

  • Die Zusammenlegung (Fusion) der Gebietskrankenkassen (GKK) zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit der Sozialversicherungsanstalt der Bauern zu einer neuen Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) sowie der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter zur neuen BVAEB;

  • die Auflösung der Betriebskrankenkassen;

  • die Umgestaltung des Hauptverbands zu einem neuen Dachverband;

  • die Abschaffung der Beiräte der Versicherten;

  • die Änderungen in der Organisationsstruktur und bei der Zusammensetzung der Organe der Selbstverwaltung (Parität).

2.2.2.
„Rechtspolitischer Gestaltungsspielraum“

Die Feststellung, dass die diesbezüglichen einfachgesetzlichen Bestimmungen nicht verfassungswidrig sind, bedeutet allerdings keine inhaltliche Bewertung durch den VfGH. Durch die E des VfGH wird klargestellt, dass die einfachgesetzlichen Bestimmungen im Rahmen der Verfassung zulässig sind. Der VfGH verwendet in diesem Zusammenhang mehrfach die Formulierung, dass die inhaltliche Ausgestaltung einer bestimmten Regelung „im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ liege. Der (einfache) Gesetzgeber könne eine bestimmte Materie so oder anders regeln, solange sie im Verfassungsrahmen bleibt.

Mit dem wiederholten Hinweis auf den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum spielt der VfGH die politische Entscheidung an den Gesetzgeber, also an das Parlament, zurück. Im Ergebnis bewirkt diese Vorgangsweise eine Stärkung der politischen Position der jeweiligen Gesetzesinitiatoren, in der Regel also der Bundesregierung. Insoweit haben Verfassungsgerichtshofentscheidungen, die einen großen Raum für die rechtspolitische Gestaltung offenlassen, politisch stabilisierende Wirkung, die aber schnell verloren gehen kann, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern. Dann bedeutet der „rechtspolitische Gestaltungspielraum“ auch mehr Chancen für Bewegung in der Politik.

2.2.3.
Bewertung

In Anbetracht der Heftigkeit der politischen Auseinandersetzung und des beträchtlichen intellektuellen, publizistischen (und auch finanziellen) Aufwands, den die Diskussion über die Sozialversicherungsreform im Vorfeld der Gesetzesprüfung durch den VfGH verursacht hat, ist die Resonanz auf die Entscheidungen des VfGH vergleichsweise gering. In der Fachliteratur wurden die VfGH-Entscheidungen bisher kaum kommentiert, die wenigen Publikationen beschränken sich weitgehend auf eine deskriptive Darstellung der Ergebnisse.*

Eine Ausnahme stellt ein Beitrag von Walter J. Pfeil dar, in dem die wichtigsten Aussagen der VfGH-Entscheidungen einer ersten Einschätzung unterzogen werden.* Pfeils Bewertung der Entscheidungen des VfGH und ihrer Begründung fällt in einigen Punkten durchaus kritisch aus. So meint er, dass es „schwer“ sei, der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse in den Organen der Selbstverwaltung zugunsten der DG-Seite „hinreichende Sachlichkeit zuzugestehen“.* Als „wenig überzeugend“ bezeichnet Pfeil auch Teile der Beurteilung der Ablösung des bisherigen Hauptverbands der Sozialversicherungsträger durch den nunmehrigen Dachverband und dessen näherer Ausgestaltung. Den Bedenken gegen die Möglichkeit, dass bei Beschlüssen im Dachverband die ÖGK als Sozialversicherungsträger mit den meisten Anspruchsberechtigten von den Vertretern der anderen, kleineren Träger überstimmt werden könnte, tritt nach Pfeils Meinung der VfGH „in recht formaler Weise“ entgegen, und auch in der Frage der Aufgabenzuweisungen an einzelne Träger sei die Argumentation des VfGH „nicht widerspruchsfrei“.

Einen zentralen Punkt der Reform spricht Pfeil mit der Frage an, ob durch die vorgenommenen Änderungen innerhalb der Selbstverwaltung Verbesserungen für die Versicherten und/oder eine Steigerung der Systemeffizienz bewirkt werden. Diese Frage bleibe auch nach der VfGH-Entscheidung offen, und der von den Initiatoren der Reform angestrebte Effekt einer massiven politischen Umfärbung sei „als solcher für eine verfassungsrechtliche Beurteilung nicht fassbar“. Dass das Höchstgericht die zahlreichen dagegen vorgebrachten Argumente mit (teilweise sogar sehr) kurzen Begründungen verworfen hat, sei „unbefriedigend, wenn nicht sogar enttäuschend“.

2.2.4.
Offene Fragen

In der aktuellen Politik gibt es für die nahezu gleichzeitig mit dem Ende des Verfassungsgerichtshofverfahrens gebildete neue Koalitionsregierung und für alle anderen Akteure offenbar andere Prioritäten, vor allem den Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Dabei gäbe es durchaus einige Fragen zu den Entscheidungen des VfGH, die eine genauere Betrachtung wert wären, und auch zwischen den durch die Corona-Pandemie deutlich sichtbar gewordenen grundsätzlichen Problemen der österreichischen Gesundheitspolitik und den Auswirkungen der Sozialversicherungsreform bestehen Zusammenhänge (siehe unter 5.).

2.2.4.1.
Harmonisierung

Im Rahmen des Begutachtungsverfahrens zum Entwurf des SV-OG hat der Verfassungsdienst* auf ein verfassungsrechtliches Problem hingewiesen, das sich aus der Zusammenlegung der Selbständigen- mit der Bauernversicherung und der Beamtenversicherung mit der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau ergeben könnte. Diese Fusionen sind nämlich ohne Änderung des Beitrags- und Leistungsrechts, also ohne die angekündigte „Harmonisierung“, erfolgt.

Aus Art 120a Abs 1 B-VG ergibt sich, dass ein gemeinsames Interesse gefunden werden muss, das den Zusammenschluss der Versicherten dieser Versicherungsträger rechtfertigt.

Nach der Judikatur des VfGH* können Differenzierungen im Beitrags- und Leistungsrecht innerhalb einer Versichertengruppe dann zulässig sein, wenn damit den Unterschieden innerhalb der Risikogruppe Rechnung getragen wird, und wenn sie eine Ausnahme darstellen. Da mit der Reform das unterschiedliche Beitrags- und Leistungsrecht fortgeschrieben wird, bedürfe es einer Begründung für das Vorliegen der Voraussetzungen zur Zusammenfassung zu einem Selbstverwaltungskörper.

Die Schaffung eines gemeinsamen Interesses an der Zusammenfassung setze jedenfalls eine „zeitnahe Angleichung des Beitrags- und Leistungsrechts“ voraus.

2.2.4.2.
Effizienzprinzip

Nach dem aus dem Sachlichkeitsgebot abgeleiteten Effizienzprinzip ist die Selbstverwaltung so zu gestalten, dass sie eine den Grundsätzen der Effizienz entsprechende Verwaltungsführung gewährleistet.*

Schon im Begutachtungsverfahren zum Entwurf des SV-OG sind in mehreren Stellungnahmen* massive Bedenken gegen die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen vorgebracht worden, weil sie dem Effizienzprinzip widerspreche und deshalb verfassungswidrig sei.

Der VfGH* hat aber anders entschieden. Er geht, ohne sich mit den Argumenten der Antragsteller inhaltlich auseinanderzusetzen, von der Annahme oder von der Erwartung aus, dass die Verwaltung (auch) in der geänderten Organisationsstruktur effizient sein kann, und weist die inhaltliche Ausgestaltung dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers zu.

Mit dieser Argumentation folgt der VfGH der grundsätzlichen Linie, die seine Entscheidungen zur Sozialversicherungsreform durchzieht. In der Frage der Vereinbarkeit einer einfachgesetzlichen Regelung mit dem Effizienzprinzip* geht es aber nicht um Rechtspolitik, sondern um Rechtsanwendung in einem Gesetzesprüfungsverfahren, und da bedarf es einer inhaltlichen Prüfung der vorgebrachten Argumente und Fakten. Ohne realistische und evidenzbasierte Abschätzung der Vor- und Nachteile, die einen tatsächlichen Effizienzgewinn erwarten erwarten lässt, wird dem verfassungsrechtlichen Effizienzprinzip nicht entsprochen. Den Reformgesetzgeber trifft insoweit die Beweislast, dass eine grundlegende Umgestaltung des bestehenden Systems nicht nur sachlich gerechtfertigt ist, sondern auch ökonomisch messbare Vorteile bringt, die nachhaltig zu Buche schlagen.*

Die Frage, ob die durch das SV-OG geschaffene neue Organisationsstruktur eine effiziente(re) Selbstverwaltung gewährleistet, wird vom VfGH in Form einer petitio principii beantwortet. Der Beweis dafür ist bisher weder von den Initiatoren der Sozialversicherungsreform noch von den für die Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen in die Praxis Verantwortlichen erbracht worden (siehe unten 4. und 5.). Damit muss aber die zentrale Frage des gesamten Reformkonzepts auch verfassungsrechtlich als weiterhin offen betrachtet werden.

2.2.4.3.
„Partizipative Selbstverwaltung“

Nach dem Regierungsprogramm der ÖVP-/FPÖ-Koalition* sollten bei der Sozialversicherungsreform „die Prinzipien einer partizipativen Selbstverwaltung“ beibehalten werden. Die Gesetzesmaterialien zum SV-OG* sprechen davon, dass die Prinzipien der Selbstverwaltung „im Sinne der verfassungsrechtlichen Bestimmungen weiterentwickelt werden sollen (partizipative Selbstverwaltung)“. Was das konkret bedeutet und in welche Richtung die „Weiterentwicklung“ gehen soll, wird nirgends näher erläutert. Nach dem Wortsinn könnte man annehmen, dass damit eine stärkere Beteiligung der Versicherten an der Verwaltung gemeint wäre, aber gerade das ist nicht der Fall. Der Begriff „Partizipative Selbstverwaltung“ wird im Zusammenhang mit einer Ausweitung der Staatsaufsicht gegenüber der Selbstverwaltung verwendet und ist deshalb irreführend.

Der VfGH hat deshalb die im SV-OG und in den Begleitgesetzen vorgesehenen „überschießenden“ Bestimmungen über den Umfang der Staatsaufsicht zurecht als verfassungswidrig aufgehoben.

2.2.4.4.
Zusammensetzung der Organe – Parität

Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung, aber auch der wissenschaftlichen Debatte über die Sozialversicherungsreform standen – neben der geplanten Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen – die Änderung der Zusammensetzung der Organe der Selbstverwaltung, insb die Einführung einer Parität zwischen DN- und DG-Vertretern in der ASVG-KV anstelle des bisherigen Verhältnisses von 4 zu 1 sowie der halbjährliche Wechsel in der Vorsitzführung.

Besonders intensiv und tiefgehend hat sich Rudolf Müller mit der Vertretung der DG in den Organen der Selbstverwaltung der KV befasst. Aufgrund des historischen Befundes und einer ausführlich begründeten verfassungsrechtlichen Bewertung kommt er zum Ergebnis, dass es zwar grundsätzlich zu rechtfertigen sei, die DG, obwohl sie „Außenstehende“ seien, an der Selbstverwaltung der KV der DN zu beteiligen, eine paritätische Beteiligung sei aber jedenfalls verfassungswidrig.*

Im Normenprüfungsverfahren vor dem VfGH haben sich jene Antragsteller, die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Parität geltend gemacht haben, vorwiegend auf die von R. Müller vorgebrachten Argumente gestützt. Die Parität von DN- und DG-Vertretern verstoße gegen die durch die Art 120a ff B-VG vorgegebenen demokratischen Grundsätze und gegen das aus diesen Verfassungsbestimmungen abzuleitende Sachlichkeitsgebot.

Der VfGH hat aber auch in dieser zentralen Frage der Sozialversicherungsreform keine Verfassungswidrigkeit gesehen.

Aus der historischen Entwicklung der KV erkläre sich auch die Konstruktion der abgeleiteten demokratischen Legitimation, die durch Art 120c Abs 1 B-VG ebenso grundsätzlich akzeptiert worden sei wie der Mitgliederkreis der sozialen Selbstverwaltung. Art 120c Abs 1 B-VG räume dem Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung der demokratischen Repräsentation in den Organen des Versicherungsträgers einen erheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum ein. Diesen habe der Gesetzgeber mit der Anordnung der Parität von DG und DN im SV-OG nicht überschritten. Als „Fortschreibung der Parität auf Vorsitzebene“ bestehen nach Meinung des VfGH auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die abwechselnde Vorsitzführung.

Im Hinblick auf die Komplexität der Materie und die Vielfalt der Argumente, die in der Literatur gegen die Verfassungskonformität der Parität in den Organen der Selbstverwaltung vorgebracht worden sind, erscheint die Begründung des VfGH doch eher oberflächlich und wenig überzeugend.*

2.2.4.5.
Seniorenvertretung

Überhaupt keine Antwort hat das Verfahren vor dem VfGH auf die seit langem umstrittene Frage der Vertretung der Pensionist/innen in der Selbstverwaltung der SV ergeben.

Mit der 52. Novelle zum ASVG* wurden – als Kompromiss zu den weiter gehenden Forderungen der Seniorenverbände – Beiräte der Versicherten eingerichtet, die zwar keine Entscheidungsbefugnisse, aber doch eine wichtige Funktion als Bindeglied zwischen den Versicherten und der Selbstverwaltung hatten.*

Durch das SV-OG sind – aufgrund der überaus komplizierten Legistik kaum auffindbar – die gesetzlichen Grundlagen der Beiräte aufgehoben worden,* ohne dass dafür in den Gesetzesmaterialien irgendeine sachliche Begründung zu finden wäre. Statt dessen bestimmt das Gesetz nunmehr, dass den Hauptversammlungen der Versicherungsträger und des neuen Dachverbands je drei vom Österreichischen Seniorenrat* zu entsendende Seniorenvertreter/innen angehören, die allerdings nur beratende Stimme haben.* Im Ergebnis bedeutet das, dass die Senior/innen von jeder Form der Mitentscheidung in der Selbstverwaltung der SV ausgeschlossen sind.

Gegen diese Regelung haben sowohl der (überparteiliche) Österreichische Seniorenrat als auch der Pensionistenverband Österreich schon im Begutachtungsverfahren zum Entwurf des SV-OG vehement protestiert. Der Ausschluss von der Mitbestimmung in den Organen der SV sei nicht nur inakzeptabel, sondern widerspreche auch den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Selbstverwaltung.

Trotz dieser Proteste hat der Nationalrat die Abschaffung der Beiräte und den Entzug des Stimmrechts der Seniorenvertreter in der (früheren) Trägerkonferenz des Hauptverbandes mit Mehrheit beschlossen. Die dagegen vom Österreichischen Seniorenring (ÖSR) eingebrachten Anträge sind erfolglos geblieben, weil sie der VfGH ohne inhaltliche Prüfung wegen fehlender Legitimation als unzulässig zurückgewiesen hat.*

In der Sache selbst ist also die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der Senior/innen von der Mitbestimmung in den Organen der Selbstverwaltung weiterhin offen. Seit der B-VG-Novelle 2008* spricht viel dafür, dass die angemessene Beteiligung der Pensionist/innen jedenfalls als Pflichtversicherte in der KV sogar verfassungsrechtlich geboten,* zumindest aber nicht unzulässig ist.* Folgt man der grundsätzlichen Linie der VfGH-Entscheidungen zum SV-OG, fällt auch die Regelung dieses Fragenkomplexes in den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des (einfachen) Gesetzgebers.

3.
Politische Entwicklung

Obwohl Diskussionen über eine Reform der SV immer wieder geführt und die Vorarbeiten für die mit dem SV-OG vorgenommenen Änderungen der Organisationsstruktur bereits in der vorigen Legislaturperiode geleistet worden sind, ist die „Sozialversicherungsreform 2018“ im Wesentlichen doch das Werk der im Dezember 2017 gebildeten Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ (Kurz I). Im Regierungsprogramm dieser Regierung nahm das Projekt einer „Reform der Sozialversicherungen“ einen prominenten Platz ein. Trotz gravierender verfassungsrechtlicher Bedenken und gegen den massiven Widerstand der Opposition und der Interessenvertretungen der AN (siehe oben 1.4.) zog die Regierung ihr politisches Programm konsequent und mit voller Härte durch.

Am 13.12.2018 wurde das SV-OG vom Nationalrat mit den Stimmen der ÖVP und der FPÖ beschlossen. Es ist mit einer Überleitungsregelung ab 1.4.2019 am 1.1.2019 in Kraft getreten und mit 1.1.2020 voll wirksam geworden (siehe oben 1.3).

Während der gesamten Zeit seit Beginn der innenpolitischen Turbulenzen nach der Ibiza-Affäre war das Thema Sozialversicherungsreform – verständlicherweise – von der politischen Agenda verschwunden. Auch im Regierungsprogramm der Regierung Kurz II kommt dieses Thema nur marginal vor: Außer einem inhaltsleeren Bekenntnis zum Prinzip der sozialen Selbstverwaltung und einer „Evaluierung der sozialen Absicherung der Selbständigen“ im Rahmen der Fusionen der Versicherungsträger steht im Regierungsprogramm unter der Überschrift „Sozialversicherung“ kein einziger Satz.

Seit dem März 2020 gibt es nur noch ein Thema, das unser Leben und damit auch die Politik beherrscht und bestimmt: die Corona-Pandemie.

4.
Ziele und Fakten

Um anhand von Fakten feststellen zu können, ob und in welchem Ausmaß eine Reform ihre Ziele erreicht hat, muss zunächst Klarheit über die Ziele bestehen. Im Fall der Sozialversicherungsreform ist das nur schwer möglich.

Die Gesetzesmaterialien zum SV-OG enthalten zwar ein Sammelsurium an politischen Werbesprüchen, Schlagworten, Ankündigungen und Absichtserklärungen, aber kaum nachvollziehbare Angaben über konkrete Ziele.

Das Fehlen konkreter Angaben zu den Reformzielen ist in zahlreichen Stellungnahmen zum Entwurf des SV-OG kritisiert worden. Vor allem die Stellungnahme des Rechnungshofes* lässt hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen an Deutlichkeit nichts vermissen.*

4.1.
Zahl der Versicherungsträger

Auf den ersten Blick erkennbar ist die Diskrepanz zwischen Ankündigung und realen Fakten bei der Zahl der Versicherungsträger. Durch die Fusionen ist zwar die Zahl der Versicherungsträger deutlich verringert worden, die immer wieder kolportierte magische Zahl 5 wurde aber nicht erreicht. Neben den fünf großen Versicherungsträgern Pensionsversicherungsanstalt (PVA), Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA), ÖGK, SVS und BVAEB gibt es nämlich auch nach der Reform noch eine Reihe weiterer Sozialversicherungsträger, darunter allein im Bereich der KV, 15 Krankenfürsorgeanstalten, die durch das SV-OG überhaupt nicht erfasst werden. Außerdem bleiben die de iure aufgelösten neun Gebietskrankenkassen de facto in Form von Landesstellen der ÖGK mit allen Einrichtungen weiter bestehen.*

Im Übrigen ist die Zahl der Versicherungsträger weder ein Qualitätsmerkmal noch ein Reformziel. Entscheidend ist, welche Wirkung durch die Verringerung der Trägerzahl erreicht werden kann.

4.2.
Harmonisierung?

Offenkundig ist die Verfehlung des Reformzieles auch, wenn man unter „Harmonisierung“ eine Vereinheitlichung iSd Grundsatzes „Gleiche Beiträge und gleiche Leistungen für alle Versicherten“ versteht. Eine solche umfassende Harmonisierung wurde zwar immer wieder plakativ angekündigt, war aber nie wirklich beabsichtigt. Vielmehr sollte die berufsständische Gliederung der SV jedenfalls erhalten bleiben.

Nach dem Regierungsprogramm 2017 sollten bei der Sozialversicherungsreform „die speziellen Anforderungen der unterschiedlichen Berufsgruppen in den einzelnen Versicherungssparten berücksichtigt werden“.* Da die Fusionen im Bereich der Selbständigen- und der Bauernversicherung sowie zwischen der Beamtenversicherung und der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau (VAEB) ohne Änderungen im Beitrags- und Leistungsrecht, also ohne „Harmonisierung“, erfolgt sind, bestehen auch die gravierenden Unterschiede im Leistungsrecht zwischen den einzelnen Versichertengruppen weiter. Die angekündigte Leistungsharmonisierung beschränkt sich auf den Bereich der in der ÖGK zusammengelegten ehemaligen Gebietskrankenkassen.*

Umfangreiche Vorarbeiten für eine Angleichung und Verbesserung der Leistungen innerhalb der Gebietskrankenkassen wurden bereits vor dem Inkrafttreten des SV-OG von der Selbstverwaltung im Rahmen des Hauptverbands geleistet. Mit der Zusammenführung der unterschiedlichen Satzungen und Krankenordnungen zu der neuen, jeweils einstimmig beschlossenen Satzung und Krankenordnung der ÖGK* konnte ein weiterer, bedeutender Schritt zur Harmonisierung und Verbesserung der Leistungen getan werden.

Während die Beschlüsse über die neue Satzung und über die Krankenordnung nach Differenzen zwischen DN- und DG-Vertretern in den zuständigen Gremien der ÖGK letztlich einstimmig zustande gekommen sind, konnte über das weitergehende Ziel einer vollständigen Leistungsharmonisierung zwischen allen Versichertengruppen und Versicherungsträgern weder im Rahmen der Selbstverwaltung noch auf der Ebene der staatlichen Politik Einvernehmen erzielt werden. Diverse Anträge der DN-Vertreter in der Selbstverwaltung oder politischer Parteien im Parlament wurden jeweils mit Mehrheit abgelehnt (oder vertagt), ebenso die bereits in der LSE-Studie nachdrücklich erhobene Forderung nach einem Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenversicherungsträgern.*

Die Beseitigung der noch weiterbestehenden Unterschiede im Leistungsrecht der KV ist nicht nur ein vorrangiges sozialpolitisches Ziel, sondern auch verfassungsrechtlich relevant (siehe oben 2.2.3.1).

4.3.
Effizienzsteigerung?

Das Schlüsselwort jeder Organisationsreform heißt „Effizienz“, vorrangiges Ziel ist meistens eine „Effizienzsteigerung“. Auch die Sozialversicherungsreform 2018 stand von Beginn an unter diesem Motto, vorbereitet durch die LSE-Studie (siehe oben 1.).

„Effizienz“ bedeutet Wirksamkeit, „Effizienzsteigerung“ also: mehr oder stärkere oder höhere Wirksamkeit. So klar und verständlich diese Begriffe auf den ersten Blick erscheinen, so wenig konkret ist ihr Inhalt. Der wissenschaftliche Begriff „Effizienz“ ist nämlich durchaus vieldeutig.*

Für eine praktikable Bewertung der Zielerreichung einer Reform sind die Begriffe „Effizienz“ und Effizienzsteigerung“ zu unbestimmt. Eine seriöse Bewertung der Effizienz erfordert eine gründliche Analyse mit einem Vergleich der wichtigsten Kennzahlen vor und nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Organisationsänderungen.

Die Beweislast dafür, dass Effizienzgewinne als Folge der Reform nicht nur behauptet werden, sondern tatsächlich eingetreten sind und in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden können, trifft die Gesetzesinitiatoren und die für den Gesetzesvollzug Verantwortlichen.* Bisher konnte ein solcher Beweis nicht erbracht werden.

Nach außen hin, für die Versicherten, waren die Auswirkungen der Änderungen der Organisationsstruktur – abgesehen von einem neuen Logo – zunächst kaum erkennbar. Der Geschäftsbetrieb schien wie gewohnt weiter zu laufen, und die eigenen Einrichtungen der Gebietskrankenkassen standen den Versicherten der ÖGK weiterhin zur Verfügung. Das ist umso bemerkenswerter, als durch die Mitarbeit in den zahlreichen Teilprojekten der Reform erhebliche Personalkapazitäten gebunden waren und auch weiter sein werden.

Business as usual war offenbar die strategische Vorgabe des neuen Managements. Dass sie im Wesentlichen tatsächlich eingehalten werden konnte, ist wohl in erster Linie auf die hohe Leistungsbereitschaft und Qualifikation der Mitarbeiter/innen in den Sozialversicherungsträgern zurückzuführen, die trotz der für sie äußerst belastenden und unsicheren Situation maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Service für die Versicherten weiterhin gut funktioniert hat – man könnte sagen: nicht wegen, sondern trotz der Organisationsreform.

4.4.
„Patientenmilliarde“ oder „Milliardengrab“?

Die finanziellen Auswirkungen der Organisationsreform waren von Beginn an heftig umstritten, wobei sich die Auseinandersetzungen auf den Bereich der KV konzentrierten. Während die Befürworter der Reform durch Synergieeffekte, Effizienzsteigerungen, Verringerung der Verwaltungskosten „Einsparungen im System in Milliardenhöhe“ („Patientenmilliarde“) in Aussicht stellten, warnten Kritiker unter Hinweis auf die hohen Fusionskosten und weitere, die KV zusätzlich belastende Maßnahmen vor einem drohenden Milliardendefizit.*

Die Gesetzesmaterialien zum SV-OG enthalten zu den finanziellen Auswirkungen keine nachvollziehbaren Angaben, und auch diverse parlamentarische Anfragen* sowie zwei im Ergebnis gegensätzliche betriebswirtschaftliche Gutachten* konnten keine Klarheit in dieser Frage schaffen.

Faktum ist, dass die finanzielle Situation der sozialen KV im Zeitpunkt der Beschlussfassung über das SV-OG keineswegs alarmierend war. Nach erheblichen Verlusten zu Beginn der 2000er-Jahre, von denen wegen der besonderen Risikostruktur („Großstadtfaktor“) vor allem die WGKK betroffen war, konnten die Krankenversicherungsträger im letzten Jahrzehnt durch konsequente und erfolgreiche Zielsteuerung eine solide finanzielle Basis schaffen. In den letzten beiden Jahren vor dem Inkrafttreten des SV-OG war die Gebarung der Krankenversicherungsträger insgesamt ausgeglichen oder sogar leicht positiv, und auch im Jahr 2019 waren die Ausgaben nur geringfügig höher als die Einnahmen. Darüber hinaus verfügten die Gebietskrankenkassen (mit Ausnahme der WGKK) über beachtliche Rücklagen.*

Über die Notwendigkeit einer langfristigen und nachhaltigen Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit der sozialen KV besteht weitgehende Übereinstimmung. Für eine überstürzte „Reform“ bestand – und besteht – aber kein akuter Handlungsbedarf.

Die ursprünglichen Prognosen und Planungen zur finanziellen Entwicklung der ÖGK sind durch die Corona-Pandemie über den Haufen geworfen worden. Die Beitragseinnahmen sind aufgrund der dramatischen Arbeitsmarktlage mit Rekordarbeitslosigkeit und Kurzarbeit im Jahr 2020 nicht im prognostizierten Ausmaß gestiegen, dazu mussten Beiträge im Ausmaß von 1,78 Mrd € gestundet werden, von denen ein erheblicher Teil nicht mehr einbringbar sein wird.

Unsicher und im Ausmaß stark schwankend waren die Angaben zur finanziellen Situation der sozialen KV insgesamt. Hatte die neu errichtete ÖGK Mitte August 2020 noch mit einem hohen Bilanzverlust gerechnet, wies der Jahresabschluss 2020* bei Gesamtausgaben von 15.388 Mio € ein positives Betriebsergebnis von 12,4 Mio € aus. Ausschlaggebend für dieses (vorläufige) Ergebnis waren aber nicht Effizienzsteigerungen oder Einsparungen infolge der Organisationsreform, sondern gesunkene Ausgaben, vor allem im Bereich der ärztlichen Hilfe als Folge des ersten Corona-Lockdowns.

Nach der Prognoserechnung vom August 2021 geht die ÖGK von einem Bilanzverlust von 58,8 Mio € für das Jahr 2021 aus, für 2022 rechnet sie mit einem Bilanzverlust von 86,7 Mio €. Ein Grund für die relativ gute finanzielle Entwicklung wird in der raschen Erholung der Wirtschaft und im Anstieg der Zahl der pflichtversicherten Erwerbstätigen nach der Lockerung der Corona-Maßnahmen gesehen.

4.5.
Leistungen

Ziel der Reform war es, durch „Einsparungen im System“ Leistungsverbesserungen für die Versicherten zu ermöglichen.

Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände konnte dieses Ziel nicht im angekündigten Umfang erreicht werden. Verbesserungen in Teilbereichen gibt es vor allem durch die (weitere) Harmonisierung von Leistungen, zB bei Krankentransporten oder in der Orthopädietechnik. Für 2021 sind weitere Verbesserungen angekündigt, wie der Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung, vor allem für Kinder, sowie der Ergotherapie. Mit „visit-e“ wurde ein neues Programm für den „digitalen Ordinationsbesuch“ entwickelt. Das „elektronische Rezept“ hat die Versorgung der Patient/innen mit den notwendigen Medikamenten wesentlich erleichtert und zugleich für eine Verringerung der Infektionsgefahr gesorgt. Es sollte auch nach der Corona-Krise als Serviceleistung für die Versicherten beibehalten werden, ebenso der elektronische Impfpass.

5.
(Zwischen-)Bilanz und Ausblick

Die Nachbetrachtung der „Sozialversicherungsreform“ ergibt ein differenziertes, aber unvollständiges Bild. Manche Ankündigungen entziehen sich mangels entsprechender sachlicher Substanz überhaupt einer faktenbasierten Bewertung, andere können noch nicht abschließend beurteilt werden, weil der Prozess einer doch tiefgehenden Organisationsänderung längere Zeit dauert und wirklich aussagekräftige Daten bisher nicht zur Verfügung stehen.* Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie das Gesundheitssystem bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastet hat. Es liegt auf der Hand, dass auch die SV von dieser dramatischen Entwicklung betroffen war – und ist.

Trotz der außergewöhnlichen Situation können aber einige Feststellungen in einer ersten Zwischenbilanz getroffen werden:

Das vorgegebene Hauptziel der Reform, nämlich eine Effizienzsteigerung und Verbesserung der Leistungen für die Versicherten, ist bisher nur zum Teil erreicht worden.

Wie sich die neuen Organisationsstrukturen und die geänderten Mehrheitsverhältnisse in den Organen der Selbstverwaltung ausgewirkt haben, lässt sich derzeit noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Erste Erfahrungen deuten drauf hin, dass das neue System mit Parität und halbjährlich wechselndem Vorsitz konfliktträchtiger ist,* auch wenn die meisten Entscheidungen einstimmig getroffen worden sind.*

Schwieriger als erwartet dürfte der Umbau der dezentralen, föderalistischen Organisation der Gebietskrankenkassen mit gut funktionierenden regionalen und lokalen Netzwerken zur zentralistischen Organisationsstruktur der ÖGK mit teilweise großer Distanz zum lokalen Geschehen sein. Auch in dieser Frage wird man noch die weitere Entwicklung abwarten müssen, um zu einer validen Bewertung des Reformprozesses kommen zu können.

6.
Neue Herausforderungen

Vorrangig sind derzeit allerdings andere Themen. Die Corona-Pandemie hat vieles überdeckt, sie hat aber auch Fehler und Mängel sichtbar gemacht, die dringend behoben werden müssen: unterschiedliche Daten, unklare Kompetenzen, Fehler im Krisenmanagement, in der Kommunikation und in der Logistik.

Darüber hinaus gibt es im österreichischen Gesundheitssystem – trotz seiner anerkannt hohen Qualität – strukturelle Probleme, die nur durch gemeinsame Bemühungen aller für die Gesundheitspolitik Verantwortlichen gelöst werden können: Schwerpunkt Prävention; Ausbau der Primärversorgung; bessere Koordination und Integration zwischen Spitälern und niedergelassenen Ärzten; bessere hausärztliche Versorgung; Verkürzung der Wartezeiten auf Untersuchungs- und OP-Termine; weitere Digitalisierung,* um den Zugang zu Behandlungen, Impfungen, Rezepten und Medikamenten zu erleichtern.

Das sind nur einige Punkte, die auf der Agenda einer umfassenden Gesundheitsreform stehen, wie sie schon vor Jahren mit der Zusammenarbeit von Bund, Ländern und SV im Rahmen einer gemeinsamen Zielsteuerung im Gesundheitswesen begonnen wurde, und jetzt konsequent fortgesetzt werden sollte.

Die größte Herausforderung für die Politik wird es sein, neben der gigantischen Aufgabe der Krisenbewältigung, des Wiederaufbaus der Wirtschaft, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und neben anderen großen, dringend notwendigen Reformen, wie der Pflegereform, dafür zu sorgen, dass die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems und darüber hinaus des gesamten Sozialsystems langfristig und nachhaltig gesichert bleibt.

Aufgabe der Politik ist es, auch in Zukunft ein starkes öffentliches Gesundheitssystem zu gewährleisten, das für alle Menschen, unabhängig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit, frei zugänglich ist.