Covid-19 als Berufskrankheit

Autorin: SOPHIA MARCIAN
aus: DRdA-infas 02/2021

Die Corona-Pandemie stellt nicht nur Politik und Wirtschaft vor neue Herausforderungen. Besonders die neue Arbeitsrealität in Corona-Zeiten – Maskenpflicht, Abstand halten, Kontakte vermeiden, Homeoffice kombiniert mit Homeschooling – stellt für viele betroffene AN eine große Herausforderung dar. Nicht alle Berufsgruppen können ihre Arbeit im Homeoffice verrichten. AN in Dienstleistungsunternehmen, Gastronomie, Tourismus, Handel uvm haben keine Möglichkeit, ihre Arbeitsleistung unter Vermeidung persönlicher Kontakte (Homeoffice) zu erbringen. Können diese Berufsgruppen, die zur Verrichtung ihrer Arbeit persönliche Kontakte haben müssen, im Fall einer Ansteckung mit Covid-19 diese Erkrankung als Berufskrankheit von der UV anerkennen lassen?

1.
Schutzbereich der Berufskrankheit-Nummer 38
38InfektionskrankheitenKrankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, öffentliche Apotheken, ferner Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge, in Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen und im Gesundheitsdienst sowie in Laboratorien für wissenschaftliche und medizinische Untersuchungen und Versuche sowie in Justizanstalten und Hafträumen der Verwaltungsbehörden bzw in Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht

In der Berufskrankheitenliste* des ASVG finden sich unter der Nr 38 „Infektionskrankheiten“, wozu selbstverständlich auch Infektionen mit dem SARS-Cov-2-Virus zählen. Der Schutzbereich der Infektionskrankheiten ist allerdings auf bestimmte Unternehmen beschränkt. Aufgezählt werden dort Gesundheitseinrichtungen wie Kranken- und Pflegeanstalten, öffentliche Apotheken, aber auch Bildungseinrichtungen. Zweifelsohne ist der Gesetzgeber bei einigen der aufgezählten Einrichtungen davon ausgegangen, dass eine besondere Gefährdung besteht, da vor allem AN in Gesundheitseinrichtungen in hohem Ausmaß und über einen längeren Zeitraum mit Kranken in Kontakt kommen. Eine andere Gefährdungslage besteht hingegen in Bildungseinrichtungen. Hier werden zwar auch – wie in Gesundheitseinrichtungen – Personengruppen betreut, jedoch handelt es sich hierbei nicht um Kranke.

Es findet sich aber auch eine sogenannte Generalklausel bei den Unternehmen der Nr 38 der Berufskrankheitenliste. Diese besagt, dass AN aller anderen Unternehmen eine „vergleichba-re Gefährdung“ nachweisen müssen, um eine berufsbedingt auftretende Infektionskrankheit als Berufskrankheit anerkennen zu lassen.

Die Auslegung dieser Generalklausel führt daher zu dem recht deutlichen Ergebnis, dass beispielweise Büroangestellte, die in nicht-genannten Unternehmen wie Banken, Versicherungen etc tätig sind – selbst bei nachweislich berufsbedingter Ansteckung –, nach der aktuellen Rechtslage wohl nicht die Möglichkeit haben, diese Covid-19-Erkrankung als Berufs-krankheit anerkennen zu lassen. Für Beschäftigte in diesen Unternehmen ist es sehr schwierig, eine „vergleichbare Gefährdung“, wie sie beispielsweise in einer Gesundheitseinrichtung besteht, zu argumentieren.

Es gibt auch AN in Unternehmen, bei denen die Beurteilung einer „vergleichbaren Gefährdung“ nicht so eindeutig ausfällt. Nehmen wir als Beispiel die SupermarktkassiererInnen. Auch sie kommen im Laufe ihres Arbeitstages mit sehr vielen Personen, kranken wie gesunden, in Kontakt, vergleichbar mit einer pharmazeutisch kaufmännischen Angestellten in ei-ner öffentlichen Apotheke, die aber in der Berufskrankheitenliste Nr 38 explizit erwähnt ist.

1.1.
Vergleichbare Gefährdung

Die Generalklausel in der Nr 38 der Berufskrankheitenliste wurde mit der 55. ASVG-Novelle* am 1.8.1998 eingeführt.

In den Erläuternden Bemerkungen* findet sich dazu Folgendes: „[…] anläßlich der gegenständlichen Diskussion wurde aber erkannt, daß der derzeitige einschlägige Unternehmens-begriff zu eng ist, weil diese Krankheiten auch in Unternehmen auftreten, die nicht in der Liste angeführt sind, in denen aber eine vergleichbare Gefährdung besteht. Dies gilt beispielsweise für den gesamten Bereich der Müllentsorgung. Ferner hat sich ein Mitarbeiter eines Labors, in dem Blutderivate erzeugt wurden, eine Infektionskrankheit zugezogen. […] Aus der Sicht des Bundesministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales und der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt ist es aber nicht zweckmäßig, die in der Liste aufgezählten Unternehmen um weitere namentlich angeführte Unternehmen zu erweitern, da in späterer Folge das Risiko bestünde, daß der Unternehmensbegriff erneut zu eng ist. Vielmehr sollten alle anderen potentiell in Frage kommenden Unternehmen durch eine Generalklausel erfaßt werden.“

Der Gesetzgeber wählte bewusst eine allgemeine Formulierung und sah von einer weiteren Aufzählung von bestimmten Unternehmen ab, um zukünftige – nicht vorhersehbare – Fälle von Infektionskrankheiten nicht von vornherein auszuschließen. Der Wille des Gesetzgebers, nämlich das Auftreten von Infektionskrankheiten bei Vorliegen einer potenziellen Gefährdung im Unternehmen unter die Nr 38 der Berufskrankheitenliste zu subsumieren, geht damit sehr klar aus den Erläuterungen hervor.

Derzeit sind wir mit einer Infektionskrankheit konfrontiert, die sich – nach aktuellem Wissensstand – überwiegend durch persönliche Kontakte* verbreitet. Es liegt daher auf der Hand, dass Versicherte, die im Rahmen ihrer Tätigkeit persönliche Kontakte (mit KundInnen, mit KollegInnen) haben müssen und ihre beruflichen Aufgaben nicht unter gänzlicher Vermeidung von persönlichem Kontakt (zB im Homeoffice) ausüben können, einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind und darin ein gewichtiges Argument für eine „vergleichbare Gefährdung“ (in Bezug auf eine Covid-19-Infektion), wie etwa in den aufgezählten Unternehmen, vorliegt.

2.
Nachweisliche Ansteckung bei der beruflichen Tätigkeit

Im Berufskrankheiten-Anerkennungsverfahren sind die Versicherten für die Kausalität beweispflichtig, das bedeutet, wenn der Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Auftreten der Erkrankung nicht ausreichend belegt werden kann, gibt es keine Anerkennung als Berufskrankheit (objektive Beweislast).

In jenen Fällen, in denen dank funktionierendem Contact-Tracing klar ist, von welcher Person die Ansteckung ausgegangen ist, stellt der Nachweis einer Ansteckung bei der beruflichen Tätigkeit kein Problem dar, sofern die Tätigkeit in einem der in der Berufskrankheiten-liste Nr 38 genannten Unternehmen ausgeübt wird oder eben eine vergleichbare Gefährdung im Unternehmen nachgewiesen werden kann. Doch was ist mit jenen Fällen – Beispiel SupermarktkassiererIn –, in denen die konkrete Ansteckungsquelle nicht nachweisbar ist, zumal im Handel (aber auch in anderen Unternehmen) nicht registriert wird, wer sich dort wie lange aufhält?

2.1.
Prima-facie-Beweis (Anscheinsbeweis)

Die Rsp lässt für den Nachweis der Kausalität zwischen beruflicher Tätigkeit und Auftreten einer Berufskrankheit (ebenso wie bei Arbeitsunfällen) den sogenannten Anscheinsbeweis genügen.* Der Anscheinsbeweis beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist.* Zum Wesen des Anscheinsbeweises gehört es, dass der Beweisbelastete nur bestimmte Tatsachen beweisen muss, aus denen sich nach der Lebenserfahrung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auf andere Tatsachen schließen lässt.* Er darf aber nicht dazu dienen, Lücken in der Beweisführung durch bloße Vermutungen zu füllen.*

Das bedeutet für das Beispiel der SupermarktkassiererIn, dass angesichts seiner/ihrer zahlreichen Kontakte mit KundInnen im Laufe eines Arbeitstages die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit dieser Erkrankung bei der Ausübung der Berufstätigkeit, trotz Einhaltung der Schutzmaßnahmen (Mund-Nasen-Schutz, Plexiglas etc), gegeben sein muss.* Zusätzlich wird es wohl für den/die Versicherte erforderlich sein, darzulegen, dass eine Ansteckung im privaten Umfeld unwahrscheinlich ist, weil keine der Kontaktpersonen im privaten Umfeld zu dieser Zeit nachweislich infiziert war.

Können die oben genannten Tatsachen bewiesen werden, ist der Anscheinsbeweis erbracht, dass eine Ansteckung bei der beruflichen Tätigkeit aufgrund der Vielzahl der persönlichen Kontakte erfolgt ist. Dies ist einzelfallbezogen zu prüfen. Dennoch besteht auf Grund des Anscheinsbeweises die Möglichkeit, eine Covid-19-Erkrankung als Berufskrankheit anerkennen zu lassen, ohne dass die Person, von der die Ansteckung ausgeht, konkret benannt werden muss, was für viele Versicherte* de facto nicht möglich wäre.

Der Anscheinsbeweis kann durch die UV dadurch entkräftet werden, dass eine andere ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit des Geschehensablaufs als des typischen aufgezeigt wird, das bloße Aufzählen anderer abstrakter Möglichkeiten reicht nicht aus.*

3.
Fazit

Nach der aktuellen Rechtslage, angesichts der klaren Absicht des historischen Gesetzgebers und unter Berücksichtigung der Judikatur spricht mE viel dafür, unter die Generalklausel all jene Versicherten in Unternehmen zu subsumieren, die berufsbedingt während der Covid-19-Pandemie in diesen Unternehmen persönliche Kontakte zur Ausübung ihrer Tätigkeit haben mussten. Insb sind jene Gruppen schützenswert, die einer hohen Anzahl an persönlichen Kontakten ausgesetzt sind und jene, die engen Kontakt über einen längeren Zeitraum mit anderen Personen haben und dadurch ein erhebliches Ansteckungsrisiko haben.

Eine zu enge Auslegung der Generalklausel darf nicht dazu führen, dass die Versicherten mit dem Risiko der Ansteckung und Erkrankung, dem sie aufgrund der täglichen Erfüllung ihrer Aufgaben ausgesetzt sind, alleine bleiben, zumal der erforderliche Nachweis der Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit für viele Versicherte schon eine große Hürde darstellen wird.

Im Sinne der Versicherten ist im Fall einer weltweiten Pandemie nur dann ein ausreichender Unfallversicherungsschutz gegeben, wenn die Einschränkung auf bestimmte Unternehmen entfällt. Der Gesetzgeber ist hier gefragt.